Epilog
Also heißt es: ›Fall erledigt‹«, sagte Montoya beim Eintreten in Bentz’ Büro, wo er sich auf dessen Schreibtischkante setzte. Frisch wie immer, hatte Montoya die Lederjacke an, sein Markenzeichen, eine dunkle Hose und ein weißes T-Shirt. Statt des Kinnbarts trug er jetzt ein Oberlippenbärtchen, statt eines Ohrrings zwei.
Durchs offene Fenster drangen die Nachtgeräusche in das Gebäude, die einsame Melodie eines Saxophonisten, das Summen des Verkehrs, hier und da Gelächter. Es war Nacht in der Innenstadt von New Orleans.
»Ja, bis auf den Umstand, dass wir Kent Segers Leiche nicht gefunden haben.«
»Du meinst, er ist mit dem Leben davongekommen?«
»Trotz der Unmengen von Alligatoren? Nein, auf keinen Fall.« Bentz lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und entnahm der Schublade einen Streifen Kaugummi.
»Du hast mal wieder aufgehört zu rauchen?«
»Vorerst ja.«
»Wahrscheinlich ein Fehler.«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Und was wird jetzt aus Dr. Sam?«
»Nur Gutes«, antwortete Bentz mit einem Grinsen. Er hatte mit Samantha Leeds gesprochen und konnte nur darüber staunen, dass sie den Albtraum heil überstanden hatte. Sie war ein zäher Brocken, und jetzt machte sie Nägel mit Köpfen. »Soviel ich weiß, hat sie eine neue Assistentin und weigert sich standhaft, die Sendung an sieben Tagen pro Woche zu moderieren. George Hannah hat zähneknirschend eingelenkt, er hat Angst, sie ansonsten zu verlieren – zu Recht. Bedeutendere Sender würden Dr. Sam sofort einstellen. Sogar ein Sender im fernen Chicago.«
»Warum bleibt sie dann hier?«
»Einer der Gründe ist Ty Wheeler.« Bentz griff hinter sich, schaltete den Ventilator ein, und heiße Luft durchwehte das Büro.
»Ich dachte, du kannst ihn nicht ausstehen.«
»Stimmt, ich mag ihn nicht. Einer, der seinen Beruf bei der Polizei aufgibt, um Bücher zu schreiben, ist ein Weichei.«
»Oder er ist clever. Du hast ihn und seinen Hund in deinem Auto mitgenommen«, erinnerte Montoya ihn.
»Den Hund kann ich gut leiden.«
Montoya grinste. »Kent Seger war also ein völlig durchgeknallter Mistkerl.«
»Ja, ich habe seine Patientenakte gesehen. Depressionen, Drogenmissbrauch, Gewalttätigkeit.«
»Und was ist mit Ryan Zimmerman?«, wollte Montoya wissen.
Bentz furchte die Stirn. »Wahrscheinlich wird er versuchen, sich mit seiner Frau zu versöhnen, falls er jemals aus dem Krankenhaus rauskommt. Das Ganze war so: Eines Nachts begegnete er Kent in einer Bar – er hatte gerade seine Arbeit verloren und war zu Hause rausgeflogen. Kent war ein alter Freund, das glaubte er zumindest, und Kent hatte Beziehungen, kam billig an alle möglichen Drogen ran. Sie haben sich zusammengetan, und als Ryan high war, hat Kent ihn als Geisel genommen. Hat ihn gefangen gehalten. Hat ihn in seinem Unterschlupf im Sumpf gefoltert.«
»In der Hütte, die Navarrone entdeckt hat.«
»Ja. Wo wir die Trophäen gefunden haben.« Bentz kaute aufgeregt auf seinem Kaugummi herum. Der Anblick des Schmucks war ihm an die Nieren gegangen – von Ohrsteckern über Fußkettchen bis zu einem Medaillon, in dem Fotos von Kent und Annie steckten und das er seiner Schwester wahrscheinlich in der Nacht ihres Todes abgenommen hatte. Nach Bentz’ Meinung hatte Kent Ryans Foto gegen seins ausgetauscht.
»Zimmerman hat übrigens den Drogen abgeschworen, für immer, das behauptet er zumindest. Aber Junkies kann man nicht trauen«, sagte Bentz. »Der Cocktail, den Kent ihm in der Nacht des Mordes an Melanie verabreicht hat, hatte ihm so zugesetzt, dass es für Kent nicht schwer war, ihn reinzulegen. In jener Nacht hat Kent den Sender angerufen und dann Zimmerman auf die Straße gestoßen. Zufällig wurde er überfahren. Das war nicht unbedingt der Plan gewesen. Hätte man ihm im Krankenhaus nicht den Magen ausgepumpt, wäre er jetzt tot.«
»Und Samantha Leeds ebenfalls.«
Bentz kniff die Augenbrauen zusammen. »Sie ist nur knapp dem Tod entronnen.« Er blickte zum offenen Fenster hinaus auf die Lichter der Stadt und dachte daran, wie sich Kent Seger an ihren Sicherheitsvorkehrungen vorbeigemogelt hatte – mit dem einen Schlüssel, den Samantha beim Austausch ihrer Schlösser unbeachtet gelassen hatte, dem Schlüssel zu einer Luke unter der Treppe. Kent brauchte nur unter die Veranda zu kriechen, zu dieser Luke vorzudringen und ins Haus einzusteigen. Kinderleicht.
Montoya lehnte sich gegen den Aktenschrank und kreuzte die Füße. »Und was ist aus Samanthas Bruder geworden? Pete oder Peter oder wie immer er sich nennt? Ich habe zeitweise gedacht, er wäre auch in den Fall verwickelt.«
»Soviel ich weiß, ist er einfach nicht zu packen, wie in den letzten Jahren auch. Ist nicht wieder aufgetaucht. Er hat eine Zeit lang für eine Handyfirma gearbeitet, den Job aber dann geschmissen. Kein Mensch weiß, wo er ist. Weder Sam noch ihr Vater noch die Auskunft.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Vielleicht führt er einfach gern ein zurückgezogenes Leben.«
»Oder er ist ein Junkie.«
»Das sind viele da draußen.« Bentz schaute erneut in die Nacht hinaus. »Ich vermute, dass Samantha und ihr Vater erst wieder von ihm hören, wenn der Leichenbestatter anklopft – wenn überhaupt.«
»Das war’s dann also«, sagte Montoya. »Der Fall ist abgeschlossen.«
»Es bleiben noch ein paar lose Fäden«, gestand Bentz. »Ich würde mich gern noch mit ein paar Personen unterhalten, die plötzlich verschwunden waren, als sich die Leichen häuften. Zimmergenossinnen, Exfreunde, Zuhälter und dergleichen, wenn ich auch glaube, dass die alle sauber sind und nur anderweitig mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Ihre Vergehen sollten wohl nicht unbedingt ans Licht kommen, deshalb war es für sie an der Zeit unterzutauchen.« Er dachte an Marc Duvall, den Zuhälter, und an Cindy Sweet alias Sweet Sin. Früher oder später würde er sie finden. »Aber wir können die Akte ruhig schon schließen.«
»Gut.« Reuben war plötzlich hellwach. »Vielleicht solltest du das mit einem alkoholfreien Bier feiern.«
»Es gibt da ein paar Morde, die wir noch nicht aufgeklärt haben«, frischte Bentz sein Gedächtnis auf. Er warf einen Blick auf den Computermonitor, auf dem die Bilder zweier toter Frauen zu sehen waren, das einer Unbekannten, die verbrannt vor dem Standbild der heiligen Johanna abgelegt worden war, und das von Cathy Adams, der Stripperin, die mit geschorenem Kopf in ihrer Wohnung gefunden worden war.
Fast im gleichen Alter wie seine Tochter. Das einzige Kind, das er großgezogen hatte. Der Gedanke machte ihm noch immer zu schaffen, aber im Grunde lief es doch prima. Sie war ein tolles Mädchen. Was wollte er eigentlich noch mehr?
»Das schaffen wir schon«, sagte Montoya, der niemals auch nur eine Sekunde lang an sich zweifelte.
»Das hoffe ich.« Bentz war nicht so überzeugt. Er hatte das ungute Gefühl im Bauch, dass ein weiterer Serienmörder New Orleans unsicher machte. Noch so ein Perverser mit merkwürdigen Ritualen. Vielleicht sogar mit einem Markenzeichen? Gott, hoffentlich nicht! Vielleicht bestand zwischen den beiden Fällen gar kein Zusammenhang. Und doch … er spürte, dass es einen gab.
Zur Hölle damit. »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich werde heute Abend ganz bestimmt feiern.«
»Tolle Idee«, stimmte Montoya ihm zu.
»Hey, wie spät ist es?« Er schaute auf seine Uhr, eine Rolex-Imitation, ging hinüber zum Aktenschrank und schaltete das Radio ein. Die ersten Akkorde von ›A Hard Day’s Night‹ verklangen, und Samantha Leeds’ erotische Stimme drang aus den Lautsprechern.
»Guten Abend, New Orleans, hier ist Dr. Sam von WSLJ. Ihr hört ›Mitternachtsbeichte‹, und heute Nacht wollen wir über Glück reden …«