Wie konnte ich nur diesem wahnwitzigen Handel zustimmen? Ich hätte es besser wissen müssen, als mein Vertrauen in einen Mann zu setzen, der mit einem
Rennpferd namens Sultan in den Kongress reitet.“
An der Kreuzung M Street und Virginia Avenue betrachtete Abigail skeptisch den Damenmodesalon, dessen Aushängeschild eine schwarze Silhouette in Form einer Garnspule sowie den Namenszug „Madame Broussard - Moderne Mode für die Dame“ zeigte.
In der Schaufensterscheibe spiegelte sich Jamie Calhouns Schmunzeln. „Erstens lautet sein Name gar nicht Sultan, sondern Oscar, doch ich wollte die Leute beeindrucken, und zweitens handelt es sich um ein Rennpferd im Ruhestand. Zu seiner Zeit war Oscar ein Champion, aber jetzt ist er mein Lieblingstier. Er frisst den ganzen Tag Hafer und macht den Deckhengst für eine Anzahl Stuten, die einen wirklichen Sultan vor Neid erblassen lassen würden.“
Abigail schnaubte, schürzte missbilligend die Lippen und wandte sich ab.
„Und nun geben Sie wieder Missfallen vor!“ sagte Jamie scheinbar ärgerlich. „Dabei steht Ihnen das gar nicht.“
„Woher wollen Sie wissen, dass ich das nur vorgebe?“
Jamies Lächeln wurde noch breiter. „Ich habe Ihren Brief an Butler gelesen. Zu diesem Zeitpunkt war ich zwar betrunken, doch ich werde nie vergessen, dass Sie sich dazu bekannten, eine sinnliche Natur zu sein.“
Abigail ballte die Fäuste, und ihre Wangen glühten. „Das heißt noch lange nicht, dass mich Hinweise auf das Geschlechtsleben von Pferden nicht beleidigen.“
„Selbstverständlich sind Sie nicht beleidigt. Sie sind doch Naturwissenschaftlerin und würden niemals Anstoß an natürlichen Vorgängen nehmen. Das wäre ja so, als nähmen Sie Anstoß an den Bewegungen der Planeten.“ Er legte ihr die Hand an die Taille. „Kommen Sie. Madame Broussard wartet.“
Abigail sträubte sich.
„Was ist denn nun schon wieder los?“ fragte er ein wenig unwillig.
„Ich versuche festzustellen, was ich eigentlich tue. Ich betrachte mich als selbständige Frau, und dennoch denke ich nur daran, wie ich es meinem Vater recht machen und einem Mann gefallen kann, der kaum weiß, dass ich überhaupt existiere.“
„Sie wären nicht Abigail, wenn Sie sich nicht ständig hinterfragten. Sehen Sie es einmal so: Was könnte Ihnen schlimmstenfalls passieren, falls Sie tatsächlich versagten?“
„Demütigung, gesellschaftliche Achtung, unverhohlene Verachtung.“
„Hat die Angst vor einem Fehlschlag Sie jemals davon abgehalten, ein wissenschaftliches Experiment durchzuführen? Natürlich nicht. Sehen Sie, Sie waren doch hiermit einverstanden. Und wenn Butler Sie das nächste Mal sieht, werden ihm die Augen aus dem Kopf fallen.“
„Ich begehe einen schrecklichen Fehler“, beharrte sie. „Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“ Das war natürlich eine Lüge. Sie wusste es sehr wohl. Denn sie begehrte Boyd Butler, in den sie verliebt war, seit sie beide die Tanzstunde besucht hatten.
Das Problem bestand darin, dass sie tollpatschig geblieben war, während der Leutnant zu einem jungen Gott herangewachsen war. Und wie eine Frau, die sich auf dem Jahrmarkt von einem Schlangenölverkäufer eine Medizin andrehen lässt, hatte sie Jamie Calhouns Verbesserungsprogramm zugestimmt. Eine der ersten Lektionen bestand seiner Meinung nach darin anzuerkennen, dass Mode eine Rolle spielte, ob es ihr nun gefiel oder nicht.
Schuldbewusst schaute sie die belebte Straße mit den zahlreichen Geschäften, Cafés, Lesehallen und Tavernen entlang. „Falls uns jemand sieht, wie wir zusammen einen Laden für Damenmode betreten, wird man sofort annehmen, wir hätten eine Affäre.“
„Was Sie in jedermanns Augen umso faszinierender macht.“ Mit unverschämter Vertraulichkeit schob er sie zu der messingbeschlagenen Tür. Jedes Mal, wenn er sie berührte, ob absichtlich oder nicht, verspürte sie eine innere Unruhe, die sie zu unterdrücken versuchte, indem sie sich vorhielt, er sei ein unzuverlässiger, gefährlicher Weiberheld.
Jamie geleitete sie in das Studio der berühmten Modeschöpferin. Abigail konnte sich nicht erklären, wie er es geschafft hatte, hier einen Termin zu bekommen. Helena hatte ihr gesagt, dass es bei Madame Broussard eine endlose Warteliste gebe. Nicht, dass Abigail sich ebenfalls auf diese Liste hätte setzen lassen wollen, doch beinahe jede andere Frau der Stadt stand bereits darauf.
Das Studio Broussard ähnelte weniger einem Ladengeschäft als vielmehr einem wunderschönen Salon, der mit unaufdringlicher Eleganz eingerichtet war. Vergoldete Möbel, Fransenvorhänge, eine neue elektrische Beleuchtung und vornehme alte Ölporträts europäischer Aristokraten an den Wänden schmückten den Raum, aber nirgends waren Kleidungsstücke oder Stoffballen zu sehen.
Ein Mädchen begrüßte sie auf Französisch, und James Calhoun antwortete gleichermaßen. Abigail war verblüfft. Trotz seiner Körpergröße und der beinahe überwältigenden Männlichkeit wirkte er vor dem Hintergrund der altrosa Tapeten und der Spitzenvorhänge keineswegs fehl am Platze. Offenbar ist er ein Mann, der sich in jeder Umgebung wohl fühlen kann, dachte Abigail neidisch.
Aus einem Raum hinter dem Salon trat wenige Augenblicke später Madame Broussard ein. Sie war ungefähr fünfzig und von der einfachen, klaren Anmut einer klassischen Skulptur. Ihre Haut wirkte so glatt und milchig wie Alabaster; sie trug das Haar aus dem Gesicht gebürstet, und ihr schwarzes Gewand erinnerte Abigail in seiner Schlichtheit an ein modernes Gemälde in einer Kunstgalerie.
Als sie Jamie Calhoun bemerkte, kam mit einem Mal Leben in Madame Broussard. Sie begrüßte ihn mit strahlendem Lächeln, umarmte ihn, küsste ihn auf beide Wangen und redete pausenlos. Abigail beobachtete die ältere Frau und sah, wie diese ihn berührte und seine Hand vielleicht ein wenig zu lange hielt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, beugte sich vor, küsste seine Lippen und verharrte einen Moment in dieser Haltung, während sie die Augen schloss und tief einatmete. Abigail ertappte sich dabei, dass sie ebenfalls Luft holte, und sie spürte die gleiche Hitze wie neulich im Garten des Weißen Hauses.
Sie räusperte sich. Jamie und die Modeschöpferin fuhren auseinander. Er machte die Damen miteinander bekannt, wobei er mit Madame französisch und mit Abigail englisch sprach. Die Modeschöpferin hob zu einem langen Vortrag an, ging um Abigail herum und betrachtete sie von oben bis unten mit Kennerblick.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen, Madame Broussard“, sagte Abigail beklommen.
„Enchantée.“ Die Frau kniff in Abigails Oberarm, als hätte sie eine Kuh auf dem Viehmarkt vor sich. Sie kniff auch noch in ein paar andere Stellen, bis Abigail glaubte, vor Scham in den Boden sinken zu müssen. Madame erklärte, Abigails gegenwärtige Kleidung sei „exécrable“, und aus ihrer Miene schloss Abigail, dass dies nichts Gutes bedeutete. Aus der Art, wie diese Frau sie betrachtete und dabei gelegentlich nickte, folgerte sie jedoch, dass die Modeschöpferin irgendeine verborgene Möglichkeit entdeckt hatte, die nur ans Licht gefördert zu werden brauchte.
Während ein Mädchen ihm ein Glas Limonade brachte, verfolgte Jamie Calhoun das Ganze mit akademischem Interesse.
„Haben Sie nichts Besseres zu tun?“ fragte ihn Abigail.
„Was könnte besser sein, als Ihre Verwandlung zu beobachten?“
„Woher wissen Sie, dass ich verwandelt werde?“
Er übersetzte die Worte für Madame, und die beiden lachten. Danach setzte die Modeschöpferin ein gewichtiges Gesicht auf und redete lange und ernsthaft.
Jamie nickte zustimmend. „Ich erwarte eine vollständige Metamorphose wie die einer Kaulquappe zur Kröte.“
Abigail starrte ihn wütend an. „Ungeheuer charmant! Sie haben wirklich Talent für Schmeicheleien.“
„Teuerste, Sie brauchen keine Schmeicheleien. Sie brauchen Madame!“
„Sie sind ein Repräsentant der Vereinigten Staaten. Sie sollten ihre Zeit im Repräsentantenhaus verbringen, anstatt sich in mein Leben einzumischen.“
„Ich habe gestern repräsentiert. Sie hörten ja meine Rede vor dem Haus."
In der Tat, dachte sie, gab jedoch nicht zu, wie sehr sie diese Rede bewundert hatte.
„Für die nächsten Tage sieht mein Terminplan nichts Wesentliches vor“, meinte er. „Ich beabsichtige, meine Zeit ausschließlich Ihnen zu widmen.“
Bei seinen Worten und seinem Blick hatte Abigail das Gefühl, von ihm gestreichelt zu werden. Doch sie hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn Madame führte sie in einen rosa- und golddekorierten Raum neben dem Empfangssalon. Hier befanden sich bodenlange Spiegel an allen Wänden, die so angeordnet waren, dass Abigail sich von allen Seiten sehen konnte und dabei feststellen musste, dass sie nicht nur von vorn, sondern aus jedem Blickwinkel unattraktiv war.
Madame Broussard klatschte in die Hände und rief scharfe Befehle auf Französisch. Sofort erschienen drei Assistentinnen, und alle redeten gleichzeitig. Abigail verstand nur ein paar Brocken Französisch und vermochte dem Gespräch nicht zu folgen; also hörte sie auch nicht länger zu. Offenbar wollte man sie ohnehin nicht an der Unterhaltung beteiligen. Die Französinnen besprachen sich untereinander, als wären sie Chirurgen, die eine lebensgefährliche Operation vorbereiteten.
Mr. Calhoun stand mit seiner Limonade in der Tür. Eine der Frauen entfaltete einen seidenen Sichtschirm.
„Ich glaube wirklich, Sie sollten lieber gehen“, rief Abigail. „Meine Amtskollegen spielen heute Golf, oder sie fischen. Ehrlich, ich glaube, ich habe da die bessere Wahl getroffen“, kam seine Stimme von der anderen Seite des Sichtschirms. „Ich hoffe, Ihre übliche Gewandschneiderin ist nicht beleidigt, weil Sie ihr jetzt zu Gunsten von Madame Broussard untreu geworden sind.“
„Ich hatte gar keine ,übliche' Gewandschneiderin“, gestand Abigail.
„Ich weiß.“
„Woher?“
„Ich dachte es mir.“
Abigail hörte, wie ein Zündholz angerissen wurde, und einen Moment später kräuselte sich bläulicher Zigarrenrauch über dem seidenen Sichtschirm. Sie schaute in einen der zahlreichen Spiegel und betrachtete ihr schwarz-weißes Oberteil, in dem sie wie ein Arbeiter aussah. Sie biss sich auf die Lippe. Dieser unverschämte Schuft hatte Recht; sie sah wirklich wie eine Puritanerin aus. Nichts gegen Puritaner, doch der Sohn des Vizepräsidenten würde wahrscheinlich etwas mehr Stil vorziehen.
Vor kurzem hatte Helena versucht, ihr ein modisches Gewand einzureden, aber herausgekommen war dabei eine rosa und weiße Katastrophe aus Taft, in der Abigail aussah wie die böse Fee aus einem kindlichen Albtraum. Von da an hatte sie sich strikt geweigert, noch einen einzigen Gedanken an ihre Kleidung zu verschwenden.
Durch den Sichtschirm hindurch tauschten Calhoun und Madame französische Kommentare aus, die sich anhörten wie Gewehrfeuer in einer Schlacht. Nun machten sich die Assistentinnen an Abigail zu schaffen und lösten ihre Knöpfe, Häkchen und Schnürbänder, ehe sie wusste, wie ihr geschah. Als sie schließlich nur in ihrem Unterrock dastand, traten die Frauen zurück und beratschlagten sich untereinander.
Abigail erschien das Ganze so unwirklich, dass sie vergaß, verlegen zu werden. Dann schleppte man Stoffballen herbei, die sie nun neugierig betrachtete. Dies waren nicht die bonbonfarbenen Taftstoffe oder der Tüll, in denen sie immer so albern aussah, sondern Seide von der Farbe eines sonnendurchfluteten Sees, indigofarbener Satin, der schwarz und mitternachtsblau changierte, sowie Rohseide in der Schattierung des Sonnenaufgangs - alles Farben, die in der Natur vorkamen und die nicht in einem Labor entstanden waren.
Zwar hatte man sie nicht nach ihrer Meinung gefragt, doch Abigail fand die Stoffe einfach wunderhübsch. Jemand hob das Material über den Sichtschirm, damit Mr. Calhoun es betrachten konnte, und der besah sich jeden einzelnen Ballen mit dem Ernst eines Bundesrichters.
Die Frauen schoben nun auf dem Zeichentisch einen Katalog mit konventionellen Gewändern beiseite und blätterten stattdessen eine große Kollektion Originalzeichnungen durch. Abigail bekam mit, dass es sich dabei um die Arbeiten von Madame handelte. Solche Entwürfe hatte sie noch nie gesehen.
Im Gegensatz zu der gegenwärtigen Mode mit den Wespentaillen, den übertriebenen Turnüren und den geschnürten Oberteilen zeigten die Entwürfe der Modeschöpferin lange, geradlinige Etuigewänder, die den Körper eher umspielten, statt ihn zu verschnüren, und die klassisch im Sinne des antiken Griechenlands wirkten. In Georgetown würde man derartige Gewänder vermutlich als zu radikal, wenn nicht gar als skandalös ansehen, obwohl sie auf ihre Weise wesentlich „anständiger“ waren als die augenblickliche Mode.
Wie bei den Stoffen, so fragte man sie auch jetzt nicht nach ihrer Meinung. Nachdem man ihr Oberteil gesehen hatte, vertraute man wahrscheinlich ihrem modischen Geschmack nicht mehr. Eine der Assistentinnen trug drei der Skizzen zu Mr. Calhoun, um dessen Meinung einzuholen.
„Ich weiß wirklich nicht, weshalb Sie so viel Zeit meinetwegen opfern“, murrte Abigail.
„Ist es nicht die Aufgabe eines Abgeordneten, sich um die Bedürfnisse seiner Wählerschaft zu kümmern?“
„Ich bin nicht Ihre Wählerin. Ich wohne nicht einmal in Ihrem Wahlbezirk.“
„Stimmt, doch ich bin für die Bürger des ganzen Landes da.“
„Außerdem habe ich kein Wahlrecht. Das hat keine Frau.“
„Auch wahr. Umso schlimmer.“
„Ich nehme an, Sie fördern das Stimmrecht für Frauen.“
„Das allgemeine Wahlrecht!“ berichtigte er umgehend.
„Das nehme ich Ihnen nicht ab. Wieso sollte ein privilegierter weißer Landeigner das Stimmrecht für Frauen und Farbige unterstützen?“
„Nun, nennen Sie mich unwissend, doch als ich das letzte Mal nachschaute, besaßen laut dem Vierzehnten Zusatzartikel der Verfassung noch alle in den Vereinigten Staaten geborenen oder eingebürgerten Personen das Wahlrecht, und nicht nur diejenigen, die zufällig weiß, männlich, reich, gebildet und Landbesitzer waren.“
Abigail stellte sich vor, wie ihr Vater wohl auf diese Äußerung reagieren würde. Ihr zumindest gefiel Mr. Calhouns Einstellung und auch die Tatsache, dass er die Verfassung tatsächlich gelesen hatte.
„Ein Vorschlag“, sagte sie.
„Ja?“
„Erwähnen Sie in einer großen Debatte des Kongresses nicht Ihre Ansichten über das allgemeine Wahlrecht. Man wird Sie sonst bei lebendigem Leibe fressen.“ Sie konnte zwar sein Gesicht nicht sehen, fügte jedoch hinzu: „Nun gehen Sie nicht gleich in die Luft.“
„Woher wissen Sie, dass ich in die Luft gehe?“
Sicher, sie konnte es eigentlich nicht wissen, doch sie fühlte sich diesem Mann merkwürdigerweise so verbunden, dass sie seine Stimmungen buchstäblich riechen konnte. „Ich weiß es eben. Im Übrigen stimme ich zufällig mit Ihnen überein.“
„Und Ihr Vater? Ist der auch für das allgemeine Wahlrecht?“ Abigail lachte über so viel Naivität. „Wie lange, glauben Sie, könnte er wohl seinen Sitz im Senat behalten, wenn er das zugäbe? Hören Sie, Mr. Calhoun, im Widerspruch zu meinem Vater zu stehen ist wie in einen Misthaufen zu treten; es geht nicht, ohne dass man sich lächerlich und schmutzig macht. Und daran kann man sich dann nur selbst die Schuld geben.“
„Ihr Ratschlag ist ungemein ... anschaulich formuliert.“
„Im Kongress müssen Sie Ihre Meinungsäußerungen wohl dosieren, um Ihre Anliegen durchzusetzen. Was Damenmoden angeht, mögen Sie sich für einen Kenner halten, Mr. Calhoun“, fuhr sie rasch fort, ehe er sie zu unterbrechen vermochte, „doch wenn Sie nur halb so klug sind, wie Sie glauben, dann hören Sie in Fragen der Politik auf mich.“
„Ich beuge mich der Tochter des Senators.“
Nun kamen die Frauen wieder zu ihr, schwatzten und zupften rüde an ihrem Hemd.
„Mr. Calhoun“, rief sie, „ich möchte gern wissen, was hier gespielt wird.“
„Keine Sorge! Man meint nur, Sie würden fast von Ihren Unterröcken verschluckt.“ Er schwieg einen Augenblick, und Zigarrenrauch schwebte in die Höhe. „Eine durchaus hübsche Vorstellung.“
„Sie sollten endlich gehen!“
„Solche Unterwäsche sei nicht zu vereinbaren mit dem neuen Stil, den Madame für Sie vorsieht.“
Mit einem Mann über Unterkleidung zu reden war unüblich, wenn nicht gar höchst unmoralisch.
Abigail fühlte, wie an ihr gerissen wurde, und dann fielen die Unterröcke zu Boden, so dass sie jetzt nur noch in Hemd und weiten Unterhosen dastand.
Tödlicher Schrecken ergriff sie. „Bitte, nicht!“ Sie griff nach den Spitzen- und Tüllunterröcken. „Sie dürfen nicht ...“ Abigail sprach nicht weiter, denn sie wusste, dass man sie ohnehin nicht verstand. Sie konnte nur hoffen, dass die Frauen wenigstens ihren flehenden Blick richtig deuteten. „Bitte“, flüsterte sie noch einmal und hielt den aufgebauschten weißen Stoff fest.
Madame fasste sie fest am Handgelenk und murmelte etwas. Eine Frage? Dann öffnete sie gewaltsam Abigails Finger, so dass die Röcke wieder hinunterfielen. Alle Umstehenden blickten auf Abigails Füße.
Mitten zwischen dem zarten Spitzenstoff war der Maßstiefel tatsächlich ein hässlicher Anblick, und Abigail schämte sich schrecklich.
„Ist alles in Ordnung?“ rief Mr. Calhoun herüber.
„Ne vous fâchez pas“, rief Madame zurück und erteilte dann einen energischen Befehl auf Französisch.
„Sehr wohl. Ich werde mich also in die City Tavern begeben.“ Das Glöckchen über der Eingangstür klingelte, als er hinausging.
„Tiens“, sagte Madame und trat ein wenig zurück. „Jetzt fängt die eigentliche travaille an. Wir arbeiten mit dem, was wir haben. So hat Michelangelo seine Skulpturen ebenfalls erschaffen, non? Er entdeckte die Schönheit im Innern eines Marmorblocks.“ Sie zog ein langes Unterhemd von einem Bügel an der Wand und band es um Abigails Taille. Ihr Unbehagen verwandelte sich langsam in Interesse.
„Ich dachte nicht, dass Sie englisch sprechen.“
„Doch.“ Madame zog ein Maßband von ihrem Hals. „Aber nur sehr selten. Allerdings bleibt mir hier nichts anderes übrig. Ihr Amerikaner weigert euch ja, irgendeine Sprache zu beherrschen, einschließlich eurer eigenen.“ Ihre fleißigen Hände ruhten keinen Augenblick. „Viele Frauen tun weniger, als es ihre Fähigkeiten erlauben. Ich frage mich, weshalb das so ist.“ Sie zuckte die Schultern. „Angst manchmal. Scham. Mangelndes Selbstbewusstsein, sans doute.“
Abigail war erschüttert. Nur wenige Menschen hatten bis dahin von ihrer geheim gehaltenen Behinderung gewusst, und kaum jemand hatte bisher ihren hässlichen, wenn auch zweckmäßigen schwarzen Stiefel gesehen. Seit sie alt genug war, um sich selbst zu waschen und anzukleiden, hatte niemand ihre Missbildung zu Gesicht bekommen.
„Dieser Fuß ist ein Geburtsfehler“, flüsterte sie der Französin zu.
Madame legte das Maßband aus der Hand, zog ihre Unterlippe herunter und zeigte ihre sehr unregelmäßig gewachsenen Zähne. „Und diese Zahnlücken sind ebenfalls ein Geburtsfehler.“ Sie setzte ihre Arbeit fort und rief ihren Assistentinnen die Maße zu. „Doch das kann mich nicht davon abhalten, meinen Mund aufzumachen, eh?“
Ganz auf Abigail konzentriert arbeitete sie weiter. „Cherie, ich mache Kleider, die schöner sind, als Sie es sich vorstellen können, doch das allerschönste Gewand wirkt hässlich, wenn man nicht die richtige Einstellung dazu hat. Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich mit Selbstbewusstsein wie mit einem unsichtbaren Umhang umgeben, wenn Sie meine Gewänder tragen. Falls Sie die Kleider mit der Haltung einer Besiegten tragen, können Sie auch gleich einen Kartoffelsack anziehen.“
Nach der Sitzung bei der Modeschöpferin ging Mr. Calhoun mit Abigail die Great Mall entlang. Ein morgendlicher Regenschauer hatte Gehwege und Straßen sauber gewaschen, und die Hausbesitzer fegten die Herbstblätter zu Haufen an den Rasenflächen zusammen. Die Smithsonian-Gebäude leuchteten im weichen Licht der Nachmittagssonne. Ein Schwarm Gänse flog in Pfeilformation hoch oben am Himmel, und eine Bande apfelbäckiger Kinder spielte Fangen auf dem Rasen.
„Hat Madame Ihnen gesagt, wann Ihre Gewänder fertig sein werden?“ erkundigte sich Jamie.
„Nein, doch sie versprach mir, sie bald fertig zu stellen. Ich fürchte, sie wird entsetzlich hohe Preise fordern. Ich hatte Angst, danach zu fragen.“
„Wahrscheinlich haben Sie Recht. Madame Broussards Kundinnen sind unter anderem Mrs. Vandivert, die First Lady und sämtliche Töchter des Präsidenten.“
„Dann habe ich mir ja eine schockierende Extravaganz geleistet“, meinte sie.
„Laut Auskunft Ihrer Schwester werden Sie schon gut damit zurechtkommen. “
„Was genau hat Helena Ihnen gesagt?“
„Sie behauptete, seit mindestens fünf Jahren hätten Sie Ihr Kleidergeld nicht angerührt.“
„Das hätte sie Ihnen nicht erzählen dürfen.“
„Hat sie auch nicht.“
Abigail warf ihm unter ihrer Hutkrempe einen prüfenden Blick zu. „Hat sie nicht?“
„Nein. Ihre Schwester ist zwar ein bisschen dumm, doch sie würde solch persönliche Informationen nicht preisgeben.“
„Woher wissen Sie denn dann,
„Ich habe es erraten.“ Er lachte. „Alles, was ich Sie bisher habe tragen sehen, war schätzungsweise fünf Jahre alt.“
Abigail schwieg und blickte ihn nicht an. Sie musste sich erst darüber klar werden, was sie von ihm halten sollte. Nur wenige Männer kannten sich mit Damenmode gut genug aus, um das Alter eines Kleides bestimmen zu können; allerdings begrüßten auch nur wenige Männer Französinnen so, als wären diese ehemalige Geliebte. „Sie sind ein furchtbarer Mensch!“
„Das stellten wir schon an jenem Abend fest, an dem wir uns begegneten.“
„Stört es Sie nicht, dass ich bei dieser Meinung geblieben bin?“ fragte sie.
„Gewiss stört es mich, Abby. Mir liegt doch an Ihrer Achtung.“ Ihr war klar, dass ihm nur wegen ihres Vaters etwas an ihrer guten Meinung lag, und sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte. „Nun, die gewinnen Sie nicht, indem Sie mit meinem Leben spielen und vorgeben, Ihnen liege etwas an mir.“
„Wer sagt denn, dass ich etwas vorgebe?“
„Ich!“
„Weshalb sollte ich?“
„Um sich bei meinem Vater beliebt zu machen.“
„Schuldig im Sinne der Anklage“, gab er zu. „Und - funktioniert es?“
„Schon möglich. Vater wird sich freuen, mich in neuer Kleidung zu sehen.“
Sie hörte ein Pfeifen, und dann lenkte ein rhythmisches, metallisches Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf eine geschäftige Baustelle: Die Baltimore and Potomac Railroad verlegte Schienen von Norden nach Süden quer über die Mall. Abigail warf Mr. Calhoun einen Blick zu und sah, wie er den aufgerissenen Boden betrachtete.
„Wahrscheinlich überlegen Sie, ob er Ihnen dankbar genug ist, um Ihre Sache zu unterstützen.“
„Ich will nur, dass Ihr Vater zur Kenntnis nimmt, was ich Ihnen Gutes getan habe. Ist das so schlimm?“
„Es handelt sich um Politik, nehme ich an. Tatsächlich genieße ich Ihre Aufmerksamkeit. Bisher hatte ich noch nie einen persönlichen Schmeichler.“ Sie senkte den Kopf, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Eine Hälfte von ihr wünschte nämlich, er wäre ehrlich an ihr interessiert, während die andere Hälfte loyal an Leutnant Butler festhielt.
„Sie brauchen nicht sarkastisch zu werden“, meinte Mr. Calhoun. „Sich bei jemandem lieb Kind zu machen ist der Schlüssel zum Erfolg in Washington. Ich habe mir in der Tat einen Plan ausgedacht, wie ich Ihrem Vater mein Anliegen nahe bringen kann.“
„Und was haben Sie vor?“
„Ihre ganze Familie wird das Thanksgiving-Fest auf der Albion-Plantage verbringen. Sie sind meine Gäste.“
Argwöhnisch sah sie ihn an. „So?“
„Helena und ich sind uns schon einig. Professor Rowan kommt auch mit.“
Abigail behagte die Vorstellung nicht sonderlich, doch sie hatte längst begriffen, dass ihre Meinung bei diesem Mann nicht zählte. Sie biss die Zähne zusammen, ging weiter und blickte geradeaus. Beinahe wäre sie mit einem rennenden Kind zusammengestoßen, das mit Stock und Kullerreifen ihren Weg kreuzte. Während Mr. Calhoun sie rasch am Ellbogen festhielt, kümmerte sich der Junge nicht weiter um die beiden, sondern lief seinem Reifen hinterher.
„Das ist doch etwas Großartiges.“ Abigail musste lachen. „Mit so viel wilder Entschlossenheit hinter einer einzigen Sache her zu sein.“
„Vermutlich wird der Knabe einmal Präsident“, meinte Mr. Calhoun.
Das Brüllen und Pfeifen der Rollwagenkutscher, Hufklappern und das Gewirr vieler Sprachen erfüllte nun die Luft. Eine Gruppe gut gekleideter Frauen, die ihren täglichen Spaziergang machte, kam vorbei. Abigail erkannte die Gattinnen von Senator Moreland und die des Kriegsministers. Die Damen grüßten nur sehr verhalten im Vorübergehen und drängten sich dann zusammen, um über die Begegnung zu tuscheln.
„Lösen wir vielleicht einen Skandal aus, indem wir ohne Begleitung herumlaufen?“ erkundigte sich Jamie.
„Ist das für Sie von Belang?“
„Was meinen Sie denn?“ Lachend fasste er ihren Arm und rieb mit dem Daumen über ihr Handgelenk. „Glauben Sie mir, Abby, falls Sie und ich jemals einen Skandal auslösen, dann gewiss nicht nur durch einen Spaziergang im Park.“