„Da soll mich doch gleich - sie haben es getan, ja?“ fragte Jamie am nächsten Tag, als sie zu Albions Zuchtfarm aufbrachen. Er deutete auf Helena und Professor Rowan, die nebeneinander gingen, sich hin und wieder an den Händen berührten und so taten, als hörten sie Jeffries, dem Zuchtmeister, zu, der von den Blutlinien reinrassiger Rösser sprach.
Abigail zwang sich dazu, den kleinen Mann anzuschauen und seinen ernsthaften Ausführungen zu lauschen. „Ich habe keine Ahnung, wovon hier die Rede ist“, gestand sie.
Jamie lachte leise, und es klang beinahe wie Liebesgeflüster. Der warme Geruch von Hafer und Pferden zog durch die Stallungen, während Jeff ries die Besucher durch einen langen, von Boxen flankierten Mittelgang führte.
„Dann will ich etwas deutlicher werden.“ Jamie beugte sich herunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Obgleich Abigail Derartiges noch nie gehört hatte, hatte sie keine Zweifel daran, was es bedeutete.
„Hören Sie auf!“ Sie stieß ihn von sich fort. „Sie sind unglaublich grob.“
„Das kann man wohl sagen. Ich bin tatsächlich grob.“
„Und dass Sie meiner Schwester vorwerfen, sie ..."
„Ich werfe ihr gar nichts vor. Im Übrigen bestätigten Ihre geröteten Wangen nur meinen Verdacht.“
„Ich erröte nur, weil mich Ihre widerlichen Andeutungen und Ihre Ausdrucksweise beleidigen.“
„Beleidigt sollten Sie nicht sein, doch erröten Sie nur weiter. Das kleidet Sie ungemein.“
„Versuchen Sie nicht, mich mit unaufrichtigen Schmeicheleien durcheinander zu bringen!“
„Mein liebes Kind, selbst eine Schmeißfliege könnte sie durcheinander bringen. Das mag ich ja gerade an Ihnen, Abby. Sie bemerken einfach alles.“
Abigail wusste nicht, ob das ein Kompliment sein sollte, doch glücklicherweise brauchte sie auch nichts zu erwidern, denn sie erreichten das Ende der Stallungen und traten in den Kutschhof hinaus.
Bester Laune und mit ihrem Vater an seiner Seite fuhr der ältere Mr. Calhoun in einem kleinen offenen Pferdewagen vor. Sie hielten unweit der Eichen, die sich von dem Spätherbsthimmel abhoben. Vater sieht heute großartig aus, dachte Abigail. Mit seinem Tweedanzug und den hohen Stiefeln ähnelte er einem Landedelmann. Er schien den Besuch zu genießen, und sein Vergnügen an Jamies Heimstatt bereitete ihr heimliche Freude.
„Hallo, Vater. Hallo, Mr. Calhoun!“ rief sie. „Wir haben gerade Ihre Zuchtfarm bewundert. Sie müssen sehr stolz darauf sein.“ „Das bin ich in der Tat, Miss Cabot.“
„Hallo, Abigail. Helena!“ rief Vater. „Komm doch zu uns in den Wagen. Du wirst ja von dem vielen Herumlaufen zu müde.“ Abigail fühlte Jamies Blick, doch sie achtete nicht weiter darauf. Der Senator widmete selbstverständlich Helena mehr Aufmerksamkeit und sorgte sich mehr um sie. Das war schon immer so gewesen, und es war auch richtig so. Abigail verursachte keinen Arger, sie war berechenbar und einfach zu handhaben. Helena war nichts dergleichen.
„Wir kommen schon, Papa.“ Helena hakte sich bei Professor Rowan ein. „Guten Morgen, Mr. Calhoun.“
Jamies Vater war von Helena ebenso hingerissen wie der Rest der Welt, was man ihm deutlich ansah, als sie ihn mit ihrem strahlenden Lächeln bedachte. Professor Rowan half ihr auf den Pferdewagen und nahm den Platz neben ihr ein.
In ihrem geschlitzten Reitrock sah Helena so fesch und so ländlich aus wie ihr Vater. Sie hatte darauf bestanden, dass die Schwester ebenfalls einen geschlitzten Rock trüge, den sie in einer alten Zederntruhe im Gästezimmer gefunden hatte, doch Abigail hatte geschworen, sie benötige keine Reitausstattung; aus persönlichen Gründen ziehe sie Kleidung vor, welche die Füße einer Frau nicht zeigte. Doch wie jedermann auf der Welt tat sie am Ende, was Helena wollte. Zum Glück reichte der Saum des geschlitzten Rocks bis auf den Boden und verbarg ihre Schuhe.
„Miss Abigail und ich werden unseren Rundgang zu Fuß fortsetzen.“ Jamie streichelte die samtweiche Nase des Kutschpferdes. „Dann braucht der arme Lord Byron auch nicht so viel zu ziehen.“
„Wie ihr wollt.“ Charles schlug mit den Zügeln. „Wir werden das Oval der Rennmeile inspizieren.“
Während der kleine Wagen zu der Rennstrecke an der Seeseite fuhr, streichelte Jamie geistesabwesend Abigails Arm und schien dabei gar nicht zu bemerken, dass er sie berührte. Unwillkürlich wurde sie an die vergangene Nacht erinnert.
„Macht Ihr Vater das immer so?“
Sie wich ein Stück zurück. „Was meinen Sie?“
Er schüttelte den Kopf. „Das wissen Sie doch genau. Ich vermute, so geht das schon seit Jahren.“
„Ich verstehe nicht ganz ..."
„Stellen Sie sich nicht dumm. Erstens steht Ihnen das gar nicht, und zweitens weiß es die ganze Welt besser.“
Abigail verzog das Gesicht, ging hinüber zum Koppelzaun und tat so, als wäre sie ungemein interessiert an dem, was Jeffries dort mit der störrischen Stute anstellte. Dass ihr Vater sie nicht weiter beachtet hatte, ärgerte sie weniger als die Tatsache, dass Jamie es mitbekommen hatte. Sie hielt sich an den Koppelstangen fest und hoffte inständig, er möge sie nicht zu einer Antwort drängen. Gott sei Dank verschonte er sie. Wortlos stellte er sich neben sie.
Wieder gingen Abigails Gedanken zurück zu jenem Moment auf dem Dach gestern Abend. Offenbar vermochte sie die Erinnerung daran nicht aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Seine Berührung, sein Kuss hatten sie verwirrt und überwältigt, und jetzt am hellen Tag war es auch nicht anders.
Wie konnte etwas so Einfaches wie eine Berührung eine derartige Reaktion auslösen? Und war ein Kuss schließlich nicht auch eine Art der Berührung? Die unerwartete Berührung eines Mundes mit einem anderen. Fleisch und Blut erhitzt vom Fluss des Lebens, nichts weiter.
Magie war zwischen ihnen aufgeflammt, ein so mächtiger Zauber, dass sie die Nachwirkungen auch jetzt noch spürte. Wenn sie nur an das herrliche, verbotene Vergnügen dachte, erschauderte sie. Und das wegen eines Mannes, den sie nicht einmal liebte, den sie nicht einmal besonders mochte und dem nichts an ihr lag. Um wie vieles mächtiger würde der Zauber sein bei Leutnant Butler, den sie vergötterte?
„Was denken Sie gerade?“ wollte Jamie wissen.
„Wie kommen Sie auf die Idee, ich könnte überhaupt etwas denken?“
„Weil Sie Abigail sind. Sie denken immer. Und was immer Sie gerade denken, hat Rosenblätter auf Ihre Wangen gestreut. Es sieht übrigens ganz liebreizend aus.“
„Wenn Sie es denn unbedingt wissen müssen - ich dachte an Leutnant Butler.“
Jamie rührte sich nicht und sprach auch nicht, doch ihr wurde mit einem Mal kälter.
„Haben Sie etwas dagegen?“ fragte Abigail.
„Nicht, wenn Sie die Wahrheit sagen“, versetzte er.
Dem Zuchtmeister und zwei Stallknechten war es gelungen, die störrische Stute festzuhalten. Das Tier schien erregt, schlug mit dem Schweif, blähte die Nüstern und warf den edlen Kopf auf, um das Halfter abzuschütteln.
„Was tun die Männer denn dem armen Geschöpf an?“ wollte Abigail wissen.
„Schauen Sie nur zu.“
Aus dem angrenzenden Sattelstall drang in diesem Moment ein unheimliches Schnauben. Danach hörte man wiederholtes Wiehern, und schließlich traten Pferdehufe wie wild gegen das Schuppentor. Jeffries brüllte einen Befehl. Die Pferdeknechte gaben die Stute frei und schwangen sich über die Koppelstangen.
Plötzlich fegte etwas so schnell und so unerwartet aus dem Schuppen heraus, dass Abigail nicht gleich merkte, dass es sich um einen starken und sehr aufgebrachten Hengst handelte. Mit gespreizten Vorderbeinen blieb er in herausfordernder Pose gleich wieder stehen. Er senkte den Kopf, ohne die Stute aus den Augen zu lassen, die jetzt beim Koppelzaun auf und ab trottete. Der Hengst kam wieder in Bewegung; er stieg hoch, und seine Vorderhufe schienen die Luft zerreißen zu wollen.
Die Stute legte Tempo zu, und Panik glitzerte in ihren Augen.
„Das ist grausam“, meinte Abigail. „Das arme Tier ängstigt sich ja zu Tode. Weshalb tun die Knechte so etwas?“
„Manchmal verwenden sie ein Lockmittel, um die Stute bereit zu machen.“ Er blickte Abigail unverwandt an. „Im vorliegenden Fall ist dies jedoch nicht erforderlich. Jetzt liegt es an dem Hengst, das Nötige zu tun.“
Mit gesenktem Kopf stürmte das Ross voran. Seine Nüstern waren gebläht, und seine Augen flammten geradezu bösartig. Abigail presste die Faust an den Mund, um nicht aufzuschreien.
Er wird die Stute umbringen, dachte sie und hätte die Augen am liebsten geschlossen, vermochte indes nicht, den Blick abzuwenden.
Mit weit offenem Maul und feurigen Augen stürzte sich der Hengst auf die Stute. In letzter Sekunde drehte sich diese zu ihm herum und biss ihn ebenso wütend, wenn auch weit zielsicherer und kontrollierter. Der Hengst schrie vor Schmerz auf.
„Daisy ist unsere beste Zuchtstute. Sie lässt die Hengste immer leiden“, murmelte Jamie.
„Weshalb unterbinden Sie es dann nicht? Das ist doch barbarisch!“ Ein dicker Blutstrom lief über die Flanke des Hengstes.
„Weil es ein völlig natürlicher Vorgang ist. Gleichgültig, wie viele Qualen sie ihm auch zufügt - am Ende gibt sie ihm doch, was er begehrt. Und dafür nimmt er alle Schmerzen auf sich.“
Abigail wusste, dass es Jamie vollkommen bewusst war, wie sehr sein Anschauungsunterricht sie verstörte. Vermutlich war ihm ebenso bewusst, wie sehr sie der ganze Vorgang faszinierte.
Die Züchter und Stallknechte, die auf der Wiese nebenan standen, schienen ebenfalls begeistert zu sein. Sie klopften einander auf den Rücken und schlossen Wetten auf das bevorstehende Ereignis ab.
Dampf stieg von beiden Pferden auf. Schweiß vermischte sich mit dem Blut des Hengstes. Die Tiere führten einen Tanz auf in dem ewigen Rhythmus des uralten Rituals. Die Stute kam dicht an den Hengst heran, hob ihren Schweif, und ihr Zuchtpartner unterwarf sie einer derartig intimen Inspektion, dass Abigail alle Worte der Empörung im Hals stecken blieben.
Nach einer scheinbar langen Zeit fand die eigentliche Paarung statt, die ebenso brutal wie bezwingend war. Mit einer Mischung aus Entsetzen, Staunen und seltsam heißer Erregung schaute Abigail zu. Sie vermutete, dass die Hitze eine Form der Lust war, und es berührte sie peinlich, überhaupt Lust zu empfinden, während sie die Paarung der Pferde betrachtete.
Das gewalttätige Ritual dauerte einige Minuten an. Danach stieß der Hengst eine Art Grunzen aus und stellte seinen Angriff ein. Die Stute ließ den Kopf hängen. Ihre Flanken bebten heftig. Sie wirkte besiegt und so erschöpft wie der Hengst auch, der sie noch immer bedeckte. Sand und Staub wirbelten in kleinen Wölkchen um die Tiere herum.
Endlich zog sich der Hengst zurück, ohne die Stute noch weiter zu beachten. Schweife zuckten, Feuchtigkeit rann über die Leiber. In der Luft lag ein Geruch nach Schweiß, Blut und nach etwas, das Abigail zwar nicht zu benennen vermochte, das sie jedoch tief in sich fühlen konnte.
„Ich kann mir vorstellen, dass Sie so etwas nicht jeden Tag sehen“, meinte Jamie.
„Versuchen Sie, mich zu schockieren?“
„Ja.“
„Dann ist es Ihnen durchaus gelungen.“
„Sehr gut.“
„Wieso wollten Sie mich schockieren, und weshalb ist es gut?“ „Es ist immer gut, wenn man etwas Neues sieht. Und kein Mensch behauptet, eine Paarung sei etwas Hübsches. Ein Hurrikan ist auch nicht hübsch, doch seine Macht lässt sich nicht leugnen.«
„Das heißt noch lange nicht, dass ich mir einen Hurrikan anschauen will“, gab sie zurück.
„Vielleicht sollten Sie es sich einmal überlegen“, versetzte er. „Sie verbringen Ihre Zeit mit der Sternguckerei und dem Studium hübscher Dinge. Nun, die Welt besteht nicht nur aus Kristall und Samt. Sie schauen in den Himmel und verstecken sich, Abby. Sie verstecken sich vor dem Leben, vor dem Schmutz und der Wirklichkeit.“ Er lachte über ihren Gesichtsausdruck. „War das etwas, das ich nicht hätte sagen sollen?“
Niemand hatte je so mit ihr gesprochen. Niemand hatte ihr je vorgeworfen, dass sie nur an Schönheit und Wissenschaft interessiert war.
Abigail verließ ihren Standort beim Koppelzaun und stapfte den Weg entlang. Wohin er führte, wusste sie nicht. Sie wollte nur fort von hier. Als sie Jamies Stiefel auf dem Kies knirschen hörte, merkte sie, dass er ihr folgte. Beharrlich blickte sie geradeaus.
„Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie etwas dagegen hätten, Zeugin eines natürlichen Vorganges zu sein“, versicherte er hinter ihrem Rücken. „Sie sind doch Wissenschaftlerin.“
Da hatte er natürlich Recht. Und was hätte sie nun sagen sollen? Ich bin aber keine Wissenschaftlerin, die sich für derartige Dinge interessiert?
„Sie zeigten mir das nicht im Interesse der Wissenschaft“, beschuldigte sie ihn. „Vielmehr wollten Sie mich in Verlegenheit bringen.“
„Und das ist mir ja auch gelungen.“
„Da müssen Sie jetzt aber stolz sein!“
„Hören Sie, Sie behaupten doch, Sie wollen, dass Boyd Butler Sie in den Ehehimmel entführt. Ich dachte, das hieße, Sie seien an allen Aspekten der Paarung interessiert.“
„Was hat die Paarung zweier Pferde mit meiner Zuneigung zu Leutnant Butler zu tun?“
„Liebe ist nicht immer nur Wohlgeruch und Magie. Sie zeigt auch eine körperliche Seite, und die hat nichts zu tun mit zärtlichen Gefühlen, flatternden Herzen und sentimentaler Poesie.“
„Hoffen Sie etwa, ich würde dies alles so abstoßend finden, dass ich sämtliche Illusionen bezüglich Leutnant Butler verliere?“ „Selbstverständlich nicht. Mein Ziel besteht nur darin, zu erreichen, dass aus Ihrer Liebesgeschichte der Briefe eine Liebesgeschichte der Wirklichkeit wird. Doch an Selbstbetrug glaube ich nicht. Sie sollten genau wissen, worauf Sie sich einlassen.“ „Leutnant Butler ist kein Tier. Er würde niemals ...“
„Glauben Sie mir, meine Liebe - er würde! Macht Ihnen das Angst?“
Im Moment ängstigte es sie mehr, dass sie nur daran zu denken vermochte, wie Jamies Hände sie berührten und wie er sie liebte.
Insgeheim entschuldigte sie sich damit, dass er auch der Einzige war, der sie jemals berührt hatte. Bislang. „Sollte es mir Angst machen?“
„Nein.“
„Gut. Denn im Gegensatz zu Ihnen glaube ich nämlich an die Magie der Liebe. Sie ist genau das, was uns über die Tiere erhebt.“ „Dennoch paaren wir uns auf eine Weise, die sich nicht wesentlich unterscheidet von der einer brünstigen Stute und einem heißblütigen Hengst.“
Abigail dachte über das eben Gesehene nach. Schwitzten ein Mann und eine Frau tatsächlich so sehr und bissen sie einander so wild? Es erstaunte sie, dass das Schauspiel sie nicht noch viel mehr verstört hatte. Doch vielleicht war es auch gar nicht so erstaunlich. Es handelte sich schließlich um einen natürlichen Vorgang, und selbst Helena fand offenbar nichts Verwerfliches daran. Abigail mahnte sich, weiterhin loyal zu Leutnant Butler zu halten, besonders da ihre Schwester jetzt etwas mit Professor Rowan angefangen hatte.
„Hier entlang.“ Jamie steuerte Abigail zu einem weiteren langen, flachen Gebäude mit eingezäuntem Hof.
„Was jetzt? Die Paarungsgewohnheiten der Halsbandfasane oder der Hampshire-Schweine?“
„Nein, etwas ganz anderes. Reiten Sie?“
„Reiten-was?“
„Pferde, Sie Gänschen.“
„Nein.“
„Sie reiten nicht?“
„Nein.“
„Haben Sie es schon einmal versucht?“
„Nein.“
Jamie blickte so verblüfft drein, dass Abigail unwillkürlich lachen musste. „Schließlich ist nicht die ganze Welt auf einer Farm wie dieser aufgewachsen. Viele Menschen kommen durchs ganze Leben, ohne einmal auf einem Pferd gesessen zu haben. So will ich es auch halten.“
„Nicht, wenn ich dazu etwas zu sagen habe.“
„Haben Sie aber nicht.“
„Auch gut. Folgen Sie mir einfach, und ich werde kein Wort sagen.“
„Ich werde nichts ..."
„Sie werden. Das ist ein Teil des Trainings.“
Sein spöttischer Humor behagte ihr nicht, doch langweilig wurde es bei ihm nie.
Er brachte sie zu der Stallung. Im Hof arbeitete ein hoch gewachsenerjunge mit einem ganz offensichtlich unwilligen Pferd; es trottete vor und zurück, schnaubte und warf den Kopf auf.
„Willkommen daheim!“ grüßte der Bursche, als die beiden herankamen.
„Schön, dich wieder zu sehen, Julius. Was hast du da?“
„Einen neuen Dreijährigen. Ihr Vater kaufte ihn zum Reiten, doch das Pferd hat seinen eigenen Kopf.“
„Das wollen wir doch mal sehen.“ Jamie stützte eine Hand auf den Zaun und schwang sich darüber. „Die meisten Leute meinen, so etwas sei unter ihrer Würde“, erklärte er Abigail über die Schulter hinweg, „doch es ist durchaus von praktischem Wert, wenn man sein eigenes Reittier abrichtet.“
„Sie werden doch sicherlich nicht wollen, dass ich den ersten Ritt meines Lebens auf einem untrainierten Pferd absolviere?“ „Selbstverständlich nicht. Wofür halten Sie mich denn? Dies ist übrigens Miss Abigail Cabot“, informierte er Julius. „Sie kommt aus der Stadt und ist hier zu Besuch. Wir werden sie reiten lehren.“ Abigail begrüßte den Burschen mit einem Lächeln; er und Jamie reichten einander die Hand.
„Lass dich nicht von diesem Tier unterkriegen, mein Junge.“
Jamie zerzauste ihm das Haar. „Dein Daddy hat das auch nie gemacht.“
Julius führte Abigail in den Stall. Ein paar Pferde streckten die Köpfe aus den Boxen heraus. Vor einer dieser Boxen blieb Jamie stehen, schnalzte mit der Zunge und öffnete dann die Tür. „Sie werden Patrick reiten.“
Argwöhnisch unterzog Abigail das Pferd einer Begutachtung. Das Tier war klein und wirkte eher gemütlich verglichen mit den anderen Pferden, die sie auf Albion gesehen hatte. Sein Fell war braun, der Kopf sah aus wie der eines Maulesels, und die Hufe waren breit wie Essteller.
„Sie werden dieses Geschöpf doch nicht nach seinem Aussehen beurteilen?“
„Natürlich nicht.“ Leider hatte Jamie ihr die Bedenken wohl angesehen.
„Er ist sehr zuverlässig, gehorsam und loyal - eben alles, was man sich von einem Pferd - oder einer Ehefrau - nur wünschen kann.“
„Ich brauche keine Ehefrau, und bei dem Pferd bin ich mir nicht ganz sicher.“
Jamie hakte eine Leine an Patricks Halfter und reichte ihr das andere Ende. „Also los!“
„Ich habe doch keine Ahnung, was ich tun soll.“
„Er wird Ihnen folgen, doch Sie müssen irgendwohin gehen und nicht nur so herumstehen.“ Er machte Julius ein Zeichen, der am Ende des Mittelgangs wartete und, wie Abigail vermutete, das Pferd satteln wollte. „Nur keine Angst, es funktioniert immer. Ich gehe inzwischen hinaus auf die Koppel zu dem neuen Wallach.“
Es war ein bisschen einschüchternd, ein hinter ihr hertrottendes Fünf-Zentner-Tier an der Leine zu halten, doch Abigail war entschlossen, die Aufgabe zu meistern. Sie bestand darauf, dass Julius ihr das Satteln zeigte, und er tat es gern. Sie mochte den Jungen auf Anhieb. Er war ungefähr dreizehn, bemerkenswert ernsthaft und mit seiner milchkaffeebraunen Haut, den schmalen Händen und der schlanken Figur wahrscheinlich der bestaussehende Bursche, dem sie je begegnet war.
Julius erklärte ihr Schritt für Schritt das Satteln und war dabei höflicher und geduldiger, als Jamie es gewesen wäre. Dasselbe traf übrigens auch auf Patrick zu.
„Haben Sie keine Angst, ihn zu berühren“, riet ihr der Junge. „Es ist immer gut, sich daran zu gewöhnen, ihn anzufassen.“
Vorsichtig tätschelte Abigail Patrick den Hals.
„Ein Pferd braucht eine harte Hand, Ma’am. Dies hier fühlt er ja kaum.“
Es bedurfte einiger Überwindung, doch Abigail schaffte es schließlich, dem Tier mit fester Hand den Hals zu klopfen. Ganz offensichtlich behagte es ihm. Julius zeigte ihr, wie man das Kopfgeschirr und die Zügel richtig anlegte und wie man dem Pferd das Trensengebiss zwischen die Kiefer schieben musste, wobei sie sich die Handschuhe zerriss. Das kümmerte sie jedoch nicht weiter. Sie rieb über die weiche Pferdenase und bewunderte die lang bewimperten Augen, die zweifellos das Schönste an dem ganzen Tier waren.
„Das Aufsitzen ist ein wenig heikel mit einem Rock.“ Julius zog den Steigblock neben Patrick. „Sie werden im Herrensitz reiten. Für den ersten Ausritt ist ein Damensattel zu schwierig.“
Abigail trat zurück und beäugte das Tier. „Das kann ich nicht.“
„Sicher können Sie das, Abby“, rief Jamie am anderen Ende des Mittelgangs. Ohne Hilfe war es ihm gelungen, das andere Pferd zu satteln.
„Das ist ausgeschlossen!“ rief sie zurück.
„Ich glaube, ich sagte dasselbe über das Auffinden eines Kometen.“
Abigail wollte nicht weiter argumentieren, denn ihr Ziel war es ja, Reiten zu lernen. „Also schön, Julius. Was mache ich zuerst?“
„Zunächst einmal müssen Sie hinauf.“ Er zeigte es ihr, indem er ein Bein über den Pferderücken hob. Abigail behagte der Anblick ganz und gar nicht, doch sie war nun einmal wild entschlossen.
Sie stieg auf den Block und hob ein Bein hoch, wobei sie ein wenig schwankte und beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Julius stützte sie mit einer Hand ab und wies sie an, sich am Sattelrand festzuhalten. Beim dritten Versuch gelang es ihr, das Bein über den Pferderücken zu heben. Doch sie verfehlte den Sattel und rutschte wieder hinunter. Beim nächsten Mal hob sie das Bein zu hoch und zu schnell und fiel vorwärts, wobei sie sich das Kinn an dem knochigen Hals des Pferdes stieß. Zähneknirschend zog sie sich hoch, und schließlich saß sie rittlings im Sattel.
„Ich habe es geschafft!“
„Ja, das haben Sie.“ Julius ging auf die rechte Seite, um ihren Fuß in den Steigbügel zu stecken. Abigail hätte beinahe aufgeschrien, als er den Spezialschuh entdeckte. „Der passt nicht in den Steigbügel“, bemerkte er.
„Dann zeige mir, wie ich wieder hinunterkomme.“ Abigail wusste, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde.
„Ma’am, das geht nicht.“
„Wieso nicht?“
„Weil Sie reiten lernen müssen. Warten Sie hier.“ Der Junge verschwand in der Sattelkammer. Abigail hörte, wie er nach etwas suchte und dabei durch die Zähne pfiff. Wie konnte Julius pfeifen, wo sie sich am liebsten zusammengerollt hätte, im Erdboden versunken und gestorben wäre?
Nein, das stimmte nicht ganz. Sie hasste nur ihren Fuß und den unförmigen Schuh, den sie tragen musste, aber oben auf dem Pferderücken erkannte sie etwas: Ihr missgestalteter Fuß spielte keine Rolle, solange Patrick auf seinen vier Hufen stehen konnte.
Draußen auf dem Hof ritt Jamie auf dem schönen neuen Pferd hin und her. Trotz des kühlen Novembertages glänzte Schweiß auf Ross und Reiter; sie arbeiteten sich aneinander ab, und möglicherweise war das ja überhaupt der Sinn der Sache.
Nach ein paar Minuten kam Julius mit einem Paar Steigbügeln aus der Sattelkammer. „Diese hier werden für die Jagd benutzt. Deshalb ist die Öffnung auch größer.“ Er hielt sie Abigail hin. Schweigend wartete sie, bis er die neuen Bügel befestigt hatte. „Die passen perfekt“, meinte er schließlich. „Ma’am, Sie sind fertig zum Reiten.“
„Julius?“
„Ja, Ma’am?“
„Könntest du meinen Rocksaum ein wenig hinunterziehen? Du weißt schon, wegen..."
„Jawohl, Ma’am.“ Der Junge zog den Stoff über ihren Fuß und schaute dabei so ernst und sachlich, dass sie vergaß, verlegen zu werden. Was für ein netter junger Mann er doch ist, dachte sie.
„Jetzt halten Sie sich fest, Ma’am.“ Er hakte das Pferd los und führte es auf die Koppel hinaus.
„Oh!“ Abigail hielt sich am Sattelrand fest und versuchte, nicht vom Pferd zu fallen, denn bei der schwerfälligen, schwankenden Bewegung des Tieres hatte sie das Gefühl, als würde sie jeden Moment aus dem Sattel rutschen.
„Sie müssen ganz aufrecht sitzen“, wies Julius sie an. „Am besten, Sie blicken zwischen die Ohren des Pferdes. Den Rest besorgt dann schon die Schwerkraft.“
Abigail hätte den Burschen gern gefragt, woher er denn etwas über Schwerkraft wusste, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, sich festzuhalten. Ihr panischer Gesichtsausdruck fiel offenbar auch Jamie auf, der jedoch nur lächelte und ihr zuwinkte. „Sie machen das großartig, Miss Cabot“, stellte er fest. „Einfach großartig!“
Dieser Lügner! Sie war eine grauenvolle Reiterin, fürchtete sich und war äußerst unbeholfen. Julius und der gute Patrick bewiesen eine wahre Engelsgeduld, und schließlich vermochte sie sogar schon ein wenig Kontrolle über die Zügel auszuüben. Innerhalb des großen Ovals des Reitplatzes gelang es ihr, das Pferd dorthin zu bewegen, wohin sie es haben wollte.
Sie blieb im Sattel, lenkte Patrick hierhin und dorthin, drückte ihm ganz leicht die Hacken an die Flanken und ließ ihn langsam traben. Sie wusste, dass ihr Ritt nichts Elegantes an sich hatte, doch das kümmerte sie nicht. Sie ritt auf einem Pferd! Zum ersten Mal in ihrem Leben bewegte sie sich in einer völlig regelmäßigen Gangart wie alle anderen Menschen auf der Welt auch!
Und dazu hatte Jamie sie gedrängt. Woher ahnte er, wonach sich ihre Seele sehnte, wenn sie das doch selbst kaum gewusst hatte? Vielleicht war er ein Zauberer. Oder ein Teufel.
Als Julius sie schließlich vom Reitplatz zurückführte, lag ein verklärtes Lächeln auf ihrem Gesicht. Jamie saß auf seinem Wallach und lächelte zurück. Zwar würde sie es ihm niemals sagen, doch er sah so schneidig aus, als wäre er einem Gemälde aus dem Museum entstiegen.
„Und jetzt?“ erkundigte sie sich.
„Überraschung. Ihr Pferd wird meinem folgen.“ Damit ritt er einen breiten sandigen Pfad entlang, der einem gewundenen Wasserlauf folgte. Nach und nach änderte sich das Gelände und wurde zu fruchtbarem Tiefland mit den kleinen Bauernhöfen, die sie schon auf der Kutschfahrt gesehen hatte. Die angekündigte Überraschung stellte sich als ein Besuch in einem dieser Farmhäuser heraus.
Als sich die beiden Reiter näherten, schlug ein Hund vor einem hübschen Haus aus Zedernholz an. Der Garten neben dem Haus war von Unkraut überwuchert, und etwas abseits sah man einen langen, niedrigen Schuppen und eine eingezäunte Koppel.
Jamie saß ab, beruhigte den Hund und half dann Abigail vom Pferd. Zu ihrer großen Erleichterung bemerkte er ihren Fuß überhaupt nicht, sondern schien nur Augen für das kleine Haus zu haben, aus dessen Schornstein eine kleine Rauchfahne emporstieg.
„Jasper!“ schrie eine Frau. „Du bist doch der lauteste Köter, den der liebe Gott je erschaffen hat!“ Eine groß gewachsene Schwarze in Männerarbeitshose, geblümter Schürze und mit einem hölzernen Kochlöffel in der Hand trat auf die Veranda heraus. Als sie Jamie sah, lächelte sie strahlend. „Wer kommt denn da zu Besuch? Kannst du für einen Augenblick hereinkommen, oder bist du neuerdings zu verstädtert?“
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprang Jamie die Verandatreppe hinauf und nahm die Frau in die Arme. „Wie ist es dir inzwischen ergangen, mein Schatz?“
Abigail hatte noch nie so viel Wärme in seiner Stimme gehört, und das machte sie neugierig. Sie wartete am Fuße der Treppe, bis Jamie sich zu ihr umdrehte.
„Abby, das ist Patsy Calhoun, meine Schwägerin. Patsy, dies ist Abigail Cabot, meine ...“ Er sprach nicht weiter, denn er wusste ebenso wenig, was Abigail für ihn war, wie sie wusste, was er für sie war.
„Guten Tag“, wünschte sie, stieg die Treppe hinauf und streckt die Hand aus.
Patsy blickte zwischen ihr und Jamie hin und her und hob dann fragend die Augenbraue. „Deine Freundin?“
„Nein!“ antworteten Abigail und Jamie sofort wie aus einem Munde.
Patsy hob die Braue noch höher. „Verstehe“, sagte sie. „Wirklich. Na, dann mal herein. Habe gerade eine Pastete im Ofen.“
Abigail verbrachte einen höchst ungewöhnlichen und angenehmen Nachmittag in der einfachen, doch robusten Kate von Noah Calhouns Witwe. Bei Patsy schien Jamie ein anderer Mensch zu werden. Er war entspannt und gutmütig, und kein einziges spöttisches Wort kam über seine Lippen.
Abigail betrachtete sein Gesicht im Licht des heimeligen Herdfeuers und erkannte, dass dies hier das war, was eine wirkliche Heimstatt ausmachte. Kein Wunder, dass ihm so viel daran lag, die Farmen an dem kleinen Flüsschen zu beschützen.
Eine Stunde vor dem Abendessen erreichten sie wieder das Haupthaus der Plantage. Abigail saß selbst ab, seufzte glücklich und schmiegte ihre Wange für einen Augenblick an ihr gutmütiges Pferd.
„Sie sind mir eine Erklärung schuldig“, meinte Jamie.
„Wofür?“
„Weil Sie sagten, Sie würden nicht reiten wollen.“
„Ich glaubte auch nicht, dass ich es mögen würde.“
Er blinzelte ihr verwegen zu. „Wenn ich Ihnen das nächste Mal sage, Sie würden etwas mögen, dann können Sie mir das ruhig glauben.“