15. Kapitel
Wir müssen reden«, sagte Eleanor. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und winkte Sam in ihr Büro. »Setz dich, es dauert nur einen Augenblick.«
Sam nahm ihr gegenüber vor dem Schreibtisch Platz, und Eleanor griff nach dem Telefonhörer, gab eine Nummer ein und sagte: »Melba, nimm meine Anrufe an, ja? Sam und ich wollen nicht gestört werden, es sei denn, Tiny und Melanie kommen. Sie sollten in …«, sie warf einen Blick auf die Uhr, »… in etwa fünfzehn Minuten hier sein. Schick sie gleich zu uns rein, ja? Danke.« Sie legte den Hörer wieder auf die Gabel und wandte sich Sam zu. »Hier gehen höchst merkwürdige Dinge vor.« Sie verschränkte die Arme auf der Schreibunterlage und beugte sich vor. »Ich habe mir heute Morgen die Aufzeichnung deiner gestrigen Sendung angehört. Und ich habe mir von Tiny den letzten Anruf deines entzückenden Stalkers geben lassen. Dann habe ich mit George gesprochen und auch mit der Polizei, mit einem von diesen Beamten, die letzte Nacht hier waren. Aber jetzt möchte ich das alles gern aus erster Hand hören. Was meinst du: Was ist hier los?«
»Abgesehen davon, dass jemand versucht, mich zu terrorisieren?«
»Ist es denn nur einer?«
»Oder zwei«, sagte Sam, »wenngleich ich bezweifle, dass hier eine große Verschwörung im Gange ist, um Dr. Sam eins auszuwischen.«
»Gut, aber warum kommt dann jemand ausgerechnet jetzt wieder auf Annie zu sprechen?«
»Ich weiß es nicht.« Sam schaute aus dem Fenster und sah blauen Himmel und Häuserdächer. »Es ist so lange her. Ich hatte gehofft, das alles läge hinter mir.«
»Ich auch.« Eleanor seufzte und zupfte an ihrem Ohrstecker. »Die Frau, die vorgibt, Annie zu sein, ruft dich während der Sendung an, und etwa eine halbe Stunde später, als dein Programm beendet ist, meldet sich dieser verrückte John. Da muss ein Zusammenhang bestehen.«
»Da gebe ich dir Recht – anscheinend ist er der Meinung, ich hätte gesündigt und ich müsse bereuen, aber ich weiß nicht, wieso. Gibt er mir die Schuld an Annies Tod? Auf jeden Fall erfolgten die Anrufe nicht vom selben Apparat aus. Die Caller-ID hat den Standort der Frau als ein Münztelefon in einer Bar in der Innenstadt identifiziert, und Johns Anruf kam aus einer Telefonzelle irgendwo im Gartenbezirk. Die Polizei beschäftigt sich damit.«
»Und du glaubst, dieser John hat irgendeine Frau engagiert, die dich mit verstellter Stimme anrufen soll, oder? Ich schätze, die Polizei kann die Stimme untersuchen lassen. Ich habe George bereits gesagt, dass wir alle eingehenden Anrufe, nicht nur die in deiner Sendung, auf Band aufzeichnen müssen. Das ist kein Problem«, fügte sie hinzu und verzog das Gesicht, als sie ihren Diamant-Ohrstecker wieder im Ohrläppchen befestigte. »George freut sich natürlich unbändig über den Zuwachs an Hörern. Wie damals in Houston. Seit Johns erstem Anruf haben sich bedeutend mehr Hörer gemeldet als sonst.«
»Prima«, sagte Sam sarkastisch. »Vielleicht sollten wir einfach ein paar Geisteskranke auftreiben, die uns regelmäßig anrufen.«
»Ich glaube nicht, dass George so etwas in Erwägung zieht«, entgegnete Eleanor, und dabei erschienen Falten auf ihrer Stirn und rings um ihren Mund. »Aber er denkt ernsthaft darüber nach, das Format auszubauen. Du würdest dann nicht nur von Sonntag bis Donnerstag auf Sendung gehen, sondern auch Freitag und Samstag.«
»Und ein Privatleben könnte ich dann abschreiben, wie?«
»Wir würden uns etwas einfallen lassen. Anfangs wäre es natürlich dein Baby, doch später könnten wir Gastmoderatoren einsetzen oder aufgezeichnete Segmente. Oder wir prüfen, welche Nächte die beliebtesten sind, und streichen einen anderen Tag.«
»Du bist dafür?«, fragte Samantha.
»Ich bin für alles, was geeignet ist, die Hörerzahlen zu steigern, natürlich nur, solange es sich nicht als gefährlich erweist. Die Sache mit diesem John ist mir unheimlich. Und dass der Fall Annie Seger wieder aufgewärmt wird, verstehe ich nicht.« Ihre dunklen Augen blitzten. »Das ist mir mindestens genauso unheimlich. Ich will, dass die Sicherheitsmaßnahmen erhöht werden und du besonders vorsichtig bist. Wir warten einfach ab. Vielleicht erledigt sich das alles von ganz allein.«
»Okay, aber da ist noch etwas, das du wissen solltest.«
»Oh, prima.« Die Furchen auf Eleanors Stirn vertieften sich. »Was kommt denn jetzt noch?«
»Ich habe gestern Nacht eine Grußkarte erhalten.« Sam schilderte die Geburtstagskarte. »Sie lag in meinem Wagen.«
»In deinem Wagen? Aber hast du die Türen denn nicht verriegelt?«, wollte Eleanor wissen und tat ihre Frage gleich darauf mit einer Handbewegung ab. »Natürlich hast du, du bist ja nicht blöd. Jetzt sag mir endlich, wie du über das Ganze denkst. Was zum Teufel soll das alles?«
»Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden«, sagte Sam. »Ich habe die Polizei bereits informiert.«
»Ich lasse George wissen, dass ich nicht nur am Haupteingang des Gebäudes rund um die Uhr eine Wache will, sondern auch hier, auf unserer Etage. Bis sich die Wogen geglättet haben, bestehe ich darauf. Dass der Spinner dich während deiner Sendung anruft, ist die eine Sache, aber dass er dich privat bedroht, ist etwas anderes.«
Das Telefon klingelte, und Eleanor nahm ab. »Schick sie rein, und danke, Melba«, sagte sie. »Tiny und Melanie kommen her. Vielleicht sehen sie die Angelegenheit ja ganz anders.«
Minuten später wurde energisch an die Tür geklopft. Melanie stürmte in den Raum, gefolgt von Tiny.
Sie ließen sich auf einem kleinen Sofa, eingequetscht zwischen einen Aktenschrank und ein Bücherregal, nieder.
»Also, Sam hat mir berichtet, was gestern Nacht vorgefallen ist, aber ich würde dazu gern auch eure Eindrücke hören.«
»Ein verrückter Stalker hat es auf Sam abgesehen«, fing Tiny an, rieb sich nervös die Hände und wich Sams Blicken aus. »Ich halte ihn für gefährlich.«
»Vermutlich geilt es ihn bloß auf, ihr Angst einzujagen«, widersprach Melanie. Sie warf ihre blonden Locken zurück und fügte hinzu: »Wahrscheinlich ist er so ein verklemmter religiöser Fanatiker.«
»Trotzdem könnte er gefährlich sein. Ich habe mir die Aufzeichnungen dreimal angehört, und ich glaube, Tiny hat Recht. Dieser Typ ist eindeutig nicht ganz richtig im Kopf. Ich will, dass ihr alle ganz besonders vorsichtig seid. Geht nachts nicht allein nach draußen.«
»Aber offenbar hat er doch allein Sam auf dem Kieker.«
»Bis jetzt«, widersprach Eleanor. »Weil es ihre Sendung ist, aber wer weiß, vielleicht zieht er auch Sams Kollegen und Bekannten mit hinein. Eins scheint festzustehen: Für ihn ist es eine persönliche Sache.«
»Und ein Spiel«, fügte Samantha hinzu. »Ich stimme Tiny zu, der Kerl könnte gefährlich sein, aber Melanies Theorie hat auch was für sich. Mir Angst zu machen, erregt den Mistkerl.«
»Also, sei vorsichtig. Schaff dir einen Wachhund an, trag immer Pfefferspray bei dir, geh nachts nicht allein aus, überprüfe deinen Wagen, bevor du dich ans Steuer setzt. Tu alles, was erforderlich ist, bis wir wissen, wer der Mistkerl ist.« Eleanor sah die drei nacheinander eindringlich an. »Ich habe bereits mit George über zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen und die Modernisierung unserer Ausrüstung gesprochen, damit wir die eingehenden Anrufe zurückverfolgen können. Bislang habe ich noch keine Antwort von ihm. Ich weiß noch nicht mal, ob das überhaupt möglich ist. Aber falls wir die Polizei einschalten oder einen Privatdetektiv anheuern müssen oder was auch immer – ich bin bereit dazu. Diese Sache muss geregelt werden.«
»Beendet, wolltest du sagen«, berichtigte Sam sie.
»Natürlich. Beendet.« Eleanor wies mit einem lackierten Fingernagel der Reihe nach auf jeden der drei. »Und wenn etwas Ungewöhnliches passiert, will ich auf der Stelle informiert werden. Wartet nicht bis zum nächsten Tag, ruft mich unverzüglich an. Ihr alle habt meine Handynummer. Ich bin jederzeit zu erreichen.«
Das Telefon klingelte, und Eleanor schaute auf ihre Uhr. »Verdammt. Na ja, ich denke, wir sind sowieso fertig. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht noch mehr Ärger bekommen. Diese Wohltätigkeitsveranstaltung steht ins Haus – für das Boucher Center, und wir haben die Medien eingeladen. Ich möchte nicht, dass die Wind von dieser Sache kriegen.«
»Wir sind die Medien«, erinnerte Sam sie.
»Du weißt schon, was ich meine.«
Als das Telefon erneut läutete, legte Eleanor endlich die Hand auf den Hörer. Die Konferenz war beendet. Tiny und Melanie ergriffen sofort die Flucht. Sam war auf halbem Weg zur Tür, da rief Eleanor ihr nach: »Warte, Sam …«
Samantha blickte über die Schulter zurück, und Eleanor ignorierte das dritte Klingeln.
»Du meldest dich noch einmal bei der Polizei und machst ihr gehörig Beine, hörst du? Sag dem zuständigen Beamten, dass er diesen Mistkerl festnehmen soll, sonst gehen wir auf die Barrikaden!«
»O ja, dann wird er sich mächtig ins Zeug legen«, spöttelte Sam.
»Das will ich ihm auch geraten haben.«
»Ist das nicht deine Radiopsychologin?«, fragte Montoya und legte die Kopie eines Protokolls vor Rick Bentz auf den Schreibtisch. Die Klimaanlage hatte versagt; im Büro war es heiß wie in einem Backofen. Bentz hatte einen Ventilator auf das Sideboard in seinem Rücken gestellt. Der drehte sich dröhnend, wirbelte jedoch lediglich die schwüle Luft auf.
»Meine was?«, gab er zurück, dann stach ihm Samantha Leeds’ Name ins Auge. »Scheiße.« Bentz blickte zu Montoya auf, der nach Zigarettenrauch und irgendeinem Parfüm roch, das er nicht kannte. Trotz der drückenden Hitze wirkte Montoya frisch in seinem schwarzen Hemd, der schwarzen Jeans und der Lederjacke, Bentz hingegen schwitzte wie ein Schwein. »Wieder Ärger?«
»Sieht ganz so aus.« Montoya hielt inne, um ein Bild von der Skyline gerade zu rücken, das Bentz über einem Aktenschrank aufgehängt hatte.
Bentz überflog das Protokoll. »Ihr persönlicher Perverso hat anscheinend noch nicht aufgegeben. Hat nicht nur beim Sender angerufen, sondern ihr auch noch einen Drohbrief in ihrem Wagen hinterlegt.«
»Mhm.«
»Ist der Wagen beschlagnahmt worden?«
»Nein.«
»Warum nicht, zum Teufel?«, knurrte Bentz.
»Er wurde an Ort und Stelle auf Fingerabdrücke untersucht.«
»Und?«
»Bisher noch nichts.«
»Wieso wundert mich das nicht?«, fragte Bentz, zog auf der Suche nach einem Streifen Kaugummi eine Schublade auf und überlegte, ob es nicht Zeit wäre, seinen Verzicht auf Zigaretten aufzugeben.
»Weil du genau weißt, wie es hier läuft.« Montoya holte eine Kassette aus der Jackentasche und legte sie vor Bentz’ halb ausgetrunkener Pepsidose und dem Foto von Kristi auf den Schreibtisch. »Hier ist die Aufzeichnung der gestrigen Sendung. Dr. Sam hat letzte Nacht wieder ein paar Anrufe bekommen.«
»Von dem Kerl, der sich John nennt.«
»Und von einer Frau – einer toten Frau.«
»Das habe ich mitgekriegt«, gab Bentz zu und lehnte sich, noch immer nach einer Zigarette schmachtend, auf seinem Stuhl zurück. »Annie.«
»Du hast dir die Sendung angehört?«
Montoya grinste von einem Ohr zum anderen. Augenscheinlich amüsierte ihn die Vorstellung von Bentz vorm Radio, den Hörer in der Hand, im Begriff, eine Rundfunkpsychologin anzurufen.
»Ja, ich habe sie jede Nacht angehört, seit ich die Frau vernommen habe. Gestern Nacht hat niemand namens John angerufen.«
»Irrtum. Der Perverse hat sehr wohl angerufen – aber erst nach Ende der Sendung. Das Gespräch ist ebenfalls auf der Kassette. Der Techniker, Albert, genannt Tiny, Pagano, hat es mitgeschnitten.« Er wies auf die Kassette auf Bentz’ Schreibtisch.
»Das hat uns gerade noch gefehlt.« Bentz hatte gehofft, der Irre habe seine Drohanrufe eingestellt. Dem Protokoll nach zu urteilen, war er zu optimistisch gewesen. »Woher hast du diese Kopie?« Er fand das Kaugummi und schob sich einen Streifen in den Mund.
»Von O’Keefe. Er hatte gestern Nacht Dienst und wusste, dass du den Fall bearbeitest. Er und ein weiterer Beamter haben Dr. Sam beim Sender verhört und wurden später noch zu dem Parkhaus gerufen, nachdem sie diese Karte im Auto gefunden hatte. Laut O’Keefe war sie ziemlich mit den Nerven runter.
»Kannst du ihr das verübeln?«
»Nein, zum Teufel.« Er kratzte sich nachdenklich seinen Kinnbart und fragte: »Was hältst du von der ganzen Sache?«
»Nicht viel.« Bentz kaute auf dem geschmacklosen Kaugummi herum. »Annie Seger, wer zum Kuckuck ist das?«, wollte er wissen.
»Weiß nicht. Ich finde, wir sollten diese Sache den Jungs überlassen, die für Belästigung zuständig sind. Das ist nun wirklich kein Fall für dich. Niemand ist tot.«
»Noch nicht.«
»Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest.«
»Wie gut du mich doch kennst.« Ihm stand entschieden mehr Arbeit bevor, als er bewältigen konnte. Nicht genug damit, dass möglicherweise ein Serienmörder frei herumlief und jetzt auch noch das FBI hinzugezogen wurde, nein, auch die übliche Anzahl von Mordfällen musste bearbeitet werden – aus den Fugen geratene Ehestreitigkeiten, schief gelaufene Drogendeals im Bandenmilieu oder Leute, die einfach nur sauer auf jemanden waren und zur Pistole oder zum Messer griffen.
Montoya holte einen Taschenrekorder hervor und spielte die Kassette von der markierten Stelle aus ab. Rick hörte erneut das Flüstern des Mädchens, das behauptete, Dr. Sam habe ihm nicht geholfen. Dann erklang Johns weiche, anzügliche Stimme, Rick bemerkte dessen eisige Ruhe, die ihn im Verlauf seiner Unterhaltung mit Dr. Sam jedoch verließ.
Montoya schaltete den Rekorder aus. Eine Wespe flog zum Fenster herein und summte aufgeregt vor der Scheibe. »Ich würde sagen, John hat noch längst nicht aufgehört, Dr. Sam zu schikanieren.«
»Und die Drohungen werden deutlicher.« Beide Aufnahmen hinterließen bei Bentz ein Unbehagen – ein übles Gefühl. Die Wespe machte den Fehler, ihm zu nahe zu kommen, und er schlug ärgerlich nach dem Insekt. Doch er verfehlte es, und die Wespe tanzte auf der verzweifelten Suche nach der Freiheit wütend vor dem trüben Fensterglas.
»Sehr viel deutlicher.« Montoya entdeckte ein Gummiband auf Bentz’ Schreibtisch, er angelte danach, dehnte es und ließ es schnappen. Die Wespe fiel tot zu Boden. »Glaubst du, dass es einen Zusammenhang gibt – zwischen dem Anruf von Annie und dem von John?«
»Könnte sein.« Es musste so sein. Bentz glaubte nicht an einen Zufall. »Es sei denn, der eine hat den anderen ausgelöst – das Mädchen hat Johns Anruf gehört und sich dann selbst einen Telefonstreich ausgedacht.«
»Also weiß sie nur von Annie Seger.«
»Irgendwer weiß von ihr. Es muss kein Mädchen gewesen sein«, widersprach Bentz.
»Gut, und was soll Johns Anspielung, dass Dr. Sam eine Nutte ist? Ergibt das einen Sinn?«
Bentz kaute nachdenklich auf seinem Kaugummi herum. »Das werden wir prüfen. Ich will über jeden einzelnen Tag in Dr. Sams Vergangenheit unterrichtet werden. Wer ist sie, wie ist sie, warum ist sie Radiopsychologin geworden? Ich will alles wissen über ihre Familie, ihre Männerbekanntschaften, über diesen …«, er griff nach einer Akte und überflog seine Notizen, »… diesen David Ross, den Typen, mit dem sie in Mexiko war, und über jeden John, Johnson, Jonathan, jeden Mann, mit dem sie mal zusammen war und der der Anrufer sein könnte.« Das Telefon schrillte. Bentz umfasste den Hörer, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne.
Die Frau, über die sie geredet hatten, die Radiopsychologin höchstpersönlich, erschien im Vorzimmer des Büros. Nach einem kurzen Blick in ihr Gesicht war Bentz bereit zu wetten, dass dieser ohnehin schon schlechte Tag noch schlechter werden würde.