26. KAPITEL

Abigail floh in die Damentoilette und fragte sich, weshalb sie sich eigentlich nicht besser amüsierte. Der Druck, den die Menge auf sie ausgeübt hatte, hing noch an ihr wie ein schweres Parfüm, obgleich sie den Waschraum hier für sich allein hatte. Ihre Stellung in der Gesellschaft war noch ungewohnt für sie, und vor Aufregung schwindelte ihr so sehr, dass sie sich eben über nichts zu amüsieren vermochte. Schwindelgefühle, die aus einer Aufregung entstanden, waren nicht notwendigerweise angenehme Empfindungen.

Sie überlegte sich, ob es ihr Gewand zerdrücken würde, wenn sie sich auf eines der gepolsterten Bänkchen setzte. Das würde sie zu gern tun, denn ihr war, als hätte sie schon stundenlang gestanden, und ihr missgestalteter Fuß schmerzte fürchterlich.

Sie warf einen raschen Blick zur Tür, beschloss dann, die Knitterfalten zu riskieren, und sank dankbar seufzend auf die niedrige Bank. Mit geschlossenen Augen ließ sie den Abend noch einmal an sich vorüberziehen - von ihrem großen Auftritt mit Leutnant Butler, dessen Eltern sowie ihrem Vater bis hin zu der grauslichen Demonstration im Haifischbecken.

Es war nicht ganz pannenfrei abgegangen; das hatte sie auch nicht erwartet. Auf dieser Marmortreppe hätte sie auf ihre Füße achten müssen, doch sie hatte wieder einmal Jamie Calhoun gebraucht, um ihren Sturz zu verhindern. Und jetzt konnte sie nicht wieder dort hinausgehen, noch nicht. Nicht, solange sie noch diese Tuscheleien im Ohr hatte.

Diese Bemerkungen hätte sie gar nicht hören sollen, doch sie wusste ganz genau, dass sie hier das Ziel der Spekulationen und der Kritik war. Sie hatte jemanden sagen hören, Leutnant Butler heirate sie nur ihres Vermögens und ihres Vaters wegen.

Aber von solchen spitzen Bemerkungen wollte sie sich auf keinen Fall ihre Glückseligkeit trüben lassen. Sie war schließlich jetzt nicht mehr das unbeholfene Mauerblümchen, das sich durch Nancy Wilkes’ Hochzeitsempfang gequält hatte. Seit jenem demütigenden Vorfall war sie von dem niesenden, reizlosen Fleck auf der weißen Weste ihres Vaters zu der Verlobten des begehrtesten Junggesellen Amerikas aufgestiegen.

Das Dumme war nur, dass ihr nicht klar gewesen war, wie viel Zeit und Energie es kostete, anmutig und bezaubernd zu sein.

Einer der irritierendsten Aspekte des Abends war natürlich James Calhoun. Äußerst genau und wachsam beobachtete er jede ihrer Bewegungen, und zwar nicht, weil ihm etwas an ihr liegen würde; nein, sie war nur der Gegenstand eines gemeinen gesellschaftlichen Experiments, welches ein Mann durchführte, den es köstlich amüsierte, das scheinheilige Verhalten der High Society zu beobachten.

Doch genau wie ein Himmelskörper unweigerlich von der Schwerkraft eines größeren angezogen wird, vermochte auch sie sich dem nicht zu widersetzen. Sie mahnte sich, dass die Anziehungskraft, die stets dann in der Luft lag, wenn sie und Jamie zusammentrafen, nichts weiter als eine Illusion war.

Sie warf einen Blick in den Spiegel. Genau so wie die hübsche, bezaubernde Lady, die ihr entgegenschaute, nur eine Illusion war, so war auch seine auf sie gerichtete Aufmerksamkeit eine Täuschung, ebenso ärgerlich wie der Spezialschuh, den sie an ihrem missgebildeten Fuß trug.

Zu ihrer Bestürzung öffnete sich die Tür zum Waschraum, und ein Wirbelwind in Seide platzte herein. Erleichtert stellte sie fest, dass es sich um ihre Schwester handelte.

„Das hättest du sehen sollen, Abigail!" rief Helena und blieb vor dem goldgerahmten Spiegel stehen, der eine ganze Wand des Raums bedeckte.

„Was hätte ich sehen ...?“

„Seine Miene war einfach zu köstlich!“

„Wessen Miene?“

„Jamie Calhouns! Endlich erhalten wir einen Hinweis auf seine rätselhafte Vergangenheit und das berühmte Geheimnis, das er uns so lange vorenthielt!“ Helena brachte eine ihrer kupferfarbenen Locken wieder in Ordnung.

Abigail blickte das Spiegelbild ihrer Schwester finster an. „Was für eine Vergangenheit? Welches Geheimnis?“

„Ah, dann hast du es also noch nicht gehört. Du warst ja so beschäftigt mit all der Pracht und Herrlichkeit. Du wirst mir fehlen, Abigail“, fügte sie sehnsüchtig seufzend hinzu. „Ich freue mich natürlich für dich, doch wir beide haben uns als Schwesternpaar immer so wohl gefühlt, bis Leutnant But...“

„Also, wovon sprichst du eigentlich?“ Abigail verlor langsam die Geduld bei Helenas Redefluss.

„Nun, von Jamie Calhoun.“

Fürchterliche Panik ergriff sie. Sie sprang von der Bank auf und fasste ihre Schwester beim Arm. „Was ist mit ihm? Ist Jamie etwas zugestoßen?“

Helena blickte überrascht auf Abigails Hand, die sie umklammerte. „Ich ahnte ja gar nicht, dass du dich so leidenschaftlich um ihn sorgst.“

Sofort ließ Abigail ihre Schwester los. „Das tue ich ganz gewiss nicht. Doch was ist geschehen? Hat er sich irgendwie verletzt?“ Obwohl es Jamie vor einem Moment noch recht gut zu gehen schien, dachte sich ihr Geist eine ganze Reihe von Schrecken aus - vom Reitunfall bis zur Kneipenschlägerei.

„Es sieht so aus, als hätte unser Mr. Calhoun eine geheime Vergangenheit, und die ist heute Abend ans Licht gekommen.“

„Ach ja?“ Abigail dachte an jene Nacht, in der sie Caroline Fortenay vor Begeisterung stöhnend in Jamies Armen vorgefunden hatte. Gab es etwa noch einen Zeugen für diesen Vorfall? Lieber Himmel, möglicherweise hatte Horace Riordan Jamie zum Duell gefordert!

„Es war ja so dramatisch!“ erzählte Helena weiter und drehte sich dabei hin und her, um sich von jeder Seite bewundern zu können. „Hereinspaziert kommt also diese fremdländische, einfach wundervolle Prinzessin mit ihrem Ehegatten, der direkt aus Tausendundeiner Nacht entsprungen wäre, wenn er auch noch ein Krummschwert getragen hätte. Als sie Jamie sah, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen.“

„Wer ist fast in Ohnmacht gefallen?“

„Na, die Prinzessin. Ich kann dir sagen, sie keuchte, als würde sie ertrinken. Sie flüsterte etwas in einer fremden Sprache, und dann äußerte sie etwas höchst Merkwürdiges; in perfektem Internatsenglisch sagte sie: ,Ich dachte, du seist tot.“ Da wurde allen klar, dass Mr. Calhoun eine recht bewegte Vergangenheit gehabt haben musste. Sogar von weitem sah ich, dass nicht nur eine oberflächliche Freundschaft die beiden verband. Die Luft kochte richtig vor Leidenschaft. Mr. Doyle meinte, Jamie sollte seinerzeit hingerichtet werden und sei in letzter Minute mit seinem nackten Leben geflohen. Stell dir nur vor, Abigail - das muss ja wohl die wildeste Romanze aller Zeiten gewesen sein!“

Abigail sagte sich, dass Jamie selbstverständlich eine Vergangenheit hatte; er war schließlich nicht einfach vom Himmel gefallen. Und natürlich hatte er eine Menge erlebt. Doch niemals hätte sie sich vorgestellt, es könnte sich um eine Liebesaffäre mit einer ausländischen Prinzessin gehandelt haben.

Sie ging zur Tür, wobei sie nicht allzu sehr zu humpeln versuchte. „Nun, mit Sicherheit geht mich Mr. Calhouns romantische Vorgeschichte nichts an. Und jetzt wartet Leutnant Butler.“

 

Abigail bemühte sich, so zu tun, als interessierte Jamies aufregende Vergangenheit sie nicht, doch sobald sie in die vergoldete Halle getreten war, suchte sie nach der Prinzessin. Es war unmöglich, die adelige Dame und den Fürsten zu übersehen, denn die beiden wirkten ungeheuer exotisch, wenn auch seltsam altmodisch und steif, während sie den anderen Gästen vorgestellt wurden.

Die Prinzessin trug ein fantastisches Gewand aus blauer Seide, das sie wie ein Geheimnis zu umhüllen schien. Pumphosen aus dem gleichen Stoff lugten unter dem Gewand hervor, und goldener Schleierstoff lag um ihre Schultern. Sie hatte Schmuck in der Nase, schwarz umrandete Augen und scharlachroten Lack auf den Fingernägeln. Abigail fand sie wunderschön, obwohl sie etwas Hypnotisierendes gleich einer Kobra an sich hatte.

Hoffentlich merkt man mir meine Furcht nicht an, dachte sie, als Boyd sie den hohen Gästen vorstellte, und sank in einen eingeübten Hofknicks. Die Prinzessin murmelte nicht mehr als einen höflich klingenden Gruß, und der Fürst nickte ihr hoheitsvoll zu; er hielt sich dabei so gerade wie ein Ladestock und zeigte die militärische Haltung eines wesentlich Jüngeren.

Jamie war nirgends zu sehen. Das war wieder einmal typisch für ihn - zu verschwinden, wenn sie eine Spur von seiner Größe und Wichtigkeit entdeckte!

Das hohe Paar bewegte sich weiter, um mehr Gäste zu begrüßen. Boyd und ihr Vater hielten Schritt mit den beiden und gingen hinter ihnen her, als wären sie ein Teil ihres Gefolges. Abigail blieb zurück.

Sie blieb jedoch nicht lange allein. Nancy Wilkes, deren hübsches Gesicht strahlte, umarmte sie leicht. „Abigail, meine Liebe, ich habe dich seit meiner Hochzeit nicht mehr gesehen! Wer hätte gedacht, dass es mehr ist als ein Partyspaß, wenn man einen Brautstrauß auffängt? In deinem Fall hat es ja geklappt. In dem Augenblick, da du das Bukett fingst, drehtest du dich um und begegnetest dem Mann deiner Träume. An jenem Abend muss Magie im Spiel gewesen sein!“

Soweit sich Abigail erinnerte, war sie aus dem Saal gelaufen und hatte Jamie Calhoun gesehen, der gerade die Schwester des Präsidenten verführte. Sie wünschte nur, sie könnte glauben, dass tatsächlich Magie am Werk gewesen war. Allerdings wusste sie, dass alles nur auf berechneter Manipulation beruhte.

Sie sollte Jamie möglicherweise dafür dankbar sein, dass er ihr den Schleier des Selbstbetrugs von den Augen gerissen hatte. Weshalb sollte sie an die wahre Liebe glauben? Geschick und Raffinesse hatten sich schließlich als wesentlich zuverlässiger bei ihrer Jagd auf Leutnant Butler erwiesen.

„Wie schön, dir wieder zu begegnen, Nancy. Unsere Gespräche haben mir sehr gefehlt.“

Nancy war eine Musterstudentin auf Miss Blandings College gewesen; sie und Abigail hatten oft zusammen gelernt. Nancys großes Interesse an der Astronomie hatte sie befähigt, Sternkarten zu berechnen und zusammenzustellen.

„Wie kommen deine Beobachtungen voran?“ erkundigte sich Abigail, hakte sich bei der Freundin ein und schlenderte mit ihr im großen Saal des Aquariums herum.

„Welche Beobachtungen?“

„Die der Sterne natürlich. Du hast dich doch nach dem College immer noch brennend für die Astronomie interessiert.“

„Ja schon, doch um ehrlich zu sein - ich hatte keinen Moment Zeit, um etwas aufzuzeichnen. Den Himmelsatlas, den du uns zur Hochzeit schenktest, habe ich mir noch nicht einmal angesehen. Ich hatte einfach zu viel zu tun. An den Nachthimmel habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gedacht.“

Abigail war bestürzt und vermochte sich das kaum vorzustellen. Was, um alles in der Welt, konnte eine Person derartig beanspruchen, dass sie den Blick zu den Sternen vergaß?

„Weshalb nicht?“ wollte sie wissen.

Etwas Rätselhaftes verdunkelte Nancys Lächeln. „Die Ehe verlagert die Prioritäten einer Frau. Das wirst du auch schon bald genug feststellen. Eine verheiratete Dame darf sich nicht über Astralprojektionen oder Meteoritenschauer den Kopf zerbrechen.“

„Weshalb nicht?“ wiederholte Abigail ihre Frage.

„Wer hätte denn dafür Zeit?“ Nancy senkte die Stimme zu einem Flüstern hinab. „Glaube mir, nachts kann ich meine Zeit anders verwenden, und tagsüber muss ich mich um den gesellschaftlichen Terminkalender und um Aufzeichnungen der politischen Pflichten meines Gatten kümmern. Und selbstverständlich werden dann auch Kinder kommen, ehe man sich versieht...“

Abigail konnte sich überhaupt nicht vorstellen, keine Zeit mehr für ihre Studien zu haben. Sie entschuldigte sich und gesellte sich zu Boyd, der gerade die ausgestellten Piranhas vom Amazonas besichtigte.

Unterdessen war Jamie am anderen Ende des Saals wieder aufgetaucht und stand nun im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit; Doyle und Joseph Pulitzer von der „Post“ drängten sich in seine Nähe, während er sich mit den ausländischen Besuchern unterhielt.

Abigails Puls schlug schneller, als Boyd sich lächelnd zu ihr umdrehte, und sie vergaß ihre Neugier wegen Jamie. „Nancy Wilkes erzählte mir eben merkwürdige Dinge. Sie befasst sich nicht mehr mit Astronomie, weil sie zu beschäftigt mit ihrer Ehe ist. Werden Sie mich ebenfalls derartig beschäftigen, wenn wir verheiratet sind?“

„Das hoffe ich doch“, antwortete er. „Ich jedenfalls habe es vor.“

Unwillkürlich seufzte sie auf, und dann fragte sie ganz leise: „Meinen Sie, ich werde dann noch in der Lage sein, meine Arbeit auf dem Gebiet der Astronomie fortzusetzen?“

Er streichelte ihre Hand. „Falls Sie darauf bestehen, sollen Sie so viel Zeit haben, wie Sie wollen. Allerdings fände ich es sehr schade, wenn Sie diese Zeit darauf verwenden, die Sterne zu betrachten, zumal sich doch alles, was Sie sich jemals wünschen können, hier auf der Erde befindet.“

 

Jamie wusste nicht, wer ihn beobachtete, als er Layla und deren Gatten gegenüberstand, und es kümmerte ihn auch nicht. Die Jahre und die Entfernungen schienen sich aufzulösen, und er erinnerte sich, wie er die Prinzessin das letzte Mal gesehen hatte: Schreckensstarr hatte sie dagestanden, während er von der Palastwache ihres Vaters davongeschleift wurde. Er entsann sich, wie er immer wieder ihren Namen geschrien hatte, bis man ihn am Ende bewusstlos schlug.

War Layla bei seinem Anblick zuerst schockiert gewesen, so verwandelte sich ihre Bestürzung jetzt in Freude.

Jamie redete weiter, als wäre nichts geschehen. „Wunder gibt es immer wieder! Dass ich Euer Gnaden noch einmal wieder sehen würde, hätte ich nie gedacht.“

Der Übersetzer des Fürsten wiederholte diesen Satz leise auf Arabisch, denn anders als Layla sprach Abdul Ali Pascha nicht englisch.

„Ihr erklärtet immer, Ihr wolltet einmal Amerika besuchen“, sagte Jamie zu Layla. „Und nun seid Ihr endlich hier.“ Er neigte sich so dicht zu der Prinzessin, dass deren stämmiger Diener schon unruhig wurde, und flüsterte: „Wie viele Männer musstest du denn umbringen, um herzukommen, hm?“

Die Worte erschreckten Layla offenbar, denn ihr stockte hörbar der Atem - ein Geräusch, an das sich Jamie noch von ihren Liebesspielen erinnerte.

„Was, zum Teufel, macht Ihr hier?“ wollte er von ihr wissen.

Mit einem Handzeichen bedeutete sie ihrem Diener, ein wenig zurückzuweichen. „Ich bin Teil einer ausländischen Delegation. Doch dein Land ist mir sehr fremd. In deiner Welt habe ich keinen Platz.“

„Dann solltet Ihr in Eure eigene Welt zurückkehren.“

Er spürte, dass ihr Blick seinen Zorn zu durchdringen versuchte, und er hörte sie flüstern, als wären sie beide allein in ihrem Schlafzimmer.

„Jamie, ich träume noch immer von dir.“

Da warf er den Kopf in den Nacken und lachte laut. „Ich ebenfalls, Euer Gnaden, doch ich bin kein Freund von Albträumen!“