33. KAPITEL
Am King’s Creek brachte der Winter eine klare und reine Schönheit über das Land. Die Felder lagen abgeerntet und vom Frost gezeichnet da, und entlang dem Wasserlauf hatten Wind und Kälte Schilf sowie Gras alle Farbe entzogen.
Nach einem Zweistundenritt von Albion und einem herrlichen Mahl, das Noahs Witwe Patsy zubereitet hatte, rauchte Jamie jetzt seine Zigarre auf der Veranda vor dem Haus seines Bruders und wartete auf die Abenddämmerung.
Für ihn gehörte dieses Anwesen noch immer Noah, obgleich sein Bruder niemals mehr Pferde trainieren und am Zaun entlangreiten konnte, der den Besitz eingrenzte, oder mit einem der muskelbepackten Zugpferde, welche zur Mitgift seiner Ehefrau gehörten, die Felder umzupflügen vermochte.
Noah würde auch nie mehr den Anblick genießen können, über den Jamie sich jetzt auf seinem Platz auf der Verandatreppe freute: Der hoch aufgeschossene Julius trug das Feuerholz für seine Mutter ins Haus. Zusammen mit dem Jungen hatte er in der vergangenen Woche einen der Schuppen wieder aufgebaut, der von der Eisenbahngesellschaft in Brand gesteckt worden war in dem idiotischen Versuch, die am King’s Creek wohnenden Menschen einzuschüchtern. Du wärst jetzt sehr stolz auf deinen Sohn, Noah, dachte Jamie.
Er hatte das Buch „Von der Erde zum Mond“ von Jules Verne gelesen, und weil es nun zu dunkel geworden war, zündete er eine Lampe an. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er diesen Roman als unwahrscheinlich abgetan, doch jetzt, dank Abigail Cabots wilder Vorstellungskraft und ihrer exakten Wissenschaft, schien ihm diese seltsame Geschichte von Mitgliedern eines Schießklubs, die eine Reise zum Mond planten, durchaus nicht mehr so weit hergeholt. Die Vorstellung, mittels einer Kanone in den Weltraum geschossen zu werden, hatte fraglos etwas für sich.
Alles erinnerte ihn an Abigail. Im Wind, der durch die kahlen Bäume fuhr, hörte er sie seinen Namen flüstern. Der indigoblaue Himmel in der Abenddämmerung war von der Farbe ihrer Augen. Der Geruch des Winters weckte Erinnerungen, die nicht nur schmerzten, sondern ihn fast umbrachten.
Das durfte ihm doch nicht passieren - er war schließlich gegen derlei Gefühle taub und unempfindlich! Tatsache blieb jedoch, dass es jetzt in seinem Leben eine Lücke gab, die exakt die Größe eines kleinen Energiebündels hatte; der Frau, die er absichtlich hinausgeworfen hatte.
Patsy wickelte sich in ein Umschlagtuch und kam auf die Veranda heraus. Sie wirkte besorgt und sah nicht mehr so hübsch aus wie vor fünfzehn Jahren, als Noah sie heiratete, doch sie war so stark und so klug wie eine Frau, die harte Zeiten durchgemacht hatte.
„Komm doch herein“, bat sie. „Hier draußen ist es ja eiskalt.“
„Ich komme gleich nach.“ Jamie legte das Buch aus der Hand und holte die Zeitung hervor, die er sich mitgebracht hatte, um sie zu lesen und dann Julius die Neuigkeiten mitzuteilen. Er blätterte zu einem Artikel über die herbstliche Sitzungsperiode des Kongresses und verspürte große Befriedigung, als er die Zusammenfassung zu der Eingabe der Eisenbahngesellschaften las. Die Abstimmung im Senat war unentschieden ausgegangen, Vizepräsident Butler hatte gegen die Vorlage ein unerwartetes Veto eingelegt und dann die Farmer, und nicht die Eisenbahngesellschaften begünstigt.
Beim Überfliegen der weiteren Seiten der „Post“ fiel ihm noch etwas anderes ins Auge: Timothy Doyles Zeichen unter der Überschrift „Gala-Trauung - Senator Cabots Tochter heiratet“.
Ein eisiger Frost, kälter als der Wind von der Bucht her, legte sich über Jamie. Die Zigarre fiel ihm aus den tauben Fingern. Im Haus deckten Julius und Patsy den Abendbrottisch, und Jamie hörte das vertraute Klappern des Geschirrs. Er sagte sich, er sollte zu ihnen gehen und die Überschrift des Artikels vergessen oder wenigstens zugeben, dass sie ihn erfreute.
Diese Heirat war letzten Endes sein Werk. Er hatte praktisch die ganze Geschichte in die richtigen Bahnen gelenkt, und das war ihm sehr gut gelungen. Er hatte Abigail gezeigt, dass sie - wie hatte sie sich doch ausgedrückt? - „ihr bestes Selbst“ sein konnte. Sie war zu einer Frau geworden, die für seinesgleichen viel zu gut war.
Jedenfalls hatte er sich das eingeredet. Allerdings fragte er sich immer wieder, ob das auch stimmte oder ob es nur eine Ausrede war.
„Ich liebe dich, und du liebst mich. Das weiß ich ganz genau“, waren ihre letzten Worte gewesen, und das schmerzte noch immer. Ihretwegen war er ein besserer Mensch, und sie wusste das lange vor ihm. Vielleicht war das der Grund, weshalb ihm ihr Verlust so zusetzte, denn jetzt konnte er sie nicht mehr glücklich machen.
Da er es nicht lassen konnte, in dieser Wunde weiterzubohren, drehte er die Lampe höher und las den Zeitungsartikel:
Über zweihundert Gäste werden zugegen sein bei der Trauung des Senators Troy Barnes aus New York und Miss Helena Mae Cabot aus Georgetown, Tochter des Senators Franklin Rush Cabot...
Jamie musste diese Bekanntmachung zweimal lesen, ehe er seinen Augen traute. Der Zeitungsartikel drehte sich ja um Helena Cabot, nicht um Abigail!
Jamie hörte sein eigenes Herz pochen, vernahm das Zischen der Gaslampe, das pfeifende Geräusch, das der Wind in den Schilfhalmen entlang dem Creek machte. Die Hochzeitsfeier war die von Helena, nicht die von Abigail!
Als Nachsatz wurde in dem Artikel noch erwähnt, dass die zweite Tochter des Senators kürzlich einen Kometen entdeckt hatte und dass alle großen Observatorien in Europa und die beiden in Amerika darüber informiert wurden.
Miss Cabots Komet wird während der kommenden drei Wochen mit dem bloßen Auge zu sehen sein ...
Jamie löschte die Lampe. Mit aller Macht zog es ihn von dem Haus fort. Er wandte dem goldenen Viereck des erleuchteten Küchenfensters den Rücken. Die Dunkelheit hatte gerade eingesetzt, und die ersten Sterne glitzerten am klaren Dezemberhimmel. Jamie fand den Stern namens Wega, der für ihn ein Bezugspunkt war, und suchte das Umfeld nach dem Kometen ab. Minuten vergingen wie Stunden, und er hatte nur eine vage Vorstellung von dem, wonach er Ausschau hielt. War es das gelbliche Blinken dort, oder der weiße halbmondförmige Strahlenkranz dort? Als seine Augen schon tränten und er einen steifen Hals hatte, entdeckte er endlich ein unscharfes bläuliches Glühen.
„Ist er das, Abby?“ fragte er laut. „Ist das dein Komet?“ Ob er ihn gefunden hatte oder nicht, war unwichtig; wichtig war nur, dass Abby ihn wie vorausgesagt entdeckt hatte.
Jamie stand da, lächelte wie ein Idiot, und sein Herz quoll über vor Freude. „Miss Cabots Komet“, flüsterte er, doch dann verschwand das Lachen. Miss Cabot, nicht Mrs. Butler?
Die Fragen überschlugen sich in seinem Kopf. Was war geschehen? Weshalb hatte sie Butler nicht geheiratet? Mit dem sollte sie doch besser dran sein. Das war doch der Sinn der ganzen Sache gewesen, nicht wahr? Vielleicht jedoch ...
Die Tür von Noahs Haus wurde ungeduldig aufgerissen. „Kommst du nun herein und holst dir ein Stück meines frischen Kuchens ab?“ schrie Patsy heraus.
„Es ist etwas dazwischengekommen“, rief Jamie ebenso laut zurück. „Ich muss gehen!“
„Es ist doch stockdunkel, du Narr!“
„Ich nehme mir eine Laterne mit.“
„Du kannst doch nicht..."
„Ich muss!“ Er lief schon zu seinem Pferd. „Dies kann nicht warten.“