20. Kapitel

Sam schob ihre Ausgabe von »Das verlorene Paradies« auf die eine Seite ihres Schreibtisches. Die letzten zwei Stunden hatte sie im Arbeitszimmer verbracht und den Text zum großen Teil überflogen, doch dann war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie sich irrte. Ihre Annahme, dass sich John auf dieses Werk bezog, fand keine Bestätigung. Zumindest konnte sie keine Verbindung entdecken. Hinter ihren Augen bauten sich Kopfschmerzen auf, und sie schaltete die Schreibtischlampe aus. Draußen breitete sich die Dämmerung über den See und ihren Garten. Die Schatten wurden tiefer, die ersten Sterne blinkten.

Wer war John? Sie griff nach einem Kuli und drehte ihn zwischen den Fingern. Was wollte er? Ihr Angst machen? War das alles nur ein Spiel für ihn? Oder ging es um mehr, trachtete er ihr wirklich nach dem Leben? Sie wollte sich gerade einen Text über die Psyche des Stalkers vorknöpfen, da läutete das Telefon so laut, dass sie zusammenzuckte.

Beim zweiten Klingeln nahm sie den Hörer ab. »Hallo?«, sagte sie, erwartete jedoch keine Antwort. Schon zweimal hatte sie zuvor zum Hörer gegriffen, und niemand hatte sich gemeldet. Seitdem war sie nervös, zumal heute Donnerstag war, Annie Segers Geburtstag.

»Hi, Sam«, rief jemand fröhlich.

»Corky!« Es tat so gut, die Stimme ihrer Freundin zu hören. Samantha lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, blickte lächelnd aus dem Fenster und beobachtete ein Eichhörnchen, das von einem dicken Ast einer Eiche zum anderen hüpfte. »Was gibt’s?«

»Ich dachte, ich lasse mich mal wieder hören. Meine Mom hat gestern aus L.A. angerufen. Im Countryclub hat sie deinen Dad getroffen, und er sagte, du hättest Probleme. Du hättest dir in Mexiko eine Beinverletzung zugezogen und würdest jetzt von irgendeinem widerlichen Stalker belästigt.«

»Der Buschfunk scheint zu funktionieren.«

»Wenn meine Mom was Neues hört, mit Lichtgeschwindigkeit. Also, was ist los?«

Sam seufzte, stellte sich das Gesicht ihrer Freundin vor und wünschte sich, dass Corky in ihrer Nähe wohnte. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich habe gerade viel Zeit, also schieß los.«

»Du willst es so.« Sam informierte Corky über die jüngsten Vorfälle, erzählte ihr von John, Annie, den Anrufen, dem verunstalteten Foto, der Karte.

»Heilige Maria, Mutter Gottes, und heute ist der Geburtstag dieses Mädchens?«, hakte Corky nach, und Sam stellte sich den besorgten Ausdruck in den Augen ihrer Freundin vor.

»Sie wäre fünfundzwanzig geworden.«

»Vielleicht solltest du einen Leibwächter einstellen.«

»Das hat man mir schon nahe gelegt«, antwortete Sam trocken. »Und auch, dass ich meine Katze durch einen Rottweiler ersetzen sollte.«

»Und wenn du bei David einziehst?«

Sam schnaubte und warf einen Blick auf das gerahmte Foto von David, das noch immer neben dem Anrufbeantworter auf ihrem Schreibtisch stand. Gut aussehend, ja. Zum Heiraten geeignet – nein. »Selbst wenn David in New Orleans leben würde, käme das nicht infrage.« Um sich selbst zu beweisen, dass es ihr ernst war, nahm sie das Foto von David vom Schreibtisch und schob es in die unterste Schublade. »Es ist aus.«

»Aber du bist doch mit ihm nach Mexiko gefahren.«

»Ich habe ihn dort getroffen, und es hat sich als Albtraum erwiesen. Nach allem, was geschehen ist, kann ich froh sein, wenn David und ich Freunde bleiben. Das Merkwürdige ist, dass die Polizeibeamten sogar in Erwägung ziehen, er könnte etwas mit den Anrufen zu tun haben, die ich erhalte.«

»David Ross?« Corky lachte. »Ausgeschlossen. Wenn sie ihn kennen würden, wären sie erst gar nicht auf die Idee gekommen.«

»Außerdem wohnt er ja in Houston.«

»Okay, also David fällt als Leibwächter aus. Aber wer könnte den Job dann übernehmen? Hast du nicht irgendeinen großen, starken Freund, der für eine Weile bei dir einziehen könnte?«

Sofort entstand Ty Wheelers Bild vor Sams innerem Auge. »Nein. Außerdem brauche ich keinen Mann, der –«

»Was ist mit Pete?«

Sam schaute zu ihrem Examensfoto hinüber. »Du machst wohl Witze! Seit Jahren hat kein Mensch Pete zu Gesicht bekommen.«

»Ich schon. Neulich habe ich ihn getroffen.«

»Was?« Sam traute ihren Ohren nicht. »Sprichst du von meinem Bruder?«

»Ja.«

»Aber … aber …« Dutzende von Emotionen stürmten auf sie ein, und sofort traten ihr Tränen in die Augen. Bis zu diesem Moment war ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr sie unter dem Verschwinden ihres Bruders litt. »Tut mir leid, Corky, aber das haut mich um. Er macht sich nicht einmal die Mühe, zu Weihnachten oder zu Dads Geburtstag anzurufen … Geht es ihm gut?«

»Er sah aus, als sei er fit wie ein Turnschuh.«

»Warum hat er sich denn nie gemeldet? Wo hat er gesteckt, was treibt er so?«

»Hey, Moment mal. Eine Frage nach der anderen«, bremste Corky ihre Freundin, und Sam zwang sich, ihre überbordenden Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

»Du hast ja Recht«, lenkte sie ein. »Fangen wir von vorn an. Wo hast du Pete getroffen?«

»Hier in Atlanta in einer Bar. Letztes Wochenende. Ich konnte es nicht fassen.«

Ich fasse es auch nicht. Sam wurde es eng in der Brust. »Was für einen Eindruck machte er?«

»Einen guten. Er sah wirklich blendend aus – aber er hat ja schon immer blendend ausgesehen. Selbst damals, als er Drogen nahm.«

Eine Pause entstand, und Sam griff nach dem Schnappschuss von ihrer Familie. Du gefühlloser Scheißkerl!, dachte sie ärgerlich. Wie oft hatte ihr Vater angerufen und nach ihm gefragt! Hundertmal? Zweihundertmal?

»Anscheinend ist er mit sich ins Reine gekommen«, fuhr Corky fort. »Aber er hat mir keine Telefonnummer gegeben und nicht gesagt, wo er zu erreichen ist. Ich habe ihm nahe gelegt, dich anzurufen, und er sagte, er wolle es sich überlegen.«

»Wie nett von ihm.«

»Hey … hab doch ein wenig Verständnis. Ich glaube nicht, dass er ein schönes Leben hat.«

»Du hast schon immer für ihn geschwärmt«, warf Sam ihr vor.

»Ja, das stimmt. Früher. Aber wer hat nicht für ihn geschwärmt? Er ist immer noch zum Sterben schön.«

»Wenn du meinst.«

»Okay, ich gebe es zu: Ich stehe nun mal auf attraktive Männer.«

»Und verfällst jedem gleich mit Haut und Haar.«

Corky lachte. »Kann sein.« Sie seufzte vernehmlich. »Wenn es kein Ferngespräch wäre, würde ich ständig in deiner Sendung anrufen und dich um gute Ratschläge für mein Liebesleben anflehen.«

»Ganz bestimmt«, sagte Sam und kicherte. Corky fehlte ihr so sehr! Und in gewisser Weise fehlte Peter ihr auch.

»Im Gegensatz zu dir habe ich die Hoffnung auf die große Liebe noch nicht aufgegeben.«

»Im Gegensatz zu mir bist du keine Realistin«, entgegnete Sam. Charon sprang auf ihren Schoß und begann zu schnurren.

»Pete hat nach dir gefragt, Sam.«

»Tatsächlich?« Wieder stürzten die unterschiedlichsten Gefühle über sie herein, und keins davon war besonders positiv. »Und was ist mit Dad? Hat Pete nach ihm gefragt? Du weißt ja, Dad hat seit Jahren nichts von ihm gehört.«

»Hm, nein, auf deinen Vater ist er nicht zu sprechen gekommen.«

»Versteht sich.« Sam empfand eine völlig unangemessene schmerzhafte Enttäuschung. Warum um alles in der Welt gab sie nie die Hoffnung auf, dass ihr Bruder noch einmal so etwas wie Verantwortung gegenüber seiner Familie entwickeln könnte? »Also, was macht Pete denn jetzt?«, wollte Sam wissen. »Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, meine ich.«

»Ich bin nicht ganz sicher. Er sagte etwas von einer Handyfirma, für die er im gesamten Südosten Funkmasten aufstellt, aber ich hatte irgendwie den Eindruck, dass der Job nun zu Ende ist. Er wohnt hier, in Atlanta, doch er deutete an, dass er umziehen wolle … Oh, Moment, da kommt ein Anruf, den ich annehmen muss, ich arbeite auf Provisionsbasis, weißt du. Aber in ein paar Wochen bin ich in New Orleans. Ich besuche dich dann und erzähle dir alles Weitere. Bis dann.«

»Tschüs …« Bevor das Wort ausgesprochen war, hatte Corky aufgelegt, und die Leitung war tot. Den Blick auf das Foto von ihrer Familie geheftet, legte Sam den Hörer auf und versuchte, das Leichentuch der Depression abzuschütteln, das immer an ihr klebte, wenn sie an ihren Bruder dachte. Oder an ihre Mutter.

Tief im Inneren gab Sam noch immer Peter die Schuld am Tod ihrer Mutter, obwohl sie wusste, dass es an der Zeit war, von den alten Ressentiments abzulassen. Sie nahm das Foto auf, folgte mit der Fingerspitze den Konturen des Gesichts ihrer Mutter und spürte, wie die alte Traurigkeit wieder in ihr aufstieg, wie immer, wenn sie an ihre Mutter dachte. Kurz nach der Aufnahme dieses Fotos war Beth Matheson bei einem Autounfall, der hätte vermieden werden können, ums Leben gekommen.

»Ach, Mom.« Sam schluckte heftig. Vor langer Zeit war Beth auf der verzweifelten Suche nach ihrem Sohn in einer Regennacht in ihr Auto gestiegen und davongefahren. Keine zwei Meilen von zu Hause entfernt hatte sie aufgrund von Aquaplaning an einer roten Ampel nicht rechtzeitig halten können und war von einem Kombifahrer, der gerade in die Kreuzung einbog, gerammt worden. Sie war auf der Stelle tot gewesen.

Und alles nur wegen Petes Faible für Kokain.

Abhängigkeit, berichtigte sich Sam und versuchte, wenigstens einen Teil der Wut zu überwinden, die sie beim Gedanken an den vorzeitigen Tod ihrer Mutter manchmal erfasste. Peter war drogensüchtig. Das war eine Krankheit. Beth Matheson war unvorsichtig gewesen; in jener Nacht hatte sie selbst den Tod gefunden, und der Kombifahrer war so eben mit dem Leben davongekommen und hatte Wochen im Krankenhaus verbringen müssen.

Schnee von gestern.

Sam stellte das Foto zurück. Sie sollte Corky zurückrufen und versuchen, Pete aufzuspüren. Für ihren Vater. Auch für dich, Sam. Er ist dein einziger Bruder. Du musst aufhören, ihm die Schuld zuzuweisen. Aber er ist so ein verdammter Egoist! Er ruft Dad niemals an. Mich auch nicht. Als ob seine Familie gar nicht existierte.

Statt sich weiter den Gedanken an ihren Bruder hinzugeben, dem es anscheinend gleichgültig war, ob sie ihn für tot hielt, griff Sam erneut nach dem Hörer. Aus dem Gedächtnis wählte sie Davids Büronummer und erfuhr, dass er ein paar Tage Urlaub genommen hatte.

Wunderbar. Sie verspürte keineswegs das Bedürfnis, mit ihm zu reden, sie wollte sich lediglich rückversichern, dass er mit den Anrufen beim Sender und bei ihr zu Hause nichts zu tun hatte. David doch nicht, sagte sie sich. Der erste Anruf erfolgte, als du in Mexiko warst – zusammen mit David. David steckt nicht dahinter. Die Polizei verfolgt eine falsche Fährte.

Trotzdem wählte sie Davids Privatnummer, wartete, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete, und legte dann auf. Er war also gar nicht in Houston. Na und?

Sie mochte nicht herumsitzen und sich fragen, was er gerade trieb. Er gehörte nicht mehr zu ihrem Leben, und sie musste sich nicht in Erinnerung rufen, dass sie es so gewollt hatte. Ohne ihn ging es ihr besser. Schließlich hatte sie ihn nie wirklich geliebt.

Glücklicherweise war sie aufgewacht, bevor sie die Hoffnung auf echte Liebe aufgegeben und ihn geheiratet hatte, nur weil sie ihn für einen geeigneten Kandidaten hielt. »Du bist genauso schlimm wie Corky«, schalt sie sich leise. Sie wandte sich ihrem Computer zu und checkte ihre E-Mails. Die meisten interessierten sie nicht, doch sie fand auch eine Nachricht vom Boucher Center und eine von Leanne.

Hier läuft es nicht so toll. Mom ist ständig sauer, und Jay ruft mich nicht zurück. Ich glaube, ich muss über eine gewisse Sache mit dir reden. Ruf mich an, wenn du Zeit hast, oder schick mir eine Mail.

»Ach, Schätzchen.« Sam sandte ihr rasch eine Antwort, schlug vor, sich zum Kaffee zu treffen, und wählte dann Leannes Privatnummer. Die Leitung war besetzt, also konnte sie keine Nachricht hinterlassen. Leanne hatte ihr schon öfter ähnliche Mails geschickt, doch Sam hatte das Gefühl, dass das Mädchen nun ernsthaft in Schwierigkeiten steckte. Vielleicht rief sie in dieser Nacht ja in ihrer Sendung an.

Wie Annie Seger es getan hatte?

»Hör auf damit«, sagte sie laut.

Sam hielt sich vor Augen, dass sie Leanne auch noch später anrufen könnte, schubste Charon von ihrem Schoß und stieg die Treppe hinauf ins Obergeschoss. In ihrem Schrank schob sie die langen Kleider auseinander, bückte sich und öffnete die Tür zum Dachboden. Als sie den Lichtschalter betätigte, hörte sie ein wütendes Summen, dann erblickte sie ein Hornissennest in einer Ecke des Spitzgiebels. Glänzende schwarz-gelbe Körper krochen über das Nest. Abgesehen von den Hornissen sah sie Spinnen in Netzen lauern, die von den alten, freiliegenden Dachsparren hingen. Sie fragte sich, ob auch Fledermäuse hier Unterschlupf gefunden hatten, erkannte ein bisschen Kot, aber keine geflügelten kleinen Felltierchen, die kopfüber an den Balken baumelten. Auf dem Dachboden roch es nach Moder und Schimmel – das war nicht der rechte Ort für wichtige Unterlagen. Sie würde Schränke im Arbeitszimmer oder im Gästezimmer einbauen müssen. Mit zusammengebissenen Zähnen kroch sie behutsam über den groben Holzfußboden und betrachtete den Staub … War er aufgewühlt? Die Oberfläche der Kisten … Sie erschien ihr sauberer als erwartet, als hätte jemand sie abgewischt, um nach der Beschriftung zu suchen … Sie schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihr? Niemand hatte ihren Dachboden betreten, und die Kisten waren noch relativ staubfrei, weil sie sie erst vor drei Monaten aussortiert und hierher gebracht hatte. Vor drei Monaten war sie hier gewesen – und seitdem niemand mehr.

Und dennoch konnte sie den nagenden Zweifel in ihrem Kopf nicht besiegen. War jemand in ihr Haus eingedrungen? Sie biss sich auf die Unterlippe und rief sich innerlich zur Vernunft.

Gründlich studierte sie die Beschriftung der einzelnen Kisten, kramte in alten Steuerbescheiden, Schulunterlagen, Zeugnissen und Patientenakten, bis sie auf die Kiste mit den Informationen über Annie Seger stieß. Sie zerrte sie in den Schrank und hörte die Hornissen summen. Ein wütendes Insekt folgte ihr zwischen den langen Röcken ihrer Kleider hindurch, ließ sich auf ihrem Kopf nieder, und als sie nach dem Tier schlug, stach es sie seitlich in den Hals.

»Verdammt.« Sie schloss die Tür zum Dachboden, verriegelte sie und trug die Kiste ins Schlafzimmer, wo sie sie einfach auf den Boden fallen ließ. Der Stich an ihrem Hals pochte. Sie musste etwas gegen das Nest unternehmen, und zwar bald, bevor die Hornissen den Weg in ihren Schrank, ins Schlafzimmer und den Rest des Hauses fanden.

Im Bad tauchte sie einen Waschlappen in kaltes Wasser, inspizierte den Stich vorm Spiegel und kühlte ihn. Schon schwoll er an, und das einzige Mittel, das sie im Medizinschrank entdeckte, war eine jahrealte Arnikatinktur, mit der sie die betroffene Stelle einrieb. »Blödes Vieh!«, wetterte sie und hörte, wie Mrs. Killingsworths Hund zu bellen begann. Sie ging zur Vorderseite des Hauses, um nachzusehen, was da los war, und hörte Schritte auf ihrer Veranda. In der Erwartung, ein Klingeln oder Klopfen zu hören, lief sie die Treppe hinunter.

Das Telefon schrillte, und sie rief: »Augenblick noch« in Richtung Tür und eilte zunächst ins Arbeitszimmer.

Noch vor dem dritten Klingeln hatte sie den Hörer abgehoben. »Hallo?«, meldete sie sich. Stille. »Hallo?«

Wieder erfolgte keine Antwort. Doch da war jemand am anderen Ende der Leitung, dessen war sie sicher. Sie spürte es ganz deutlich.

»Wer ist da?«, fragte sie, Zorn und Angst in der Stimme. »Hallo?« Sie wartete dreißig Sekunden lang und sagte dann: »Ich kann Sie nicht hören.«

Handelte es sich bei den Lauten um Atemgeräusche, oder war es nur eine schlechte Verbindung? Sie wollte nicht näher darüber nachdenken. Ohne ein weiteres Wort legte sie auf und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass der Anruf nichts zu bedeuten hatte.

Oder doch?

Sie überprüfte die Caller-ID.

Nummer unterdrückt.

Wie die Anrufe beim Sender.

Rede dir nichts ein. Es war eine schlechte Verbindung. Der Anrufer wird sich wieder melden.

Sie schritt durch die Eingangshalle zur Haustür, und ihr wurde bewusst, dass es weder geklingelt noch geklopft hatte. Merkwürdig.

Sie spähte durch den Spion, sah jedoch niemanden.

Ohne die Kette zu entfernen, öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und schaltete die Außenbeleuchtung ein.

Die Veranda war leer. Die Windspiele klimperten in der Brise.

Von der anderen Straßenseite her glotzte Hannibal zu ihrem Haus herüber und bellte sich die Seele aus dem Leib.

Sam löste die Kette und trat nach draußen. Sie war allein. Aber der Schaukelstuhl bewegte sich. Als hätte jemand ihm einen Stoß gegeben.

Ihr wurde kalt ums Herz. Sie ließ den Blick über den Vorgarten und die Zufahrt schweifen. »Hallo?«, rief sie in die anbrechende Nacht hinein. »Hallo?«

Von der Hausecke her war ein Scharren zu hören – das Scharren von Leder auf alten Holzbohlen. Oder spielte ihre Fantasie ihr einen Streich?

Mit hämmerndem Herzen ging sie zur Ecke und spähte um das Haus herum zur Veranda hinüber. Abgesehen von dem Licht, das aus dem Fenster des Esszimmers fiel, war alles finster.

Sie kniff die Augen zusammen und war sicher, eine Bewegung in der Hecke ausgemacht zu haben, die ihr Grundstück von dem benachbarten abgrenzte, doch die konnte auch auf den Wind in den Blättern, ein Eichhörnchen, das in den Zweigen turnte, oder eine durch die Dunkelheit schleichende Katze zurückzuführen sein.

Allmählich drehst du durch, Sam, dachte sie und hastete zurück vors Haus. Du bildest dir das alles nur ein.

Doch der alte Schaukelstuhl auf der vorderen Veranda schwang noch immer leicht hin und her, und das Gefühl, dass sie nicht allein war, dass verborgene Augen sie beobachteten, trieb ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Wer lauerte ihr auf?, fragte sie sich, betrat das Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Das Telefon schrillte, und sie zuckte zusammen.

Reiß dich am Riemen!

Sie ließ es noch einmal klingeln. Und noch einmal. Mit heftig pochendem Herzen nahm sie den Hörer auf. »Hallo?«

»Hallo, Dr. Sam«, schnurrte Johns Stimme, und Sam lehnte sich Halt suchend an den Schreibtisch. »Du weißt, welcher Tag heute ist, oder?«

»Der zweiundzwanzigste.«

»Annies Geburtstag.«

Sam ging nicht weiter darauf ein. »Wer war das Mädchen, das neulich nachts angerufen hat?«

»Hast du über deine Sünden nachgedacht? Darüber, dass du bereuen solltest?«

»Was soll ich bereuen?«, wollte sie wissen, und der Schweiß rann ihr über den Rücken. Sie sah aus dem Fenster, fragte sich, ob er wohl draußen war, ob die Schritte, die sie auf der Veranda gehört hatte, seine gewesen waren, ob er von einem Handy aus anrief. Sie ging zum Fenster und ließ die Jalousie herab.

»Sag du’s mir.«

»Ich bin nicht verantwortlich für Annies Tod.«

»Das ist nicht die richtige Einstellung, Sam.«

»Wer bist du?«, fragte sie herausfordernd. Ihre Muskeln spannten sich an, es dröhnte in ihrem Kopf. »Kennen wir uns? Kenne ich dich?«

»Das Einzige, was du zu wissen brauchst, ist Folgendes: Das, was heute Nacht geschieht, geschieht deinetwegen. Wegen deiner Sünden. Du musst bereuen, Sam. Um Vergebung bitten.«

»Was hast du vor?« Ihr war plötzlich eiskalt.

»Du wirst es sehen.«

»Nein … Nicht –«

Klick. Die Leitung war tot.

»O Gott, nein!« Sam sank in ihrem Stuhl zusammen. Barg das Gesicht in den Händen. Sie hatte das Böse in seiner Stimme gespürt, die Grausamkeit. Irgendetwas würde passieren. Etwas Grauenhaftes. Und es würde ihre Schuld sein.

Reiß dich zusammen. Lass dich von ihm nicht unterkriegen. Du musst ihn aufhalten. Denk nach, Sam, denk nach. Ruf die Polizei. Alarmiere Bentz.

Sie wählte die Nummer der Polizei in New Orleans und verlor fast den Verstand, als man ihr mitteilte, man würde Bentz ausrufen lassen und er würde sich bei ihr melden. »Sagen Sie ihm, dass es sich um einen Notfall handelt«, verlangte sie, bevor sie auflegte. Was sollte sie tun? Wie konnte sie das Böse, das John plante, verhindern? Als das Telefon erneut klingelte, fuhr sie zusammen. Sie hob den Hörer ab und rechnete bereits mit einer weiteren Drohung.

»Hallo?« Sie flüsterte beinahe, und ihre Knie drohten nachzugeben.

»Bentz hier. Man hat mich benachrichtigt, dass Sie wegen eines Notfalls angerufen haben.«

»John hat sich gerade bei mir gemeldet«, berichtete sie. »Hier, bei mir zu Hause.«

»Was hat er gesagt?«

»Er will, dass ich bereue, und wenn ich nicht bereue, müsse ich für meine Sünden bezahlen, die alte Leier, doch dann fügte er hinzu, dass etwas Schlimmes passieren würde. Heute Nacht. Und ich würde schuld sein.«

»Verdammte Sch–! Moment mal. Noch einmal von vorn. Ganz langsam. Sie haben das Gespräch nicht zufällig aufgezeichnet?«

»Nein … Daran habe ich nicht gedacht. Es ging alles so schnell.«

»Erzählen Sie mir alles, was bisher vorgefallen ist«, schlug er vor, und das tat sie auch. Sie ließ keine Einzelheit aus, erwähnte, dass das Telefon ein paar Mal geklingelt und der Anrufer aufgelegt habe, dass sie glaube, ihr roter Body sei verschwunden, dass sie das Gefühl habe, das Haus würde beobachtet.

Bentz hörte geduldig zu und gab ihr den gleichen Rat wie zuvor schon einmal: Sie solle vorsichtig sein, ihre Türen verriegeln, sich einen Wachhund anschaffen, die Alarmanlage eingeschaltet lassen. »Und vielleicht überlegen Sie, ob Sie nicht besser bei einer Freundin übernachten. Nur, bis diese Sache ein Ende hat.«

Sie hängte ein und fühlte sich ein bisschen besser. Doch ihr war klar, dass sie nicht herumsitzen und warten konnte, bis John seine Drohung wahr machte. Auf keinen Fall. Sie musste herausbekommen, wer sich hinter dem Anrufer verbarg.

Bevor es zu spät war.

 

»Das soll ich anziehen?«, fragte das Mädchen, sah den Mann an, den sie in der Nähe des Flusses aufgegabelt hatte, und deutete auf die rote Langhaarperücke und einen spitzenbesetzten roten Body. Beides ließ er von einem Finger baumeln.

»Ganz recht.«

Er war ganz ruhig. Und irgendwie merkwürdig. Die Sonnenbrille, die seine Augen verbarg, verstärkte diesen Eindruck.

Wenn sie verzweifelt war, hatte sie schon des Öfteren ein paar Nummern geschoben, und man hatte auch schon manche Perversität von ihr verlangt, doch was dieser Freier forderte, war grotesk.

Aber was machte das schon? Sie wollte es nur hinter sich bringen und kassieren.

Er ging ans Fenster und vergewisserte sich, dass die Jalousien in dem schäbigen kleinen Hotelzimmer, für das er nur äußerst ungern bezahlen wollte, fest geschlossen waren.

Er war aufgeheizt gewesen, und der Kratzer in seinem Gesicht ärgerte ihn jetzt. Immer wieder sah er in den Spiegel, der an der Tür hing, und strich mit dem Finger über die Striemen, Striemen, die sie ihm beigebracht hatte.

Sie hatte auf einer Bank im Park gesessen, in der Nähe der Werft, und den Schiffen nachgeschaut, die den trägen Fluss entlangstampften. Tief in Gedanken, beschäftigt mit der Frage, was sie tun sollte, hatte sie ihn nicht kommen gehört. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht. Als er sie angesprochen hatte, war der Park nahezu menschenleer gewesen. Sie hatte erklärt, dass sie kein Zimmer habe, und er war sauer geworden. Sie hatte gedacht, damit wäre die Sache erledigt. Doch er war beharrlich geblieben.

Er hatte ihr hundert Dollar angeboten.

Sie hätte sich mit fünfzig zufrieden gegeben.

Dann hatte er sie in dieses stinkende kleine Zimmer direkt an der Grenze zum Französischen Viertel geschleppt. Seit er seine Forderungen angemeldet hatte, wollte sie einen Rückzieher machen. Aber es ging um gutes Geld. Was kostete es sie schon, einen roten Body anzuziehen und ihre eigenen kurzen karottenroten Locken unter dieser kastanienroten Langhaarperücke zu verstecken? Je eher sie tat, was er wollte, desto schneller würde sie aufbrechen können, um Crack zu kaufen. Also gut. Es war ja keine großartige Sache. Sie hatte schon Schlimmeres getan, als den Body einer anderen Frau zu tragen. Sie fragte sich, ob das Wäschestück seiner Frau oder seiner Freundin gehörte. Was für ein Spinner verbarg sich hinter den dunklen Brillengläsern?

Und jetzt sah er sie wieder mit diesen dunklen, verborgenen Augen an. Und was noch schlimmer war: Er ließ einen Rosenkranz durch seine Finger gleiten. Und das war ihr nun wirklich unheimlich. Sie war nicht sonderlich religiös, war jedoch im Sinne der katholischen Kirche großgezogen worden, und es erschien ihr nach ihrem christlichen Verständnis nicht zulässig, dass er in dieser Situation einen Rosenkranz dabeihatte. Das kam ihr vor wie Gotteslästerung.

Aber was soll’s? Sie brauchte Stoff. Und sie würde ihn bekommen – wenn sie nur die nächste halbe Stunde überstand. Sie warf einen Blick auf den Nachttisch. Betrachtete den Hundertdollarschein. Auch das war merkwürdig: Benjamin Franklins Augen waren geschwärzt.

Der Freier machte sich am Radio auf dem Nachttisch zu schaffen, drückte Tasten und bedachte das elektronische Display mit bösen Blicken, bis er einen Sender fand, den sie sofort erkannte. Als sie Dr. Sams Stimme vernahm, schluckte sie heftig.

»Können … Wollen wir nicht lieber Musik hören?«, schlug sie vor und spürte leise Gewissensbisse. Es war so, als wäre Sam bei ihnen im Zimmer.

»Nein.«

»Aber –«

»Zieh dich einfach um«, befahl er mit schmalen Lippen, während er den Rosenkranz zwischen Daumen und Zeigefinger rieb, als hinge sein Leben davon ab. Die dunkle Sonnenbrille und der Kratzer auf seiner Wange ermahnten sie, den Mund zu halten.

Sie trat aus ihren Plateausandalen, stand barfuß auf dem abgenutzten Teppich vor dem Bett und streifte sich das Top über den Kopf. In ein paar Minuten würde alles vorüber sein, dann konnte sie gehen.

Dr. Sams Stimme ertönte aus den Lautsprechern. »Also, New Orleans, wir wollen es hören. Erzählt mir von den Liebesbriefen, die ihr von dem lieben John erhalten habt.«

Der Kerl erstarrte. Knurrte etwas vor sich hin, fuhr dann zu ihr herum und blickte sie böse an. Als sie ihre Shorts auszog und in den spitzenbesetzten Body schlüpfte, sprach er kein Wort. Während sie die Trägerlänge anpasste, dachte sie flüchtig, dass der Typ auf unheimliche Weise gut aussah. Darauf wollte sie sich konzentrieren, auf sein gutes Aussehen, statt Dr. Sam zuzuhören. Sie würde sich verstellen. Wie sie es immer tat, und sie würde gleich zur Sache kommen, würde es ihm besorgen und sich dann verabschieden. Sie stopfte ihr Haar unter die Perücke, hob das Kinn und schaute den Mann trotzig an.

»Gut so?«

Einen Augenblick lang fixierte er sie, studierte sie wie eine Fruchtfliege unter dem Mikroskop in dem idiotischen Biologiekurs, in dem sie durchgefallen war. Sie warf den Kopf zurück, und das lange Haar der Perücke fegte über ihre Schulterblätter.

»Perfekt«, sagte er schließlich mit dem Hauch eines Lächelns. »Einfach perfekt.«

Er trat auf sie zu, berührte ihr Ohr und spielte mit den zahlreichen Ringen in ihrem Ohrläppchen. Gut. Er wollte endlich loslegen.

Er liebkoste ihren Hals, und sie zwang sich zu einem Stöhnen, das nicht von Herzen kam, nur um es schneller hinter sich zu bringen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, als wäre sie wirklich heiß auf ihn, und dann spürte sie, dass etwas Eigenartiges, etwas Kaltes über ihren Kopf gezogen wurde und sich um ihren Hals legte.

»Hey, Moment mal«, protestierte sie und sah ihn zum ersten Mal lächeln. Es war ein kaltes Lächeln. Ein tödliches Lächeln. Schmale Lippen, die regelmäßige weiße Zähne entblößten. Sie versuchte, vor ihm zurückzuweichen, doch er zerrte heftig an dem Band um ihren Hals und drehte mit einer Bewegung aus dem Handgelenk die Schlinge zu. Die Perlen ritzten ihre Haut auf, stachen in ihr Fleisch, schnitten ihr den Atem ab.

Panik stieg in ihr auf. Hier stimmte was nicht. Sie wollte schreien. Konnte es nicht. Bekam keine Luft mehr. Sie ruderte mit den Armen, trat nach seinen Knien und seinem Schritt, wehrte sich, doch er wich ihren nackten Füßen aus, und ihre Hände konnten nur wenig gegen seine eisenharte Brust ausrichten. Sie versuchte, ihm das Gesicht zu zerkratzen, doch er zog die Schlinge nur noch fester zu. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er biss vor Anstrengung die Zähne zusammen und verzog den Mund.

Nein, o Gott, nein. Hilfe!

Ihre Lungen brannten wie Feuer. Sie glaubte, sie würden platzen.

Bitte, bitte. Hilfe. Bitte, jemand muss doch hören, was hier los ist, und mir helfen!

Sie holte mit der Faust nach seiner Sonnenbrille aus, und er riss den Kopf zurück. Sie sah ihr eigenes Grauen doppelt in den dunklen Gläsern, in denen sich ihr Gesicht verzerrt spiegelte. Sie würde sterben, das wusste sie. Und das Baby, das sie in sich trug, das sie nicht gewollt hatte, musste ebenfalls sterben.

Er drehte sie grob mit dem Rücken zu sich um, und sie empfand einen Moment der Erleichterung. Ihre Knie gaben nach. Sie keuchte. Versuchte wegzulaufen.

Sie sog ein letztes Mal den Atem ein. Schmeckte Blut, taumelte nach vorn, glaubte beinahe, entkommen zu können.

Da zog er die unselige Schlinge wieder fest.