18. Kapitel

Was habe ich getan?

Als die ersten Sonnenstrahlen durch das kleine Bullauge über dem Bett fielen, bedachte sich Ty Wheeler im Stillen selbst mit den ausgesuchtesten Schimpfwörtern.

Samantha lag in den zerwühlten Laken, mit zerzaustem dunkelroten Haar und geschlossenen Augen. Sie atmete gleichmäßig. Irgendwann in der vergangenen Nacht hatte er sie in die Koje getragen. Sie hatten sich bis in die Morgenstunden hinein geliebt, und noch immer blitzten in seinem Kopf Bilder von ihrem Körper auf, geschmeidig und schlank, wie er unter ihm lag oder rittlings auf ihm saß. Sie war verspielt und sexy und teuflisch kokett, eine unvergleichliche Liebhaberin. Allein bei dem Gedanken an sie, an ihren Geschmack, an ihre unverfälschte, geradezu animalische Leidenschaft brach ihm am ganzen Körper der Schweiß aus.

Hinterher waren sie beide völlig erschöpft eingeschlafen.

Ty hatte sich geschworen, sich nicht mit ihr einzulassen, objektiv zu bleiben, und trotzdem hatte er in der vergangenen Nacht alle Vorsicht in den Wind geschlagen und war mit ihr im Bett gelandet. Jetzt, während er auf einer Kochplatte Wasser erhitzte, bezeichnete er sich selbst als ausgemachten Dummkopf.

Sie regte sich, bewegte im Schlaf die Lippen und seufzte, und sein Verlangen nach ihr flammte von Neuem auf.

Ein grünes Auge öffnete sich zu einem Schlitz. »Was starrst du so an?«, fragte sie, reckte sich träge und streckte eine Faust über ihren Kopf hinweg, bis sie die Wand berührte.

»Dich.«

»Ich sehe bestimmt grässlich aus.« Streng darauf bedacht, dass die Bettdecke ihre Brüste verbarg, stützte sie sich auf einen Ellbogen auf. »Wie spät ist es?«

»Sieben.«

Stöhnend sagte sie: »Und wir sind wach … Warum?«

»Weil wir uns mitten auf dem See befinden und langsam zurückfahren sollten. Ich koche Kaffee.«

»Starken Kaffee, hoffe ich.«

»So stark, dass dir Brusthaare wachsen.«

»Das fehlt mir gerade noch«, brummte sie.

Er zwinkerte ihr zu. »Glaub mir, deine Brust ist schon richtig.«

»Tja, wegen … was letzte Nacht betrifft, ich finde, wir sollten darüber reden.«

»Das finden Frauen immer.«

»Wir haben unsere Gründe.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Falls es dir entfallen sein sollte: Wir haben beim Sex nicht unbedingt an Sicherheit gedacht. Außerdem weiß ich nicht gerade viel über dich. Wer sagt mir, dass du nicht irgendwo eine Frau und ein Dutzend Kinder versteckt hältst.«

»In meinem Leben gibt es keine Kinder, keine Frau, nicht einmal eine Verlobte. Seit einem Jahr hatte ich nichts mit einer Frau, und ich habe kein Aids. Ob du es glaubst oder nicht, für gewöhnlich bin ich bedeutend vorsichtiger.«

»Ich auch.«

»Wie sieht es bei dir aus?«, fragte er und wunderte sich darüber, dass es ihm wichtig war, ob sie in einer Partnerschaft lebte oder nicht.

»Ich habe dir ja von David erzählt. Wir waren etwa ein halbes Jahr zusammen, dann bin ich nach New Orleans gezogen, und die Beziehung ist auseinander gebröckelt.«

Sie seufzte und blickte aus diesen unglaublich grünen Augen zu ihm auf.

»Wir sind letzten Monat zusammen nach Mexiko geflogen. Er wollte, dass wir wieder zueinander finden, aber es hat nicht geklappt.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Sag mal, habe ich geträumt, oder hast du eben angekündigt, du würdest Kaffee kochen?«

»Du hast nicht geträumt. Allerdings habe ich nur Instantkaffee. Ich kann ihn so stark machen, wie du nur willst.«

»Nicht übel.«

»Und dann sollten wir wirklich zurückfahren.«

Die Kombüse war kaum mehr als eine Kochplatte im einzigen Raum der Schaluppe. Ty holte ein Glas Instantkaffee hervor und goss kochendes Wasser in zwei Tassen.

»Ty?«

»Ja?« Er hielt inne und schaute sie über die Schulter hinweg an. Sie war noch immer in die Bettdecke gewickelt und sah mit ihren nackten Schultern ungeheuer sexy aus.

»Du sollst nur wissen, dass ich normalerweise nicht …« Sie ließ den Blick durch die kleine Kajüte schweifen, dann schaute sie ihn wieder an. »Ich gehöre nicht zu der Sorte Frau, die mit allen möglichen Männern schläft.« Sie strich sich mit einer Hand das Haar aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht, was letzte Nacht in mich gefahren ist.«

»Du hast mich unwiderstehlich gefunden«, erläuterte er und schenkte ihr sein verheerendes freches Lächeln. Dann gab er Kaffee in die zwei Tassen.

»Ja, so wird es gewesen sein«, sagte sie sarkastisch, konnte das Körnchen Wahrheit in seinem Spruch jedoch nicht verleugnen. Sie hatte sich völlig untypisch verhalten – oder etwa doch nicht? Ein Teil von ihr neigte von jeher dazu, sich nah am Abgrund zu bewegen, Risiken einzugehen – wie ihr Bruder. Peter hatte sich nie an Regeln gehalten. Nie.

Und dafür hatte er bezahlen müssen.

Irgendwann war er einfach abgetaucht, war nur noch gelegentlich aufgekreuzt, und zwar meistens pleite. Er hatte dann stets wilde Geschichten aufgetischt, die Sam ihm nicht abgekauft hatte. Kein Mensch konnte einen anderen so gut an der Nase herumführen wie ihr Bruder.

Sie fand nun ihren Rock, der am Boden lag. Irreparabel zerknittert. Pech. Innerlich mit sich selbst schimpfend schlüpfte sie in ihre Kleider. Sie konnte ihr Tun nicht einmal mit dem übermäßigen Weingenuss entschuldigen. Ja, sie war müde gewesen und angespannt, erleichtert, Ty auf ihrer Veranda vorzufinden. Und doch entsprach es nicht ihrer Gewohnheit, einfach ihren gesunden Menschenverstand und ihre Moral über Bord zu werfen. Wenn eine ihrer Hörerinnen sie anriefe und gestände, dass sie wegen eines Spiels, eines albernen Kinderspiels, mit einem beinahe Fremden ins Bett gestiegen sei, würde Dr. Sam ihr gehörig die Leviten lesen.

Sie war gerade aufgestanden und zog den Reißverschluss ihres Rocks hoch, da drehte sich Ty zu ihr um, zwei Tassen mit dampfendem Kaffee in den Händen. »Bitte schön, Sonnenschein«, sagte er und reichte ihr eine Tasse. »Und jetzt begebe ich mich lieber an Deck; wir sollten aufbrechen. Oh – eins noch.« Als wollte er mit ihr anstoßen, hob er ihr seine Tasse entgegen. »Auf ›Wahrheit und Pflicht‹.« Seine Augen lachten, und sie spürte einen Stich im Herzen.

Er nahm einen Schluck Kaffee und ging in Richtung Treppe. »Das nächste Mal könnten wir vielleicht ›Stille Post‹ spielen.«

»Oder ›Flaschendrehen‹.«

»Oder ›Doktor‹.«

»Du kennst dich gut aus«, stellte sie fest und folgte ihm an Deck.

Wind war aufgekommen, und nur spärliche Sonnenstrahlen schafften es, die dicke Wolkendecke zu durchbrechen. Ty arbeitete rasch, lichtete den Anker, setzte die Segel und lenkte die Schaluppe dann über das graue Wasser. An diesem Morgen war die Fahrt rauer; als Sam versuchte zu trinken und das Gleichgewicht zu halten, schwappte Kaffee über. Bald schon erkannte sie das Ufer von Cambrai, und als sie ihr Haus mit dem sonnengebleichten Anleger, den stattlichen immergrünen Eichen und der leuchtenden Bougainvillea über der Veranda sah, musste sie unwillkürlich lächeln.

»Erzähl mir von deinem Buch«, bat sie. Er drosselte das Tempo und holte die Segel ein. »Wie hast du es Melanie beschrieben? Eine Mischung aus ›Pferdeflüsterer‹ und …«

»… ›Das Schweigen der Lämmer‹. Das war natürlich ein Scherz. In Wirklichkeit schreibe ich über ein paar Fälle, die ich als Polizist bearbeitet habe.«

»Du warst Polizist?«, fragte sie verblüfft.

»In einem meiner früheren Leben.«

»Dein Buch ist also praktisch eine Dokumentation über Verbrechen?«

Er zögerte. »Eher Fiktion auf der Grundlage von Tatsachen.«

Er steuerte das Boot in seichteres Wasser und furchte die Stirn, und Sam spürte, dass er etwas verschwieg, ein Geheimnis wahrte. »Und wie geht es voran?«

»Ganz gut. Ich bin auf ein paar Hindernisse gestoßen, doch die werde ich ausräumen können.«

Sehr verschwommen. »Wo warst du Polizist?«, erkundigte sie sich.

»In Texas.«

»Ranger?«

»Nein, Detective. Hol bitte mal die Leine da, ja?« Er wies auf ein zusammengerolltes Tau und brachte die Stoßdämpfer an, damit die Schaluppe nicht den hölzernen Anleger rammte. Dann machte er sie fest. »Ich begleite dich ins Haus.«

»Nicht nötig. Es ist schließlich heller Tag.«

»Mir wäre dann aber wohler«, beharrte er, schon auf dem Weg zur hinteren Veranda und nicht bereit, ihre Widerrede zu akzeptieren.

Die Fenstertüren standen offen, so, wie sie sie verlassen hatten, die Alarmanlage war nicht eingeschaltet. Samantha hatte am Vorabend nicht daran gedacht, war zu sehr mit Ty beschäftigt gewesen und hatte auch nicht damit gerechnet, dem Haus für längere Zeit den Rücken zu kehren.

Sie hatte sich geirrt.

Charon hatte sich unter einem Stuhl im Esszimmer versteckt, und etwas Sonderbares lag in der Luft … etwas, das ihr ein mulmiges Gefühl verursachte.

Samanthas Kopfhaut prickelte. »Vielleicht bin ich nur müde, aber ich … ich habe den Eindruck, dass jemand hier war.« Sie sah sich selbst flüchtig im Spiegel über der Anrichte, registrierte ihren desolaten Zustand und wurde sich bewusst, dass sie nur wenige Stunden Schlaf gehabt hatte. »Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein.« Sie begegnete Tys Blick im Spiegel. Seine Augen waren dunkel; sein stoppeliges Kinn wirkte plötzlich kantig und steinhart.

»Schauen wir lieber nach.«

Während sie das Erdgeschoss durchkämmte und nichts Außergewöhnliches entdeckte, sagte sie sich, dass sie überreagierte. Alles stand am richtigen Platz – und doch bemerkte sie einen fremden Geruch im Haus, die Atmosphäre schien gestört. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf. Die Bodendielen knarrten, der Ventilator im Schlafzimmer surrte.

Sie spürte, dass etwas nicht stimmte, doch im Schlafzimmer war niemand, auch nicht im Bad. Sie überprüften jedes Zimmer, jeden Schrank, doch das Haus war leer. Und still.

»Wahrscheinlich bilde ich mir wirklich alles nur ein«, sagte sie ohne rechte Überzeugung, als sie zurück ins Erdgeschoss gingen. Charon schlüpfte unter dem Esstisch hervor.

»Du kommst zurecht?«, fragte Ty.

»Ja. Natürlich.« Sie würde es nicht zulassen, dass sie sich in ihren eigenen vier Wänden unsicher fühlte.

»Schließ alle Türen ab und schalt die Alarmanlage ein.«

»Gut, mach ich«, versprach sie auf dem Weg nach draußen. Das Wetter hatte aufgeklart, die Wolkendecke lockerte sich, die Hitze nahm zu und flimmerte über dem Wasser.

»Ich ruf dich später an«, verkündete er.

»Ich komme schon klar.«

»Ja, aber ich vielleicht nicht.«

Sie lachte, und er zog sie in seine Arme. Nase an Nase sagte er: »Sei auf der Hut, Sam.« Dann küsste er sie. So heftig, dass sie neben der Wärme seiner Lippen auch das Kratzen seiner Bartstoppeln spürte. Ein Kaleidoskop von Erinnerungen an die vergangene Nacht tanzte durch ihren Kopf, und als er mit der Zunge die Konturen ihres Mundes nachzeichnete, seufzte sie. Er löste sich von ihr. »Ruf mich an, wann immer du willst.«

Dann war er fort, sprang geschmeidig von der Veranda und joggte durch den sonnenbeschienenen Garten hinüber zum Anleger, wo die Strahlender Engel an ihren Tauen zerrte. Er legte ab und setzte die Segel, und Sam sah dem Boot von der Veranda aus nach, bis es um die Landzunge herum verschwand.

Charon folgte ihr die Treppe hinauf, wartete, bis sie geduscht hatte, und lief ihr dann in den begehbaren Kleiderschrank nach, wo sie Shorts und T-Shirt anzog. Sie machte gerade ihre Gürtelschnalle zu und war im Begriff, in ein Paar alte Tennisschuhe zu schlüpfen, da fiel ihr Blick durch die Tür auf die antike Kommode, und sie bemerkte, dass die zweite Schublade nicht richtig geschlossen war, sondern einen kleinen Spaltbreit offen stand, kaum weit genug, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Sie sagte sich, es sei nur Einbildung und wahrscheinlich habe sie selbst die Schublade nicht richtig zugeschoben. Sie schlenderte hinüber, um sie zu schließen, überlegte es sich jedoch anders und öffnete die Schublade, die ihre Slips, BHs, Hemdchen und … zwei Bodys enthielt. Ihr roter Body lag jedoch nicht darin.

Sie wusste, dass sie ihn nicht mit nach Mexiko genommen und seitdem auch nicht mehr angezogen hatte. Nein, das letzte Mal hatte sie ihn am Valentinstag getragen, zum Spaß, nur, weil er rot war. Wo mochte er also sein? Sie durchwühlte sämtliche Schubladen und suchte auch im Schrank danach, doch der Body blieb verschwunden.

Sie nagte an ihrer Unterlippe, mahnte sich zur Ruhe und versuchte sich einzureden, dass sie ihn einfach verlegt hatte.

Doch tief im Inneren wusste sie, dass jemand ihn entwendet hatte.

Mit hämmerndem Herzen durchforstete sie das ganze Haus. Ihr Schmuck war nicht angetastet worden. Fernseher, Stereoanlage, Computer, Tafelsilber und Barschrank waren unberührt. Das einzige Stück, das fehlte, war ihr spitzenbesetzter knapper roter Body, und als sie überlegte, wer Interesse an einem derart intimen Wäschestück haben könnte, wollte ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Zweifellos war es John.