27. Kapitel

Das gleiche Muster wie bei den anderen«, sagte Montoya. Er hockte in dem schäbigen Hotelzimmer neben dem Opfer. Wie die früheren auch war sie in Pose gebettet, die Hände wie zum Gebet gefaltet, die Beine gespreizt. »Aber sieh dir das an.« Er deutete auf einen Fleck direkt über der Halsgrube. »Das hier ist anders, eine weitere Druckstelle, als hätte etwas an der Kette gebaumelt … vielleicht ein Medaillon oder ein Glücksbringer oder ein Kreuz. Verstehst du, als wäre sie mit ihrer eigenen Halskette erwürgt worden.«

»Oder mit seiner«, setzte Bentz hinzu, und der Magen wollte sich ihm umdrehen. »Er führt seine eigene Spezialschlinge ja bei sich.«

»Und er hat eine Trophäe mitgenommen. Da, am rechten Ohr – lauter Metall. Ein Ohrring fehlt.«

»Lief das Radio?«

»O ja. WSLJ war eingestellt.«

Bentz warf einen Blick auf den Nachttisch … und entdeckte den Hundertdollarschein mit den geschwärzten Augen. Alles Teil der Handschrift des Perversen. Aber was hatte das zu bedeuten? Warum blendete er Benjamin Franklin? Damit er nicht zuschauen konnte? Damit er, der Täter, nicht erkannt wurde? »Wann ist der Tod eingetreten?«

»Schätzungsweise gegen Mitternacht. Der Leichenbeschauer ist auf dem Weg hierher, der wird uns Genaueres sagen können.« Montoya schnalzte mit der Zunge. »Sie ist jünger als die anderen.«

Sie ist jünger als Kristi, dachte Bentz und biss die Zähne aufeinander. Dieses tote Mädchen, ob sie nun Nutte war oder nicht, war jemandes Kind, jemandes Freundin, wahrscheinlich jemandes Schwester und möglicherweise jemandes Mutter. Seine Kiefer verkrampften sich so sehr, dass es schmerzte. Welches Schwein tat so etwas?

»Sie ist aus der Gegend, ist schon öfter mal aufgegriffen worden.« Er reichte Bentz einen Plastikbeutel mit dem Ausweis des Opfers. »Und schau dir das an …« Durch das Plastik hindurch fächerte Montoya den Führerschein des Mädchens, die Versicherungskarte und ein paar Fotos auf, bis eine abgenutzte Visitenkarte sichtbar wurde. »Das ist es doch, wonach du suchst.«

Es war die bei WSLF übliche Geschäftskarte, und in einer Ecke stand der Name Dr. Samantha Leeds, Moderatorin von ›Mitternachtsbeichte‹, auch bekannt als Dr. Sam.

»Mist«, entfuhr es Bentz mit einem neuerlichen Blick auf die Leiche. Die Leute von der Spurensicherung sammelten Beweismaterial, der Fotograf machte Fotos vom Tatort.

»Du warst so verdammt sicher, dass ein Zusammenhang besteht … Tja, sieht aus, als solltest du Recht behalten«, sagte Montoya. »Irgendwoher kannte das Mädchen die Radiopsychologin.«

Was keine gute Nachricht war. Bentz feilte an einer Theorie, von der er noch nicht wusste, ob sie hieb- und stichfest war, doch sie erschien ihm immer plausibler. Was wäre, wenn der Mörder seine Opfer nicht mehr wahllos aussuchte, wenn er sich in seinen Wahn hineinsteigerte, immer häufiger zuschlug, was wäre, wenn er sich seinem eigentlichen Ziel näherte … wenn alles darauf hinauslief, dass er Samantha Leeds töten wollte?

Das entsprach zwar nicht dem üblichen Ablauf, aber dieser Fall war ja auch keiner von der üblichen Sorte. Der Kerl verteilte keine Hinweise an Polizei und Presse, er versuchte nicht, einen gewissen Ruhm zu ernten. Es ging ihm um die Anrufe bei Dr. Sam … Bentz betrachtete den Kranz von kleinen Schnittwunden am Hals des Opfers und hatte das Gefühl, dass die Abstände zwischen den einzelnen Stellen eine Bedeutung hatten, eine Bedeutung, die er eigentlich verstehen sollte.

»Hast du nicht gesagt, eine Hotelangestellte hätte den Kerl gesehen?«

»Ja.« Montoya machte Platz für den Fotografen. »Sie hält sich im Moment im Hotelbüro auf.« Er klappte ein kleines Notizbuch auf. »Sie heißt Lucretia Jones, arbeitet hier seit etwa neun Monaten und hat dem Beamten, der als Erster am Tatort war, schon ihre Aussage zu Protokoll gegeben. Ich habe sie gebeten, sich zur Verfügung zu halten, weil ich mir gedacht habe, dass du mit ihr reden willst.«

Bentz nickte. »Sonst noch was?«

»Wir haben das Original seiner Anmeldung in diesem Hotel. Er hat mit John Fathers unterschrieben.«

»Hat er eine Adresse angegeben?«

»Ja, eine in Houston.«

Bentz schaute Montoya skeptisch an. »Hat das jemand überprüft?«

»Eine Fantasieadresse. Die Straße war schon richtig – die Straße, in der Annie Seger gewohnt hat –, aber die angegebene Nummer gibt es dort nicht.« Montoya und Bentz sahen einander bedeutungsvoll an. Sie traten hinaus auf den Flur, wo ein paar neugierige Gaffer die Hälse reckten. »Würde sagen, die Adresse ist ein weiteres verdammt klares Bindeglied.«

Ausnahmsweise freute sich Bentz nicht sonderlich darüber, dass sich sein Gefühl im Bauch als zutreffend erwiesen hatte. »Musste John Fathers denn nicht seinen Führerschein vorlegen oder sich sonst wie ausweisen?«

»Anscheinend nicht. Hat einfach im Voraus bezahlt – mit einem Hundertdollarschein für ein Zimmer, das neunundvierzig Dollar kostet. Kein Gepäck. Das ist im Grunde nichts Besonderes für ein Hotel wie dieses. Es ist hier wohl so üblich – die Typen gabeln eine Nutte auf und buchen ein Zimmer. Da werden keine Fragen gestellt.« Vor dem Aufzug blieben sie stehen. Montoya drückte den Knopf.

»Diese Angestellte wartet also im Büro?«, versicherte sich Bentz.

Montoya nickte.

»Dann wollen wir mal sehen, was sie zu erzählen hat.«

Die Aufzugtüren öffneten sich, und sie stiegen in die enge Kabine, die sie in das einstmals bedeutend elegantere Foyer entließ. Jetzt konnte man es bestenfalls als schäbig bezeichnen. Der Kronleuchter, ein Souvenir an bessere Zeiten, war verstaubt, viele Glühbirnen waren durchgebrannt, die Kübelpflanzen bei der Tür ließen die Blätter hängen, der Teppich war abgenutzt, in einer Ecke stand ein vergessener Staubsauger. Was vor achtzig Jahren herrschaftlich gewesen war, wirkte nun regelrecht heruntergekommen, ein muffiges, dunkles Loch mit einem Rezeptionstisch, der bestimmt schon ein, wenn nicht zwei Jahrhunderte auf dem Buckel hatte.

Zwei Frauen in schwarzen Röcken und Blazern mit weißen Blusen darunter arbeiteten hinter dem Tisch und blickten auf Computermonitoren, die in dem alten Gebäude fehl am Platz erschienen. Ein korpulenter Kerl, vielleicht der Hotelpage oder Portier, schlürfte an der Tür zu einem Hinterzimmer seinen Kaffee. Bentz zeigte seine Dienstmarke, erklärte, was er wolle, und die größere von den beiden Frauen winkte Montoya und Bentz hinter den Tresen. »Lucretia ist da hinten«, sagte die Rezeptionistin. »Aber sie hat schon mit einem von den Polizisten gesprochen.«

»Es dauert nur ein paar Minuten«, beteuerte Bentz.

Die Frau führte ihn und Montoya einen kurzen Flur entlang zu einem hell erleuchteten Zimmer, in dem ein Computer summte. Ein von Kaffeeflecken verunstalteter Tisch stand mitten im Raum, ein altes Sofa war in der Nähe von Mikrowelle und Kühlschrank an eine Wand gerückt worden. Ein spindeldürres schwarzes Mädchen saß auf dem Sitzmöbel und trank eine Dose Cola light. Seine Augen, ohnehin schon groß, waren weit aufgerissen, als hätte es Angst, und schienen aus den Höhlen treten zu wollen. Das Haar hatte es zu hunderten von winzigen Zöpfchen geflochten, die im Nacken zusammengebunden waren.

Als die drei eintraten, erhob es sich, und die Rezeptionistin stellte sie einander vor. Bentz forderte das Mädchen auf, wieder auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich selbst auf einen Klappstuhl. Montoya blieb an der Tür stehen.

»Sie hatten letzte Nacht Dienst?«, fragte Bentz, und das Mädchen nickte rasch.

»Ja.«

»Und Sie haben den Gast registriert, der das Zimmer gebucht hat, in dem das Mordopfer gefunden wurde?«

»Mhm, ich … hm, ich hab dem anderen Beamten schon die Karte gegeben, die er ausgefüllt hat.«

Aus den Augenwinkeln sah Bentz Montoya kaum merklich nicken, zur Bestätigung, dass die Polizei die Registrierkarte bereits an sich genommen hatte.

»Sie haben sich den Kerl also genau angeschaut, als er sich gestern eingetragen hat?«, erkundigte sich Bentz.

»Ja.« Lucretia nickte erneut, sodass ihr kleiner Kopf unter der Last des üppigen Haars hüpfte.

»Was können Sie mir über ihn sagen?«

»Was ich dem anderen Bullen – äh, Beamten – auch schon gesagt habe. Er war schätzungsweise dreißig Jahre alt, groß und kräftig – nicht dick, aber … er sah stark aus, als würde er Gewichte heben oder so, ein Weißer mit sehr dunklen Haaren – fast schwarz, und … er trug eine Sonnenbrille, ganz dunkel, was irgendwie komisch war, aber … na ja …« Sie zuckte mit den schmalen Schultern, als wäre ihr längst nichts mehr fremd.

»Sonst noch was?«

»O ja. Mir ist aufgefallen, dass sein Gesicht zerkratzt war, als hätte ihm jemand alle fünf Fingernägel über die Wange gezogen.«

»Wissen Sie vielleicht noch, was er anhatte?«

»Schwarz – er war ganz in Schwarz. Ein schwarzes T-Shirt und schwarze Jeans und ein Ledermantel, was ich irgendwie komisch fand, weil es doch so heiß ist, aber er trug ja auch diese Sonnenbrille. Jedenfalls … ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch.«

»Inwiefern komisch?«

Sie wandte den Blick ab. »Er hatte so etwas an sich, etwas … Ach, das hört sich blöd an, aber er kam mir irgendwie gefährlich vor, aber irgendwie auch cool. Er ging sehr aufrecht und wirkte selbstbewusst, als wüsste er genau, was er tat. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Ich war nervös, wahrscheinlich wegen der Sonnenbrille, aber er hat gelächelt, und das war kein kaltes Lächeln, sondern richtig nett. Strahlend. Beruhigend.« Sie betrachtete die halb leere Coladose in ihrer Hand. »Ich hätte mich auf meinen Instinkt verlassen sollen.«

Das arme Mädchen hatte Schuldgefühle, weil sie einen Mörder eingelassen hatte. »Sie können uns jetzt helfen, Lucretia«, sagte Bentz und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Schenkel gelegt, die Hände zwischen den Knien gefaltet. Er schaute sie eindringlich an. »Ich möchte, dass sie mit aufs Revier kommen und den Mann unserem Polizeizeichner beschreiben. Er porträtiert den Kerl, und das Bild wird dann per Computer aufgearbeitet, damit es echter aussieht. Es würde uns wirklich sehr helfen.«

Sie blinzelte. »Klar. Wie Sie meinen.«

»Gut.« Bentz spürte einen Adrenalinstoß. Er rückte dem Kerl auf den Pelz, spürte, dass er ihn einkreiste – und hoffte inständig, dass er den Schweinehund stellen konnte, bevor er erneut zuschlug.

 

Estelle Faraday war alt geworden. Die vergangenen neun Jahre im Zusammenspiel mit ihrem Schmerz und dem exzessiven Tennisspiel unter der erbarmungslosen Sonne von Houston hatten sie der Vitalität beraubt, die Ty in Erinnerung hatte. Sie hatte ihn aufgefordert, draußen in einem Rattansessel Platz zu nehmen, unter dem Dach, das ihre Veranda beschattete. Über seinem Kopf drehten sich Ventilatoren, zwei Stufen tiefer dehnte sich ein Swimmingpool bis zu dem hinter Stauden verborgenen Grenzzaun aus. Eine Skulptur der Jungfrau Maria mit ausgebreiteten Armen stand zwischen Terrakottakübeln voller Petunien, deren rosafarben-weiße Blüten leuchtende Farbtupfer bildeten. Ein Dienstmädchen hatte Eistee und Zitronenkekse gebracht und war dann durch eine Glastür in dem riesigen, zweistöckigen, stuckverzierten Haus verschwunden.

»Du verstehst sicher«, sagte Estelle, und die Diamanten in ihrem breiten Armreif blitzten, »dass ich mich lediglich bereit erklärt habe, mich mit dir zu treffen, um dich zu bitten, das Buch über meine Tochter nicht zu schreiben.« Die Linien um ihren Mund vertieften sich. »Es würde nur noch mehr Schmerz und Demütigung über die Familie bringen, und ich persönlich bin der Meinung, wir haben genug gelitten.«

»Ich finde, es ist an der Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt.«

»Erspar mir das, Tyler!« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Hier geht es nicht um die Wahrheit, das weißt du genau. Es geht dir um Geld – um einen widerwärtigen Schundroman, nein, ich muss mich korrigieren, um die widerwärtige Dokumentation eines Verbrechens. Du und dein schmutziger Agent, ihr sucht doch nur den Nervenkitzel. Du willst aus der Tragödie deiner eigenen Familie Profit ziehen, also spiel dich nicht so auf mit deinen falschen hehren Ansprüchen. Du bist nicht hier, um die Wahrheit herauszufinden, sondern nur, um deine Brieftasche voll zu stopfen. Ich bin sicher, Wally steckt mit dir unter einer Decke. Als meine Tochter noch lebte, hatte er keinen Blick für sie übrig. Ich musste ihn vor Gericht bringen, damit er den mickrigen Unterhalt zahlte. Wally ist bloß auf schnelles Geld aus.«

»Wenn du meinst.«

»Wir wissen es beide.«

Ty ließ sich von ihr nicht aus der Ruhe bringen. Er hatte gewusst, dass ihn hier kein Mondscheinspaziergang erwartete. »Man könnte fast glauben, du willst gar nicht wissen, was Annie und ihrem Kind wirklich zugestoßen ist. Deinem Enkelkind.«

Ein Schatten flog über ihr Gesicht, und sie wandte den Blick ab, heftete ihn auf die glatte, ruhige Wasseroberfläche des Pools. »Es ist egal«, flüsterte sie heiser. »Sie sind beide tot, Tyler.«

»Ich glaube, dass Annie ermordet wurde.«

»O Gott.« Sie schüttelte den Kopf. »Darüber wurde immer schon gemunkelt, aber das ist natürlich Unsinn. Es war nun mal so: Annie war sehr verwirrt. Hatte zu viel Angst, um sich an mich zu wenden.« Ihre Stimme brach, und ihr Kinn zitterte ein wenig. »Damit werde ich leben müssen, weißt du? Dass meine eigene Tochter bei jemand anderem Hilfe suchte, bei einer Radiopsychologin, die vermutlich nicht mal einen Doktortitel hat …« Estelle öffnete und schloss die Faust und grub die manikürten Fingernägel in ihre Handfläche. »Sie hat diese … diese Moderatorin angerufen, statt sich mir anzuvertrauen.«

»Ich verstehe, dass das schwer ist.«

»Schwer? Schwer?« Sie schaute ihn wieder an, aus ihren Augen loderten Hass und Selbstverachtung. »Das ist nicht schwer, Ty. Schwer ist es, eine Scheidung durchzustehen und von Kirche und Familie ausgegrenzt zu werden. Schwer ist es zuzusehen, wie die Eltern dahinsiechen und sterben, schwer ist es, sich um ein Kind zu kümmern, dem der desinteressierte Vater das Herz gebrochen hat. Annies Selbstmord war nicht schwer. Das war die Hölle!«

»Falls sie ermordet wurde – willst du dann nicht wenigstens, dass der Mörder gestellt und seiner gerechten Strafe zugeführt wird?«

»Sie ist nicht ermordet worden.«

»Ich habe Beweise …«

»Ich kenne all diese Theorien, von wegen Gras oder Erde auf dem Teppich und der Rosenschere und … und … die Art und Weise, wie sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hat … Das sagt nichts … Nichts! Bitte, Tyler, tu’s nicht, um Gottes willen, füge der Familie nicht noch mehr Schmerz zu.« Trotz ihres perfekten Make-ups und der teuren weißen Tenniskleidung sah sie plötzlich sehr alt aus, und eine Sekunde lang zweifelte Ty an seiner Mission.

»Wer war der Vater von Annies Kind?«

»Ich weiß es nicht.« Sie presste die Lippen zusammen. »Vermutlich dieser schreckliche Junge, mit dem sie ging – der Drogenabhängige.«

»Nein, Estelle. Die Blutgruppen stimmen nicht überein.«

Zwei kleine Falten erschienen zwischen ihren Brauen. »Dann weiß ich es nicht.«

»Natürlich weißt du’s.«

»Ich sagte dir bereits, dass meine Tochter sich mir nicht anvertraut hat. Vielleicht … vielleicht hat sie es dieser Frau im Radio erzählt.«

»Nein. Du weißt es. War dein Mann der Vater?«

Ihr Gesicht wurde aschfahl, sie rang nach Luft. »Nein …«

»Dein Sohn?«

»Hast du den Verstand verloren? Das hier ist mein Haus, du hast kein Recht –«

»Traf sie sich mit einem anderen Mann?«

»Ich warne dich. Wenn du glaubst, du könntest den Namen meiner Tochter in den Schmutz treten, ihren Ruf beflecken und vernichten, was von der Würde dieser Familie noch übrig ist, dann wirst du es bereuen.«

»Ich will nur die Wahrheit wissen.«

»Nein, du willst die Tatsachen verdrehen, um ein Buch zu verkaufen.« Ihre Nasenflügel bebten in hochmütiger Empörung. »Wie edel von dir.«

»Jason hat sich von dir scheiden lassen. Ist fortgezogen. Kent ist zusammengebrochen und musste in eine private psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Ryan ist den Drogen und Depressionen verfallen.«

»All diese schmutzigen kleinen Einzelheiten für einen Schundroman oder einen Film der Woche im Fernsehen! Ich hätte überhaupt nicht mit dir reden, dich niemals in mein Haus lassen sollen«, schnappte sie, und ihre Stimme brach unter der heftigen Gefühlsaufwallung. »Verstehst du denn nicht? Annie ist tot … das Kind ist tot«, sagte Estelle leise. »Daran ist nichts zu ändern. Du willst gar nicht einen Mörder seiner gerechten Strafe zuführen … o nein. Das Einzige, was du erreichst, ist, einer Familie noch mehr Kummer und Schmerz zuzufügen. Also erspar mir deine Erklärungen, denn ich glaube dir kein Wort.« Sie riss sich zusammen, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Glastisch. »Wenn du mit dieser … Hexenjagd fortfährst, werde ich dich gerichtlich daran hindern. Deine Verteidigung wird dich ein Vermögen kosten, über das du meines Wissens nicht verfügst. Kein Verlag wird sich auf dein Projekt einlassen – aus Angst vor einer Klage. Ich habe bereits mit meinem Anwalt gesprochen, und er wird ein Verfahren anstrengen, um die Veröffentlichung zu verhindern. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn du jetzt gehst.«

Jetzt war es an Ty, sich vorzubeugen. Über die zwei unberührten Gläser mit Eistee hinweg entgegnete er: »Du kannst mir drohen, solange du willst, Estelle. Du kannst alle nur erdenklichen Rechtsverdreher anheuern und Tausende von Dollars dafür verschleudern, aber ich gebe nicht auf, ganz gleich, welche Leichen sich in deinem Keller finden. Etwas ist faul an dem angeblichen Selbstmord deiner Tochter, und du weißt es so gut wie ich.« Er stand auf, blickte auf sie hinab und sah, wie sie den Rücken straffte. »Der Unterschied zwischen uns ist, dass ich wissen will, was mit Annie geschehen ist, du aber nicht. Weil du Angst vor der Wahrheit hast. Warum wohl? Was macht dir so schreckliche Angst?«

»Geh«, sagte sie schwach.

»Ich werde es herausbekommen, so oder so.«

»Geh jetzt, oder ich rufe die Polizei«, giftete sie.

»Das glaube ich nicht, Estelle. Ich möchte wetten, dass die Polizei die Letzte ist, die du in diese Sache hereinziehen würdest. Aber es ist zu spät, denn ob es dir passt oder nicht – die Wahrheit über Annies Tod wird ans Licht kommen.«

»Fahr zur Hölle«, sagte sie und stand auf.

Er lächelte freudlos. »Irgendwie habe ich das Gefühl, schon auf dem Weg dorthin zu sein.«