Prolog
Juni New Orleans, Louisiana
Hast du irgendwelche besonderen Wünsche?«, fragte sie und fuhr sich provokant mit der Zungenspitze über die Lippen.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich könnte –«
»Zieh dich einfach aus.«
Irgendwas stimmt nicht mit diesem Kerl. Irgendwas ist oberfaul, dachte Cherie Bellechamps, und eine unerklärliche Angst stieg in ihr auf. Sie überlegte, die Sache einfach abzublasen, dem Freier zu sagen, er solle verschwinden, aber sie brauchte das Geld. Vielleicht ging auch nur ihre Fantasie mit ihr durch. Womöglich war er gar nicht so übel.
Sie knöpfte langsam ihr Kleid auf und spürte seinen Blick auf ihrem Körper, nicht anders als hunderte anderer Blicke, die sie schon ausgehalten hatte. Nichts Besonderes.
Die Musik, die aus dem Radio neben ihrem Bett erklang, übertönte den Lärm der Stadt. Frank Sinatras samtige Stimme – die Cherie für gewöhnlich beruhigte. Aber nicht in dieser Nacht.
Eine laue Junibrise, schwer vom modrigen Atem des Mississippi, wehte durch das offene Fenster herein. Sie bauschte die vergilbten Spitzengardinen und kühlte die Schweißtropfen, die sich auf Cheries Stirn gesammelt hatten. Doch sie nahm ihr nicht die Nervosität.
Der Freier setzte sich auf einen dreibeinigen Hocker und ließ einen Rosenkranz durch seine Finger gleiten, dessen blutrote Perlen das schwache Licht reflektierten. Was war er für einer? Irgendein religiöser Spinner? Ein Priester, der mit dem Zölibat nicht zurechtkam? Oder nur einer von diesen merkwürdigen Fetischisten? Weiß der Himmel, dachte Cherie. In New Orleans liefen die Perversen zu Tausenden herum, und jeder von ihnen erging sich in seiner ganz eigenen sexuellen Fantasie.
»Gefall ich dir?«, erkundigte sie sich und bemühte einen leichten Cajun-Akzent, während sie mit einem langen Fingernagel über ihr Dekolleté strich und versuchte, das beharrliche Gefühl des Unbehagens abzuschütteln.
»Mach weiter.« Mit einer wedelnden Fingerbewegung wies er auf ihren BH und Slip.
»Willst du das nicht machen?«, fragte sie mit leiser, verführerischer Stimme.
»Ich sehe zu.«
Sie wusste nicht, wie viel er überhaupt sehen konnte. Dieses Zimmer im zweiten Stock am Rande des Französischen Viertels von New Orleans wurde von einer einzigen Lampe erhellt, deren Schirm mit einer Mantille aus schwarzer Spitze verhängt war. Schatten spielten an den Wänden und verbargen die Risse in dem alten Beton. Darüber hinaus trug der Freier eine Ray-Ban-Sonnenbrille mit dunklen Gläsern. Cherie konnte seine Augen nicht erkennen, doch das störte sie nicht. Er sah gut aus. Athletisch gebaut. Sein Kinn war eckig, die Nase gerade, die Lippen waren schmal, umgeben von Bartstoppeln. Er hatte ein dunkles Hemd an und eine schwarze Jeans, sein Haar war dicht und kaffeebraun. Wenn dieser Typ nicht einen Augenfehler hatte, war er attraktiv wie ein Hollywoodstar.
Und Furcht erregend wie ein Gangsterboss.
Er hatte sie bereits aufgefordert, sich das Gesicht zu waschen und eine rote Perücke über ihr kurzes platinblondes Haar zu stülpen. Sie hatte sich nicht gesträubt. Es war ihr gleich, wie er auf Touren kam.
Sie öffnete den Verschluss ihres BHs und ließ den Fetzen aus roter Spitze zu Boden fallen.
Er rührte sich nicht von der Stelle. Rieb immer nur die verdammten Perlen seines Rosenkranzes.
»Hast du auch einen Namen?«, fragte sie.
»Ja.«
»Willst du ihn mir nicht sagen?«
»Nenn mich Vater.«
»Vater wie … mein Dad … oder«, sie musterte die dunklen Perlen, die durch seine Finger glitten, »wie Heiliger Vater?«
»Einfach Vater.«
»Wie wär’s mit Father John?« Es sollte ein Scherz sein, doch er lächelte nicht einmal. Wollte sich wohl nicht entspannen. Es war Zeit, die Sache zu Ende zu bringen, das Geld einzustreichen und ihn rauszuwerfen.
Sie streifte ihren Slip ab, setzte sich aufs Bett und gestattete ihm den Blick auf alles, was sie zu bieten hatte.
Manche Männer machte es an, Cherie beim Ausziehen zuzusehen. Einige schauten sogar ausschließlich zu, berührten sie nicht und streichelten sich selbst. Aber dieser Freier war so kalt und gefühllos – auf geradezu unheimliche Weise. Und was sollte diese Brille? »Wir könnten ein bisschen Spaß haben«, schlug sie vor, um die Sache zu beschleunigen. Er hatte schon einen gehörigen Teil der vereinbarten Stunde vergeudet, und bisher war noch nichts passiert. »Nur du und ich …«
Er antwortete nicht, streckte lediglich die Hand aus und ließ einen Hundertdollarschein auf ihren Nachttisch fallen. Sinatras Stimme erstarb abrupt – der Freier fummelte nun am Radio herum. »When I Was Seventeen« ertönte, dann eine Reihe von Pfeif- und Zwitschertönen und monotones Knistern und schließlich der offenbar gewünschte Sender – irgendeine Talkshow, die Cherie schon mal verfolgt hatte, eine beliebte Sendung mit einer Psychologin, die Lebensberatung anbot. Aber Cherie hörte nicht zu. Sie starrte auf den Hunderter auf dem Nachttisch. Er war beschädigt. Benjamin Franklins Augen waren mit schwarzem Marker ausgelöscht, als wollte auch er, wie der Mann mit der Sonnenbrille, seine Identität verbergen.
Oder nichts sehen.
Merkwürdig. Beklemmend.
Father John hatte sie einen Block von der Bourbon Street entfernt aufgelesen. Sie hatte ihn gemustert, nichts auszusetzen gefunden und ihren Preis genannt. Er war einverstanden gewesen, und so hatte sie ihn hierher gebracht, in das schäbige Apartment, das sie sich zu diesem Zweck mit ein paar Mädchen teilte. Ihr normales Leben fand in einem anderen Viertel statt, jenseits des Sees … Eine Sekunde lang dachte sie an ihre fünfjährige Tochter und den langwierigen Kampf mit ihrem Ex um das Sorgerecht. Niemand in Covington wusste, dass sie auf den Strich ging, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, und niemand durfte es je erfahren, sonst würde ihr das Sorgerecht entzogen und jeglicher Kontakt mit ihrem einzigen Kind untersagt.
Jetzt kamen ihr doch Bedenken. Der Freier war reizbar, seine vermeintliche Ruhe verbarg eine Rastlosigkeit, die sich in der kleinen pochenden Ader an seiner Schläfe und den Bewegungen von Daumen und Zeigefinger an dem Rosenkranz zeigte. Sie entsann sich der Pistole, die sie in der obersten Schublade des Nachttisches aufbewahrte. Falls es brenzlig wurde, konnte sie sich einfach umdrehen, den Hunderter sicherstellen, die Schublade öffnen und die .38er herausnehmen. Ihn verscheuchen. Und den Hunderter behalten.
»Komm doch zu mir«, lockte sie, legte sich rücklings auf die Chenille-Bettdecke, lächelte und rechnete nicht damit, dass er sich rührte. Himmel, es war wirklich heiß.
»Zieh mich aus.« Er stand auf. Näherte sich dem Bett.
Sein Befehl erschien ihr unpassend, aber zumindest war er nicht ungewöhnlich. Also wollte er endlich zur Sache kommen. Gut. Die Sekunden verstrichen, doch sie ließ sich Zeit, erhob sich schließlich, um sein Hemd aufzuknöpfen. Sie schob es ihm von den kräftigen Schultern und der Brust, die kein Gramm Fett aufwies, sondern aussah wie eine Mauer aus steinharten Muskeln mit dunklem, krausem Haar. Sie löste seinen Gürtel, und er betastete das Kreuz, das knapp über ihren Brüsten baumelte und das sie nie ablegte.
»Was ist das?«
»Das … das ist ein Geschenk von meiner Tochter … letztes Jahr zu Weihnachten.« O Gott, er würde es doch wohl nicht stehlen?
»Das reicht nicht, du brauchst mehr.« Er zog ihr den Rosenkranz über den Kopf, über die rote Perücke.
Vielleicht war er wirklich ein Priester. Ein völlig ausgeflippter.
Die scharfkantigen Perlen waren warm von seinen Fingern. Sie rutschten in die Schlucht zwischen ihren Brüsten. Das Ganze war gruselig, zu gruselig für ihren Geschmack. Sie sollte ihn sofort wegschicken.
»So, das ist schon besser.«
Father John zog einen Mundwinkel hoch, als wäre er jetzt endlich mit ihrem Anblick zufrieden. Und bereit loszulegen. Wurde auch Zeit. »Was soll der Rosenkranz?«
»Fass mich an.«
Sein Körper war perfekt. Durchtrainiert. Braun gebrannt. Geradezu stählern.
Abgesehen von seinem Schwanz. Der hing schlaff herab, als wäre der Typ nicht die Spur an ihr interessiert.
Sie fuhr mit dem Finger über seine Brust, und er riss sie an sich. Küsste sie heftig und gefühllos und warf sie auf die durchgelegene Matratze ihres Metallbetts. Sie hatte eine feste Regel: keine Küsse auf den Mund. Doch dieses Mal ließ sie es durchgehen, nur, um schneller zum Ende zu kommen.
»So ist’s brav«, gurrte sie und angelte nach seiner Sonnenbrille. Kräftige Finger umspannten ihr Handgelenk.
»Nicht.«
»Angst, dass ich dich erkennen könnte?« Vielleicht war er berühmt – Mann, er sah wirklich umwerfend aus. Oder er war verheiratet. Ja, wahrscheinlich …
»Lass es einfach.« Sein Griff war wie eine Stahlklammer.
»Schon gut, wie du willst.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und strich mit den Fingern über seine definierten Muskeln. Er bewegte sich unter ihren Berührungen, und sie arbeitete hart, berührte all die erogenen Zonen, deren Stimulation normalerweise garantiert zur Erektion führte. Vergebens. Ganz gleich, wie sehr sie ihn küsste und leckte – er war kein bisschen erregt.
Mach schon, mach schon, dachte sie. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. Verschwommen nahm sie die Stimme aus dem Radio wahr. Die Psychologin, Dr. Sam, schickte sich bereits an, ihre Sendung zu beenden, mit ihrem üblichen Spruch über Liebe und Lust in dieser Stadt am Delta, und auch Father John hob den Kopf und lauschte der Radiopsychologin.
Vielleicht lenkte sie ihn ab, und das war sein Problem. Cherie streckte die Hand nach dem Radio aus.
»Rühr es nicht an«, knurrte er, und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an.
»Aber –«
Seine Faust traf sie völlig unvermittelt, glühender Schmerz explodierte in ihrer linken Gesichtshälfte. Sie schrie. Nahm den metallischen Geschmack ihres eigenen Blutes wahr. Das verhieß nichts Gutes. Ganz und gar nicht. »Moment mal, du Mistkerl …«
Wieder hob er die Faust. Sie sah es mit ihrem rasant zuschwellenden Auge.
»Du rührst weder das Radio noch meine Brille an«, raunzte er.
Sie versuchte, sich ihm zu entwinden. »Raus hier! Raus, zum Teufel!«
Er versuchte, sie zu küssen.
Sie biss ihn.
Er zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Raus, du Scheißkerl! Mich schlägt keiner, kapiert? Das war’s.«
»Noch nicht ganz, aber bald.« Er drückte sie zurück aufs Laken. Küsste sie wieder. Beinahe gewaltsam. Als ob ihre Schmerzen ihn antörnten. Es pochte in ihrer Wange, und Cherie versuchte, sich unter ihm hervorzuschlängeln, doch er hielt sie mit seinem athletischen Körper fest.
Sie saß in der Falle. Geriet in Panik. Schlug ihn, kratzte ihn, wollte ihn wegstoßen.
»Recht so, du Sünderin, du Fotze!«, fauchte er. »Kämpf gegen mich.«
Seine Hände waren rau. Er biss sie in eine Brust, kniff in die andere.
Sie schrie, und er brachte sie zum Schweigen, indem er seinen Mund auf ihren presste. Sie wollte ihn beißen, hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein, doch er war stark. Aufgebracht. Erregt. O Gott, wie weit würde er es treiben?
Adrenalin schoss durch ihre Adern. Und wenn er nicht aufhörte? Wenn er sie die ganze Nacht lang quälte?
Als er erneut in ihre Brust biss, durchzuckte ein heftiger Schmerz ihren Körper.
Sich windend fiel ihr Blick auf das Radio. Das digitale Display beleuchtete den Hundertdollarschein. Dr. Sams Stimme klang kühl und sachlich.
Cherie verkniff sich einen Hilferuf. Stattdessen tastete sie nach der Schublade und ihrer Waffe, stieß dabei die Lampe um, trat wild um sich und spürte seine plötzlich stahlharte Erektion.
Also würde er sie vergewaltigen.
Das war’s, was er wollte. Hätte er nur ein Wort gesagt, hätte sie mitgespielt, doch jetzt war sie starr vor Angst.
Bring’s einfach hinter dich und tu mir nicht weh!
Er riss ihren Kopf vom Kissen hoch, und als er anfing, den Rosenkranz um ihren Hals festzuziehen, schrie sie aus Leibeskräften. Die scharfkantigen Perlen schnitten in ihre Haut.
O Gott, er will mich umbringen! Ihre Angst wurde übermächtig. Sie sah in die Augen hinter der Sonnenbrille und wusste es.
Er zurrte den Rosenkranz noch fester und stieß tief in sie hinein. Cheries Augen traten aus den Höhlen, sie bekam keine Luft. Wild schlug sie mit den Armen und kratzte, aber vergeblich. Schwärze … Alles um sie herum wurde schwarz … Ihre Lungen brannten … Ihr war, als würde ihr Herz zerspringen … Bitte, lieber Gott, hilf mir!
Er zog die perlenbewehrte Schlinge zu. Sie röchelte. Rang nach Atem. Etwas sprudelte in ihrem Hals. Blut, o Gott, sie schmeckte ihr eigenes Blut … schon wieder.
Dunkelheit umfing sie, und sie dachte flüchtig an ihre Tochter … Mein liebes, süßes Schätzchen …
Er schwitzte, bohrte sich weiter in sie hinein, keuchte. Als sie schließlich aufgab, spürte sie, wie er erstarrte, und vernahm seinen kehligen, urtümlichen Schrei. Verschwommen hörte sie über sein schweres Atmen und das Dröhnen in ihrem Kopf hinweg eine andere Stimme. Weit weg. Unendlich weit weg …
»Hier ist Dr. Sam mit einem abschließenden Wort … Pass auf dich auf, New Orleans! Gute Nacht, euch allen, und Gott segne euch. Ganz gleich, welche Sorgen euch heute quälen – morgen ist auch noch ein Tag. Träumt was Schönes …«