12. Kapitel

Tys Stimme war dunkel und betörend.

Samanthas Gaumen war plötzlich wie ausgetrocknet, und zum ersten Mal in all den Jahren ihrer Radiotätigkeit litt sie an einer Redehemmung. Hitze stieg ihr ins Gesicht, und sie versuchte, sich zu sammeln. »Das wünsche ich dir auch, Ty«, brachte sie schließlich hervor, und ihre Stimme klang belegt. Schnell, bevor sie vollends den Faden verlor, drückte sie eine Taste, schaute auf den Computerbildschirm und sagte: »Hallo, hier spricht Dr. Sam, du bist auf Sendung.«

»Hi, hier ist Terry … Wer war der Typ, mit dem Sie gerade gesprochen haben? Kennen Sie ihn?«

Sam schickte einen strafenden Blick zu Melanie hinüber. Herrgott noch mal, sollte sie nicht die Anrufe vorsortieren? »Hast du eine Frage zum Thema Beziehungen?«

»Und davor, diese Annie … Was war da los?«

Melanie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht. Nun, aus welchem Grund rufst du an?«

»Tja, ich brauche einen Rat, wie ich mit meinem pubertierenden Sohn fertig werden kann.«

»Was ist mit ihm?«

Terry konzentrierte sich endlich auf ihren Sohn, doch schon der nächste Anrufer erkundigte sich ebenfalls nach Annie. Die Kontrolllämpchen hörten nicht auf zu blinken. Immer wieder kamen Fragen nach dem flüsternden Mädchen am Telefon. Dann nahte endlich der Schluss der Sendung. Untermalt von dem Musikstück »Midnight Confessions« verabschiedete sich Sam von den Hörern mit ihrem üblichen Schlusswort: »… Morgen ist auch noch ein Tag. Träumt was Schönes.« Kaum hatte sie ausgesprochen, schaltete sie das Mikrofon ab, riss sich den Kopfhörer von den Ohren und stürmte aus dem Studio in den verglasten Raum, in dem Tiny und Melanie den Papierkram ordneten und die Geräte für die Sendung »Licht aus« einstellten.

»Ich dachte, du siebst die Anrufe!«, giftete sie.

»Genau das habe ich getan. Du hättest mal hören sollen, was hier reinkam.« Melanie warf ihr Headset auf den Schreibtisch. »Ein einziger Albtraum.« Bis auf eine Schreibtischlampe, die bunten Kontrolllämpchen der Apparate und die indirekte Beleuchtung über den Computern und Aufnahmegeräten brannte kein Licht im Technikraum.

»Sie hat Recht.« Tiny kam Melanie zu Hilfe. »Alle wollten nur über Annie reden.«

»Oder über Ty. Etliche Anrufer haben nach ihm gefragt.« Melanie strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. »Ich habe mein Bestes getan, Sam. Es ist manchmal nicht einfach.«

Sam beruhigte sich. Es war schließlich nicht Melanies Schuld, dass die Frau, die vorgab, Annie zu sein, angerufen hatte. »Habt ihr die Gespräche aufgezeichnet?«, wollte Sam wissen.

»Jedes einzelne«, versicherte Tiny und tippte mit zwei Fingern auf ein liniertes Blatt Papier, das auf dem Schreibtisch lag. »Hier ist die Liste. Ich habe jeweils die Telefonnummer und den Namen aufgeschrieben, sofern er angegeben wurde. Ein paar Anrufe kamen natürlich anonym. Wenn die von einer Firma mit privatem Telefoniesystem ausgingen, kann die Caller-ID sie natürlich nicht identifizieren.«

»Was nützt uns dann die Caller-ID?« Empört neigte sich Sam über den Schreibtisch und überflog Tinys Aufstellung.

»Das ist immerhin ein Anfang. Die meisten Nummern haben wir. Hier.« Tiny drehte das Blatt um und rollte dann auf seinem Stuhl hinüber zu den Aufzeichnungsgeräten und Computern, um die Vorbereitungen für die Sendungen der nächsten drei Stunden zu beenden.

Sams Blick wanderte über das in Tinys Doktorschrift bekritzelte Blatt Papier. Wie er gesagt hatte, war jeder einzelne Anruf notiert. Neben den Namen stand meist die entsprechende Telefonnummer und hier und da eine Bemerkung. Samantha fuhr mit dem Finger die Liste entlang, fand den Namen Annie sowie die Nummer und die Standortbeschreibung eines Münztelefons.

Natürlich. Wer immer sich hinter der Anruferin verbarg, sie war schlau genug gewesen, keinen Privatanschluss zu benutzen. »Ich brauche eine Kopie von dieser Liste.«

»Für die Polizei?« Melanie zog den Reißverschluss ihrer Aktentasche zu.

»Ja. Und für mich selbst.«

»Was war denn nun eigentlich los in dieser Sendung?«, fragte Melanie und wies mit dem Daumen in Richtung Studio.

Durchs Fenster fiel das schwache Licht der Straßenlaternen drei Stockwerke tiefer hinein, sodass die Umrisse der Geräte in der Kabine auszumachen waren, außerdem Mikrofone an langen, merkwürdig verbogenen Skelettarmen und das Pult mit seinen Tasten und Schaltern. Irgendwie wirkte die Szene beklemmend. Bedrohlich. Aber das war lächerlich, rief sich Sam sofort zur Ordnung.

Melanie riss Sam aus ihren Gedanken. »Komm schon, Sam, wer ist diese Annie? Sie tat so, als würde sie dich kennen, und du bist ja völlig ausgeflippt.«

»Spul das Band zurück. Bis zu dem Moment, als sie sich meldete. Bevor du sie mit mir verbunden hast.«

»Aber –«

»Ich hab’s«, mischte sich Tiny ein. »Momentchen … Da ist es …«

Eine Frauenstimme sagte nach Melanies Begrüßung: »Hier ist Annie. Ich möchte mit Dr. Sam über meine Schwiegermutter reden. Sie mischt sich in meine Ehe ein.«

»Warten Sie. Es dauert nicht lange«, versicherte Melanie, und dann folgte der geflüsterte vorwurfsvolle Text.

Sam bekam erneut eine Gänsehaut.

Tiny hielt die Aufzeichnung an und warf einen Blick über die Schulter auf Sam, um zu sehen, wie sie reagierte. »Wer ist sie?«

»Ich weiß nicht, wer diese Anruferin in Wirklichkeit ist. Ich weiß aber, dass sie nicht Annie Seger ist.« Wer würde anrufen und sich als Annie Seger ausgeben, und wer hatte ein Interesse daran, die alte Tragödie wieder ans Licht zu zerren? »Allerdings – das klingt jetzt eigenartig, aber ich meine, ihre Stimme schon mal gehört zu haben. Nur klang sie da etwas anders …« Sie schloss die Augen. Wer würde dir so etwas antun? Was soll dieser grausame Scherz? Melanie und Tiny schauten sie gespannt an, und sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht zuordnen. Im Moment noch nicht. Aber ich finde es heraus.« Ihr war eiskalt, und sie rieb sich die Arme. »Es war ein makabrer Scherz.«

»Noch einer. Wie die Anrufe von diesem John«, bemerkte Tiny.

»O nein, das hier ist anders«, widersprach Sam und dachte zurück an diese grauenhaften einsamen Nächte, als Annie Seger sie beim Sender in Houston angerufen hatte, als die Hörerzahlen der Sendung in die Höhe geschnellt waren, als Dr. Sams Name in aller Munde gewesen war und als ein schwangeres junges Mädchen schließlich Selbstmord begangen hatte. Hatte sie, Sam, nachlässig gehandelt? Hatte sie die Lage falsch eingeschätzt? Hatte es Hinweise darauf gegeben, dass Annie selbstmordgefährdet war? Wie oft waren ihr all diese Fragen schon durch den Kopf gegangen. Wie viele Nächte lang hatte sie wach gelegen, die verzweifelten Anrufe im Geiste noch einmal abgespult, gespürt, wie sich Schuldgefühle über sie legten wie ein Leichentuch. Und wie oft hatte sie sich gefragt, ob sie irgendetwas hätte tun können, um dem Mädchen zu helfen.

»Natürlich ist es anders. Diesmal war es eine Frau, die anrief.« Melanies Blick wanderte von Sam zu Tiny, der mit konzentriert gefurchter Stirn die Lautstärke der aufgezeichneten Sendung einstellte.

Dann fiel Sam ein, dass Melanie die Geschichte ja gar nicht kannte, dass sie in der Kabine gewesen war, als sie Tiny von Annie Seger erzählt hatte.

»Die Frau hat sich als ein Mädchen ausgegeben, das vor Jahren in Sams Sendung angerufen hat. Damals hat Sam noch in Houston gearbeitet. Die Kleine hat sich dann umgebracht«, erklärte Tiny, als wollte er sichergehen, dass er alles richtig verstanden hatte.

»Was?« Melanie wich entsetzt zurück. »Umgebracht? Aber … O Gott, das ist krank!«

»Mehr als krank.« Tiny verschränkte die Arme vor der Brust.

»Meine Spezialität«, erinnerte Sam, die sich langsam wieder gefasst hatte, ihre Kollegen. »Vergesst nicht, ich bin Seelenklempnerin.«

Das Telefon klingelte, und alle zuckten zusammen. Leitung zwei blinkte ungeduldig. »Ich gehe ran. Das ist wahrscheinlich Eleanor.« Sam drückte die Mithörtaste. »Hi, hier ist Samantha.«

»Gut, dass ich dich an der Strippe habe.«

Sie erstarrte. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. »Wer spricht da?«, fragte sie, obwohl sie die weiche Stimme auf Anhieb erkannt hatte. John. Er lauerte irgendwo da draußen. Er hatte also seinen Terror keineswegs eingestellt. Ließ sich lediglich Zeit. Wartete ab, bis sie sich beruhigt hatte, um sie dann wieder aufzuscheuchen.

»Treib keine Spielchen mit mir, Samantha. Du weißt, wer ich bin.«

»Du bist derjenige, der Spielchen treibt.«

»Ach ja? Mag sein. Haben wir denn nicht viel Spaß?«

Sam hätte am liebsten den Hörer aufgeknallt, doch sie durfte die Verbindung jetzt nicht unterbrechen, nicht, wenn sie diesen Widerling schnappen wollte. Während sie weiterredete, machte sie Tiny aufgeregt Zeichen und deutete auf den Rekorder. »Als Spaß würde ich das nicht bezeichnen, John«, sagte sie und hoffte, dass Tiny und Melanie rechtzeitig dafür sorgten, dass alles aufgenommen wurde. »Das ist ganz und gar kein Spaß.«

»Ich habe heute deine Sendung gehört.«

Plötzlich aktiv geworden, drückte Tiny die maßgeblichen Tasten und nickte Sam rasch zu. Der Rekorder begann mit der Aufzeichnung. Melanie starrte wie hypnotisiert auf das Telefon.

»Aber du hast nicht angerufen.«

»Ich rufe jetzt an«, antwortete er mit seiner wohlklingenden Stimme.

Hatte sie diese Stimme schon einmal woanders gehört? Oder hatte er sie angerufen, ohne sich als John vorzustellen? War er jemand, den sie kannte? Denk nach, Sam, denk nach! Dieser Kerl tut so, als wäre er dir schon mal begegnet …

»Ich wollte mit dir allein reden. Was wir zu besprechen haben, ist ganz persönlich.«

»Ich weiß nicht mal, wer du bist.«

Sein Lachen klang dunkel und hallte durch den Raum.

Melanie biss sich auf die Unterlippe. Hinter den Brillengläsern traten Tinys Augen beinahe aus den Höhlen.

Die Kabine erschien Sam eng und düster, die Töne, die aus dem Lautsprecher drangen, waren bedrohlich. Schweiß prickelte auf ihrer Kopfhaut.

»Aber natürlich weißt du, wer ich bin, Frau Doktor, du erinnerst dich bloß nicht. Kannst du immer noch nicht zwei und zwei zusammenzählen? Trotz deines Titels und so weiter …«

»Was willst du von mir?«, fragte sie, sank auf einen Stuhl und starrte den Lautsprecher an, als könnte sie ihn dazu zwingen, ein Bild des Mannes hervorzubringen. »Warum rufst du mich an?« Sie konnte kaum klar denken, doch sie wusste, dass sie ihn in der Leitung halten musste. Aus einem Becher auf dem Schreibtisch nahm sie einen Kuli, drehte Tinys Liste um, kritzelte rasch eine Notiz darauf – Ruft die Polizei – und schob sie Melanie zu.

»Weil ich dich kenne, wie du wirklich bist, Samantha. Ich weiß, dass du eine heißblütige Fotze bist. Scheinheilig. Dieser Titel, auf den du so stolz bist, ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist.« Er steigerte sich in Wut hinein, seine wohltönende Stimme klang aufgeregt. »Frauen wie du müssen bestraft werden.« Seine Worte flossen immer schneller aus dem Lautsprecher, und Melanie eilte aus dem Raum und ins Studio nebenan. Durch die Scheibe sah Sam, wie sie das Licht einschaltete und den Kopfhörer aufsetzte. Melanie blickte über die Schulter zu ihnen herüber, nickte, drückte die Taste einer freien Leitung, wählte hastig und nickte Sam und Tiny erneut zu. Das Lämpchen für Leitung drei begann zu blinken.

Animier ihn zum Reden, Sam. Vielleicht unterläuft ihm ein Fehler. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, den Anruf zurückzuverfolgen.

»Du bist eine Hure, Dr. Sam«, warf John ihr vor. »Eine Nutte für fünfzig Dollar pro Stunde!«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Versuche, ruhig zu bleiben. Halt ihn in der Leitung, verdammt. Finde mehr über ihn heraus, damit die Polizei Anhaltspunkte bekommt. Ihr Herz raste.

»Alles liegt in deiner Vergangenheit, Dr. Sam, in deiner Vergangenheit, die du vor der Welt verbirgst. Aber ich weiß alles. Ich war dabei. Ich erinnere mich an die Zeit, als du dich auf der Straße verkauft hast. Du bist eine Nutte – eine falsche Schlange –, und du wirst bezahlen. Der Lohn der Sünde ist der Tod«, erinnerte er sie kalt. »Und du wirst sterben. Schon sehr bald wirst du sterben.«

Sam schluckte ihre Angst hinunter, ihre Finger krampften sich um den Kuli in ihrer Hand. Wer ist er? Warum ist er so wütend? Was soll das heißen, er war dabei? Wobei, zum Kuckuck? »Warum drohst du mir, John? Was habe ich dir getan?«

»Weißt du’s nicht mehr? Erinnerst du dich nicht?« Er brüllte beinahe.

Annies Worte, etwas früher am Abend: »Erinnern Sie sich nicht an mich?«

»Nein. Warum sagst du’s mir nicht? Wo haben wir uns kennen gelernt?«, fragte sie, und seltsamerweise klang ihre Stimme fest, obwohl sie kaum Luft holen konnte. Ihre Haut glühte, innerlich aber war ihr eiskalt.

John sagte kein Wort. Das war sogar noch unheimlicher, als wenn er sie anschrie. Zu wissen, dass er in der Leitung war, lauschte, war entsetzlich. Sam fing Melanies Blick hinter dem Glasfenster auf. Sie redete und nickte, sie gestikulierte, als könnten die Polizeibeamten sie durch die Leitung hindurch sehen.

»John, bist du noch da?«

»Hast du die Lautsprecher eingeschaltet?«, raunzte er plötzlich. »Es hallt in der Leitung.«

»Hör zu, John, sag mir, warum du mich anrufst …« Das Telefon klingelte laut, und Leitung vier blinkte ungeduldig. Sam achtete nicht darauf. »Was genau willst du von mir?«

»Du hast die Lautsprecher eingeschaltet, du verlogene Fotze. Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein persönliches Gespräch führen will.«

»Es ist ein persönliches Gespräch, glaub mir. Los, John, sag mir, was du von mir willst.«

»Vergeltung«, sagte er. »Ich will dich auf den Knien sehen. Ich will, dass du um Vergebung bettelst.«

»Wofür?«

Doch die Leitung war plötzlich tot. Als hätte er den eingehenden Anruf gehört und Angst bekommen. »Verdammt«, fluchte Sam, innerlich zitternd. Lass dir das nicht gefallen. Lass nicht zu, dass er dir zu nahe tritt. Aber sein Hass, seine Wut auf sie waren derart Furcht erregend, dass sie sich schwach und verwundbar fühlte. Sie war der Situation nicht gewachsen.

»Ich habe alles auf Band«, bemerkte Tiny, als sie die Taste für Leitung vier drückte.

»WSLJ

»Sam, bist du das? Was zum Teufel ist bei euch los? Du solltest mich zurückrufen«, bellte Eleanors Stimme aus dem Lautsprecher. »Ist alles in Ordnung?«

»Alles bestens.«

»Das war eine merkwürdige Sache heute Nacht«, fuhr Eleanor fort. »Ich war fassungslos, als das Mädchen am Telefon sagte, sie sei Annie Seger.« Eleanor hielt inne und holte tief Luft. »Sam, sag mir, dass es dir gut geht.«

»Das habe ich doch bereits gesagt.«

»Ja, aber ich weiß doch, was damals passiert ist und wie dich die Sache mitgenommen hat, ich war schließlich dabei.«

Sam war es unangenehm, dass Tiny das gesamte Gespräch mithörte, wahrscheinlich sogar mitschnitt, deshalb fiel sie Eleanor ins Wort. »Hör zu, wir alle sind todmüde, lass uns jetzt nicht ins Detail gehen. Ich komme morgen früher zur Arbeit, dann können wir reden. Es gibt auch noch andere Dinge, die wir besprechen müssen.«

»Andere Dinge?« Eleanor stutzte vernehmbar.

»Der Kerl, der sich John nennt, hat nach der Sendung wieder angerufen. Ich habe gerade erst den Hörer aufgelegt.«

»Nach der Sendung? Was soll das alles?«

»Ich weiß es nicht, aber es war schon das zweite Mal, dass er sich nach der Sendung gemeldet hat. Beim ersten Mal sagte er, er habe zu tun gehabt und was passiert sei, sei meine Schuld. Und heute hat er gesagt, er wolle ein persönliches Gespräch. Er wurde regelrecht wütend, als er merkte, dass ich die Lautsprecher eingeschaltet hatte, und dann drohte er mir.«

»Das gefällt mir nicht, Sam. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Mir auch nicht.«

»Wir müssen noch einmal die Polizei rufen.«

»Das hat Melanie gerade erledigt.« Sie blickte durch die Scheibe und sah Melanie nicken und noch immer gestikulieren, während sie ins Mikrofon sprach. »Wir haben alles im Griff.«

»Dass ich nicht lache! Die Sache geht zu weit, hörst du? Entschieden zu weit! Also, ich will nicht, dass einer von euch heute Nacht allein das Gebäude verlässt, okay? Geht in der Gruppe zum Parkhaus. Oder du nimmst ein Taxi. Hast du mich verstanden?«

»Klar und deutlich«, sagte Sam. Im Nebenraum legte Melanie den Hörer auf.

»Es ist mein Ernst, Sam. Diese Geschichte ist mir unheimlich.«

»Und mir erst.«

»Sag den Beamten, sie sollen sich beeilen und den Mistkerl endlich schnappen, sonst kriegen sie es mit mir zu tun.«

»Sie werden zittern vor Angst.«

»Hey, ich habe keine Zeit für Scherze. Das Ganze ist ernst.«

»Ich weiß, Eleanor.«

»Gut. Und morgen gehen wir der Sache auf den Grund. Wir alle. Tiny, Melanie und du, ihr kommt um ein Uhr mittags in mein Büro.« Sie stieß hörbar den Atem aus. »Heilige Mutter Gottes! Pass auf dich auf. Wir sehen uns morgen.«

»Wir sind pünktlich bei dir«, versprach Sam und legte auf. Im selben Moment stürmte Melanie in den Raum.

»Die Polizei ist auf dem Weg hierher.« Sie warf einen Blick auf das Telefon. »Hat er noch irgendwas gesagt?«

»Der Typ ist ein Irrer«, sagte Tiny. »Es war echt sonderbar. Das heißt, mehr als sonderbar.«

»Da hast du Recht.«

Tiny rieb sich sorgenvoll den Nacken und fügte hinzu: »Ich gehe am besten nach unten und nehme die Bullen in Empfang.« Er angelte sich seine Jacke und seinen Rucksack und kramte auf dem Weg zur Tür hinaus darin nach seinen Camels.

»Und was jetzt?«, fragte Melanie.

»Wir warten auf die Polizei.«

»Das ist mir klar. Aber ich glaube nicht, dass die irgendwas unternehmen kann.«

Sam reagierte nicht darauf. Sie war nicht bereit, ihrer eigenen Befürchtung nachzugeben, dass John es irgendwie schaffte, der Polizei zu entkommen. »Hoffen wir, dass sie den Kerl schnappen, und zwar bald.«

»Und wenn nicht?«, konterte Melanie.

Sam antwortete nicht. Wollte nicht darüber nachdenken, doch die Drohungen des Anrufers hallten in ihrem Kopf nach, so deutlich, als flüsterte er sie in ihr Ohr.

Der Lohn der Sünde ist der Tod. Und du wirst sterben. Schon sehr bald wirst du sterben.

 

Er schwitzte.

Das Blut rauschte in seinen Ohren. Die Nacht war heiß und feucht.

Während er rasch die Telefonzelle an der St. Charles Avenue verließ, kreisten seine Gedanken um das Telefongespräch. Er lief verkehrswidrig zwischen den geparkten Autos hindurch, überquerte die Straßenbahngleise und eilte an den Universitäten vorbei – Tulane und Loyola, Seite an Seite gelegene, zu Ehren der allmächtigen Wissenschaft errichtete Gebäude, die im trüben Licht der Sicherheitsscheinwerfer wie Trutzburgen wirkten. Als er die Bauwerke betrachtete, spürte er ein Prickeln auf der Haut. Er konnte den süßen verführerischen Geruch junger Intellektueller wahrnehmen. Zu denen er auch einmal gehört hatte.

College.

Philosophie.

Religion.

Wo er die Wahrheit erfahren, wo er seine Mission begriffen hatte. Wo alles angefangen hatte.

Oh, sein Mentor wäre stolz auf ihn.

Ein paar Studenten schlenderten über die ausgedehnte Rasenfläche, redeten, lachten, rauchten, wahrscheinlich Marihuana. Warmes Licht schimmerte in einigen Fenstern, doch das registrierte er kaum. Er duckte sich, tauchte ein in die Schatten, halb laufend, mit klopfendem Herzen. Ihre Worte zuckten wie glühende Gewehrkugeln durch seinen Kopf.

Warum drohst du mir, John? Was habe ich dir getan?

Sie erinnerte sich nicht.

Entsann sich nicht des Grauens, das sein Leben verändert hatte – sein Leben ruiniert hatte.

Wut kochte in ihm hoch, und er verfiel in einen Dauerlauf, rannte immer schneller dem Herzen der Stadt, dem Sirenengesang der Bourbon Street entgegen, wo er sich unter die Massen mischen konnte, die stets die Straßen bevölkerten, wo er sich im Gedränge verstecken und ihr doch näher sein konnte.

Was habe ich dir getan?

Bald würde sie es wissen.

Bald würde sie begreifen.

Bevor sie starb, würde dies ihr letzter Gedanke sein.