32 KAPITEL

Nach dieser Nacht kehrte Jamie Calhoun nicht mehr in die Dumbarton Street zurück, und Abigail merkte, wie sich ein gebrochenes Herz anfühlte. Mit reiner Willensstärke schleppte sie sich durch den Tag, und niemandem schien aufzufallen, wie still und wie in sich gekehrt sie geworden war. Niemand schien zu erkennen, dass sie hinter der äußerlichen Heiterkeit nur ihren angeschlagenen Geist versteckte.

Vielleicht hatte Jamie sie gar nicht lehren wollen, sich auch unter unerträglichem Schmerz gerade aufzurichten, doch er hatte ihr gezeigt, dass das Erscheinungsbild alles bedeutete und dass die Illusion ein mächtiges Werkzeug war.

Das machte sie sich eines Morgens beim Frühstück zu Nutze, als sie sich spät wie immer zu ihrem Vater und ihrer Schwester gesellte.

„Du verbringst offensichtlich immer mehr Zeit mit deiner Kometenjagd“, bemerkte der Senator, legte seine „Post“ zur Seite, erhob sich und half ihr, sich zu setzen.

„Ich glaube immer, ich würde bald einen sehen.“

„Deine Geduld ist bewundernswert“, meinte er und schenkte ihr den Morgentee ein. Abigail dankte ihm und genoss seinen warmen Blick.

Dieses neue Band der Zuneigung zwischen ihr und ihrem Vater füllte jetzt die jahrelange Leere aus, doch es war ein bitter-süßer Sieg, denn dafür musste sie eine Liebe opfern, die sie zu spät entdeckt hatte. Trotzdem lernte sie die Vorteile der ungezwungenen Unterhaltung mit ihrem Vater schätzen, und er seinerseits lernte, mehr von sich zu geben. Er erzählte Geschichten und Anekdoten aus seiner Zeit als Freier und der nachfolgenden Ehe mit ihrer Mutter, und es verblüffte ihn, wie sehr seine Töchter diese kleinen Einblicke in die Vergangenheit liebten. Neuerdings zog er die morgendliche Frühstücks- oder die abendliche Portwein-Stunde in die Länge, weil ihn seine Töchter mehr interessierten als seine Pflichten.

„Helena“, erkundigte er sich, „möchtest du noch Kaffee oder Tee trinken?“

„Wie bitte?“ Sie war in Gedanken weit weg. „Ach so - nein danke, Papa.“

Helena schien sich ebenfalls verändert zu haben. Sie lächelte weniger und sang kaum noch; sie plante und bewegte sich nüchtern und zweckmäßig durch jeden Tag.

„Geht es dir auch wirklich gut?“ fragte Abigail, die sich um ihre Schwester sorgte.

„Aber ja doch“, lautete deren Antwort, obwohl ihre muntere Stimme recht gezwungen klang. „Ich bin nur ... mit meinen Hochzeitsplänen beschäftigt.“

„Und du willst ganz bestimmt Senator Barnes heiraten?“ Ihr Vater beobachtete sie genau. „Deine Schwester stimmte aus den falschen Gründen einer Hochzeit zu, und ich fürchte, dir könnte es ebenso ergehen.“

Helena streichelte seine Hand. „Mach dir deswegen keine Sorgen, Papa. Ich habe gewählt, und ich bin mit der Wahl zufrieden. Du kannst stolz auf mich sein.“ Ihr strahlendes, wunderschönes Lächeln überdeckte fast ihre Traurigkeit. „Ich habe endlich gelernt, die Jugendsünden hinter mir zu lassen.“

Das schien Franklin Cabot zu beruhigen, denn er nahm seine Zeitung wieder zur Hand. Nach ein paar Momenten runzelte er die Stirn und räusperte sich.

„Schlechte Nachrichten?“ erkundigte sich Abigail.

„Brandstifter setzten drei Schuppen und ein Wohnhaus am King’s Creek in Flammen.“

„Oh Gott - wurde jemand verletzt?“

Der Senator überflog die Zeitungsspalte. „Offenbar nicht. Die betreffenden Bewohner waren gewarnt worden, und den Brandstifter konnte man fassen. Gerüchteweise wird gemunkelt, hinter dem Verbrechen stecke eine Eisenbahngesellschaft. Die diesbezüglichen Ermittlungen dauern noch an.“

 

Nacht für Nacht, wenn alle schliefen, stieg Abigail zu ihrem Observatorium hinauf und setzte ihre einsame Suche fort. Immer widmete sie die Zeit dem Nachdenken und dem Versuch, sich einen neuen Traum der Glückseligkeit zu erschaffen - jetzt, da ihr die alten Träume zwischen den Fingern zerronnen waren. Ständig durchsuchte sie ihre Erinnerung nach der kleinsten Einzelheit dessen, was sie über Jamie wusste.

Hatte sie ihn jemals wirklich gekannt? War er tatsächlich der schneidige und romantische Mann, der einst um die Welt reiste und sich in eine Märchenprinzessin verliebte? Oder war er der weltverdrossene Politiker, der die Leute benutzte und wieder fortwarf, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten?

Sie wollte glauben, dass sein Zynismus nur gespielt war, um den Kern seiner edlen Denkungsart und sein Herz zu verbergen, das sich noch immer daran erinnerte, wie man liebte. Doch jetzt war er fort, und sie würde es nie erfahren. Sie wusste nur, dass sie eine andere Person war, weil sie ihn, wenn auch nur für kurze Zeit, gekannt hatte.

„Weshalb sagt man wohl, man sei in Liebe ,entbrannt“? Wenn man wirklich ,entbrannt1 wäre, würde man es merken. Man würde nämlich weinen.“ Das waren seine Worte gewesen, und sie hatten Abigail noch lange verfolgt nach dem Abend, an dem sie sich begegneten. Das war die erste Lektion, die er ihr erteilte, und die letzte, die sie jetzt gelernt hatte. Nun kannte sie seine Liebe, die so leuchtete wie der hellste Stern - und einen Betrug, der düsterer war als die schwärzeste Leere im gesamten Weltraum.

Doch Liebe und Betrug besitzen eine ganz eigene Erhabenheit, dachte sie, als sie in einer kalten Dezembernacht frierend auf dem Dach saß. Jamie hatte sie gelehrt, dass sie niemals ihre Glückseligkeit darin finden würde, es anderen Menschen recht zu machen, solange sie nicht auch ihre eigenen Gaben kannte und nutzte. Wie einfach das Leben doch geworden war, seit sie nicht mehr versuchte, immer das zu tun, was man von ihr erwartete, sondern sich stattdessen nur nach ihrem eigenen Willen richtete ...

Trotz ihres gebrochenen Herzens bezog sie große Kraft aus der Erinnerung an ihre Liebe zu Jamie. Mehr denn je konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit. Mit strengster Genauigkeit trug sie die Ergebnisse ihrer Himmelssuche in die Sternkarten ein, doch nun wusste sie, wo sie nach der Magie suchen musste, und sei es mitten in einer mathematischen Kalkulation.

Deshalb stieg sie auch jede Nacht aufs Dach und saß allein in der Kälte mit ihrem in den Himmel gerichteten Teleskop, einen Himmelsatlas auf dem Schoß und ihre Sternkarte stets griffbereit.

Der Winterhimmel begünstigte ihre Untersuchungen, doch ein ständiger Kopfschmerz dämpfte ihre Lebensgeister, und nach einer Weile glaubte sie, dass es für sie überhaupt keinen Kometen zu entdecken gab. Sie sollte nach den vielen Jahren endlich aufgeben und sich eine nützlichere Beschäftigung suchen, statt nach Sternen zu jagen. Trotzdem drängte sie eine große Macht, immer wieder aufs Dach zu kommen. Abigail vermochte einfach nicht fortzubleiben, selbst nicht in einer so kalten Nacht wie dieser.

Plötzlich entdeckte sie in dem Sektor, den sie gerade untersuchte, ein Glitzern, das rasch hinter einer Wolke verschwand. Abigail erschreckte derart, dass sie fast ihre ganze Ausrüstung umgeworfen hätte vor lauter Hast, die Koordinaten abzulesen. Eine innere Erregung, die sie durchlief wie ein Fieber, erfasste sie. Sie musste sich zwingen, still zu sitzen.

Wenige Minuten vor Mitternacht kam ein leichter Wind auf, fegte die Wolken fort, und das Glimmen zeigte sich erneut. Jetzt je- doch strahlte es so hell, dass Abigail dieses unscharfe Leuchten mit bloßem Auge erkennen konnte - ein verschwommenes Leuchtfeuer. Sie blinzelte, weil sie befürchtete, ihre Augen würden sie trügen. Zuerst glaubte sie, sie sähe möglicherweise einen Asteroiden, doch dort war es, ein etwas verschwommenes, nebliges Objekt ohne Schweif, das sich in entgegengesetzter Richtung zur Erde und dann außerhalb des irdischen Orbits bewegte.

Ihr Komet!

Der Kometenkern war so durchsichtig, dass man durch ihn hindurch die Sterne sehen konnte, was noch zu der Großartigkeit des Objekts beitrug, welches auf einer dünnen, schmalen Flammenspur zu reiten schien. Die Schönheit dieses Himmelskörpers erfüllte all ihre Sinne. Das Herz schmerzte in der Brust, und sie musste sich mahnen, Luft zu holen. Beinahe vergaß sie, Zeit und Position aufzuschreiben, doch dann fing sie sich wieder, und Abigail notierte rasch die Informationen, ohne indes den Blick von dem himmlischen Wunder zu wenden.

Ihr Komet... Sie hatte sich immer vorgestellt, dass sie vor Aufregung laut schreien würde, wenn sie ihn zu Gesicht bekäme, statt- dessen jedoch legte sich nun eine ehrfurchtsvolle Stille über sie, die sie demütig machte und stärkte. Heute Nacht war ein Komet über den Himmel gezogen, und sie hatte ihn als Erste gesehen!

Obwohl sie ganz allein war, fühlte sie sich geradezu überwältigend wohl, so lebendig wie noch nie, so vollkommen beseligt.

„Oh Mama, ich hab’s geschafft“, flüsterte sie und überraschte sich selbst mit ihren Worten. „Ich habe einen Kometen gefunden!“

Sie verspürte das dringende Bedürfnis, die Treppe hinunterzulaufen, an Jamies Tür zu hämmern und es ihm zu berichten. Doch er war ja nicht mehr da. Ein Schatten legte sich über ihren Triumph. Jamie war ihr bester Freund, der einzige Mensch, der ihre einsamen Nachtwachen zu verstehen schien. Nun war er fort, und sie wusste nicht, ob sie ihn jemals wieder sehen würde.

Tränen liefen ihr übers Gesicht, und heftiges Schluchzen schüttelte sie. Ungehalten wischte sie sich die Wangen trocken, damit nicht noch das Okular nass wurde, doch lange Zeit vermochte sie nicht mit dem Weinen aufzuhören. Der Sturm der Gefühle riss sie mit sich wie eine brandende Woge.

Sie schalt sich und fragte sich streng, ob Edmond Halley wohl auch wie ein Kind geweint hatte, nachdem er die Eigenbewegung der Fixsterne korrekt formulierte? Hatte Maria Mitchell wegen ihres Kometen geweint? Gewiss nicht.

Abigail konzentrierte sich auf das Praktische. Sie hatte soeben eine ungewöhnliche wissenschaftliche Entdeckung gemacht. Sie würde das übliche Telegramm an die Astronomische Gesellschaft senden und darin von der Sichtung berichten. Demnächst würde man ihre Entdeckung bestätigen, doch Abigail wusste ja auch so, was sie gesehen hatte. Wissenschaftliche Magazine und die Volkspresse würden darüber schreiben, und bald würden auch gewöhnliche Menschen den Fund entdecken. Möglicherweise schaute ja auch Jamie eines Nachts einmal zum Himmel hinauf und sah dann ihren Kometen. Man würde ihr zu Ehren eine Goldmedaille prägen. Werde ich auch einmal so berühmt wie Professor Mitchell? fragte sie sich. Bekannt zu werden interessierte sie nicht, doch den Ruhm für die Entdeckung wollte sie schon in Anspruch nehmen.

Der Nachtwind kühlte die Tränen auf ihrem Gesicht. Abigail lehnte sich zurück und schaute in den Himmel. Wie stets, gingen ihr auch jetzt Gedanken an Jamie durch den Kopf. Sie hatte immer geglaubt, die Zeit heilte ein gebrochenes Herz. Jetzt wusste sie, dass der Schmerz mit jedem Tag tiefer ging.

Dieser Gedanke gab ihrer Entdeckung einen bitter-süßen Nachgeschmack. Doch das ist schon in Ordnung so, sagte sie sich. Hätte sie nicht den Preis ihres Herzens gezahlt, würde ihr dieses Geschenk nun möglicherweise gar nicht gehören. Sie war die erste

Person auf Erden, die diesen Kometen gesehen hatte, und der Schmerz in ihrem Herzen machte ihre Ehrfurcht umso größer.

„Ich habe ihn gefunden“, flüsterte sie der Nacht, den Sternen und dem Wind zu.

„Komet Beatrice Cabot“, sagte sie laut und ließ den Namen auf der Zunge zergehen, den sie zu Ehren ihrer Mutter gewählt hatte.