5. KAPITEL
Abigail fühlte kaum den Boden unter ihren Füßen, als sie freudig erregt die Treppe zum Salon hinaufstieg. Sie presste den Umschlag an ihre Brust und hätte ihn beinahe auch noch an die Lippen gedrückt.
Ein Brief von Leutnant Butler!
Helena eilte ihr hinterher. „Also Abigail, musst du denn so rennen? Das letzte Mal habe ich dich so laufen sehen, als dir von diesen Muscheln im Haus des spanischen Botschafters übel wurde.“
An jene peinliche Situation musste ihre Schwester sie in diesem Augenblick wirklich nicht erinnern! Abigail ging voraus in das heimelige Morgenzimmer und setzte sich auf das dunkelgrüne Sofa. Helena nahm ihr gegenüber in einem Ohrensessel Platz und faltete die Hände im Schoß.
„Also, was steht nun drin?“
Abigail holte tief Luft und versuchte, sich erst einmal wieder ein wenig zu fassen. Die Vorstellung, einen Brief von Boyd Butler erhalten zu haben, erfüllte sie mit Entzücken, obwohl sie genau wusste, dass dieser eigentlich Helena begehrte. Weshalb war sie dann nicht unglücklich? Weil sein Werben ihren Vater und ihre Schwester glücklich machen würde, und zwei zu drei war ja kein so schlechtes Ergebnis.
Helenas Neugier wegen Boyd Butler kam Abigail seltsam vor, denn gewöhnlich begegnete sie allen Freiern mit der gleichen Verachtung. Möglicherweise war es ja diesmal anders. Vielleicht wollte sie tatsächlich umworben werden.
Zu sehen, wie er Helena den Hof machte, war sicherer, als selbst das Objekt seiner Begierde zu sein. Auf diese Weise würde sie nicht riskieren müssen, sich zum Narren zu machen. Es war zwar nicht dasselbe, wie eine eigene Liebesaffäre zu haben, doch vielleicht war es besser, die sichere Seite vorzuziehen.
Jedenfalls redete Abigail sich dies ein, während sie in aller Ruhe das Siegel erbrach und den Umschlag öffnete. Sie versuchte, ihren leichten Arger auf Helena zu unterdrücken, die ihre Stickerei aufnahm und einen Faden durch das Muster zog. Dies war doch der Beginn einer Liebesgeschichte! Könnte ihre Schwester nicht ein bisschen Achtung vor der Sache an den Tag legen?
Wie gewöhnlich überließ Helena das Denken Abigail. Es hätte keinen Sinn, darauf hinzuweisen, dass dieser Brief die Privatkorrespondenz ihrer Schwester war und dass Abigail ihn eigentlich nicht lesen dürfte. Sie und Helena hatten bisher alles geteilt. Da sie beide von ständig wechselnden Kindermädchen und Hauslehrern erzogen worden waren, hatten sie beieinander Zuflucht gesucht. Ohne Mutter und bei einem Vater wie Franklin Cabot hatten sie es gelernt, zusammenzuhalten.
Abigail faltete den Brief auseinander. Der Bogen trug das goldgeprägte Siegel eines Marineoffiziers. „Er hat eine schöne, deutliche Handschrift“, stellte sie fest und merkte, wie Erregung sie durchströmte. Die Sache mit dem Verlieben ist schon eine gefährliche Angelegenheit, fast so etwas wie ein seltener Virus, dachte sie. Obgleich sie diesen Mann liebte, hatte sie nicht erwartet, dass die Empfindung so ... körperlich sein würde. Es besaß für sie einen merkwürdigen Reiz, seine Schrift zum ersten Mal zu sehen. Das war etwas Persönliches und Intimes, ein Blick auf eine Facette des Boyd Butler, die ihr bislang verborgen geblieben war.
„Natürlich hat er die“, meinte Helena. „So etwas lernt man doch auf der Marineakademie, nicht wahr?“
Vermutlich hat er die Schreibkunst schon beherrscht, lange bevor er zur Marine ging, dachte Abigail, schwieg jedoch. Sie holte tief Luft und begann vorzulesen.
,„Meine liebe Miss Cabot“.“ Sie unterbrach sich, als sie das Flattern in ihrem Herzen fühlte; sie war niemandes Liebe. Bei dieser Anrede hätte sie gleichzeitig lachen und weinen mögen. Sie holte noch einmal Luft und fuhr fort: „Es heißt, die schöne Helena von Troja habe mit ihrem Gesicht tausend Schiffe in Fahrt gebracht. Darf ich mir erlauben zu sagen, dass die Helena von Georgetown ein Gesicht hat, das die gesamte Flotte der Vereinigten Staaten in Fahrt zu bringen vermag?“
Sobald sie den Namen ihrer Schwester laut gelesen hatte, verwandelte sich Abigail in eine Maschine, in ein gepanzertes Reptil, das keinen Gefühlen zugänglich war.
Obgleich sie gewusst hatte, dass Leutnant Butler Helena begehrte, hatte sie sich bis gerade eben einbilden können, die zarten Worte wären für sie bestimmt. Ohne ihre Stimme zu verändern, las sie weiter, doch in ihrem Inneren verwandelte sich alles zu Eis. Dies war ein Liebesbrief an ihre Schwester, und nicht an sie! ,„Ich denke immer nur an Sie, ob beim Exerzieren oder beim Morgenappell. Falls Sie mir auch nur den geringsten Bruchteil meiner Bewunderung für Sie zurückzugeben geneigt sind, würde ich mich als den privilegiertesten aller Männer betrachten.““
Während sie vorlas, warf Abigail hin und wieder einen verstohlenen Blick auf ihre Schwester. In dem diffusen Licht des spätherbstlichen Morgens wirkte Helena wie eine Göttin aus einer anderen Welt, in der es nichts Hässliches und keine Missbildungen gab. Die kupferfarbenen Locken umrahmten ein perfektes, wie Porzellan schimmerndes Gesicht, das jetzt bewusst einen Ausdruck höflichen Interesses angenommen hatte. Dennoch stickte sie weiter, als führten ihre Hände ein Eigenleben.
Abigail bemühte sich, ihre unsägliche Enttäuschung im Zaum zu halten, und las weiter vor, obgleich sie der Schluss des Briefes beinahe umbrachte. ,„Sie halten mein Herz wie einen Kristall in Ihren schlanken Händen ...““ Abigail schaute auf ihre eigenen kleinen, etwas breit geratenen Hände hinunter, bis die Worte auf dem Briefbogen verschwammen. Erst dann blinzelte sie ein paarmal, um wieder klar sehen zu können, und blickte zu ihrer Schwester hoch.
Helena verschränkte die Hände in ihrem Schoß. „Wie reizend“, meinte sie. „Wie tief empfunden und entzückend.“ Sie runzelte die Stirn, als sie Abigails Miene sah. „Geht es dir nicht gut? Du siehst ein bisschen blass aus, Liebling.“
„Mir fehlt nichts.“ Abigail faltete die Seiten so andächtig zusammen, als hielte sie eine heilige Reliquie in den Händen.
„Und von wem, sagtest du, ist dieser Brief?“ fragte Helena. Abigail hätte das Schreiben beinahe zerknüllt, als sie es in den Umschlag zurücksteckte. „Oh, um alles in der Welt! Bist du so abgehärtet gegen Männerherzen, die dir zu Füßen liegen, dass du schon den Überblick verloren hast? Vielleicht sollten wir Buch über deine Eroberungen führen oder eine Strategiekarte anlegen, wie die in Vaters Arbeitszimmer, nur dass wir statt der Wählerblocks jeden deiner ..."
„Abigail, bitte.“ Helena drückte sich ein Taschentuch gegen die Wangen. „Ich wollte doch nicht schnippisch sein. Weshalb bist du nur so verstört? Das sieht dir gar nicht ähnlich.“
Abigail knirschte mit den Zähnen. „Selbstverständlich wolltest du es nicht. Aber ich! Sei ehrlich. Hast du wirklich vergessen, welcher Mann seine Seele vor dir ausgebreitet hat?“
Helena biss sich auf die Unterlippe. „Entweder war es Mr. Troy Barnes oder Leutnant Butler. Beide erkundigten sich ... nun, du weißt schon.“
Abigail wusste durchaus Bescheid. Seit Helena ins heiratsfähige Alter gekommen war und die vornehme Welt damit schockierte, dass sie sich nicht zu einer vorteilhaften Ehe entschließen mochte, hatte sie ständig Liebesbriefe bekommen.
„Er ist von Leutnant Butler.“ Abigail warf den Brief in Helenas Schoß. „Leutnant Boyd Butler.“
„Natürlich. Der Mann aus Annapolis.“
„Der Sohn des Vizepräsidenten.“
„Er tanzt wie ein Prinz.“
„Und er schreibt wie ein Dichter.“ Abigail stand auf und lief erregt hin und her. „Du darfst ihn nicht von dir weisen, Helena. Diesmal nicht. Er ist viel zu wichtig. Du hast Vater doch heute Morgen gehört. Eine Verbindung mit den Butlers würde ihm alles bedeuten.“
„Gewiss, nur versuche ich mich zu erinnern, warum ich meine Aufgabe darin sehen sollte, es Papa recht zu machen.“
„Helena!“
„Das war ziemlich ungezogen von mir, nicht wahr?“ Helena verfiel in verträumtes Schweigen; sie schien in Gedanken bei irgendetwas Wichtigem und Rätselhaftem zu sein.
Abigail hingegen konnte sich nicht beruhigen. Während sie ohne Widerrede versuchte, das Richtige zu tun, schwankte Helena zwischen Tochterliebe und offener Rebellion. Das Resultat war für beide Frauen dasselbe. Ihr Vater war zwar niemals grausam zu ihnen, behandelte sie jedoch mit zurückhaltender Höflichkeit, die in sich schon etwas Grausames hatte.
„Er will eine Antwort haben.“ Abigail schaute auf den Brief in Helenas Hand. „Er bittet - er fleht! - darum.“
Helena ließ das Schreiben auf ein Tischchen fallen und nahm ihre Stickerei wieder auf. „Gewiss, nur könnte ich nie ... Ach, du kennst mich doch, Abigail. Ich habe einfach kein Talent für so etwas. Mir fehlen dafür die richtigen Worte. Ich brauche dich, Liebling.“ Sie hob die Schwester bekümmert an. „Würdest du so nett sein?“
Abigail wandte sich zum Fenster, so dass Helena ihr Gesicht nicht sehen konnte. Am liebsten hätte sie abgelehnt, doch das ging nicht. Falls sie den Brief nicht schriebe, würde Helena sich irgendeine schonungslose Zurückweisung für Butler einfallen lassen und diese einer Sekretärin ihres Vaters diktieren, die dann die Angelegenheit mit mehr oder weniger Takt und Diskretion erledigen würde. Vor mehreren Jahren hatte sie eine gewissenlose Bedienstete damit beauftragt, einen Freier abzulehnen, und die Geschichte war dann am nächsten Tag in der „Post“ zu lesen gewesen.
Abigail ertrug den Gedanken nicht, dass Leutnant Butler ebenso behandelt wurde. Zwar hatte sie allen Anlass, ihm zu grollen, doch so etwas brachte sie nicht fertig. Ihm böse zu sein, weil er sich in Helena verliebt hatte, wäre dasselbe, als nähme sie es den Herbstblättern übel, dass sie herunterfielen und die ziegelgepflasterten Straßen von Georgetown verschmutzen.
„Und was soll ich ihm schreiben?“ wollte sie von ihrer Schwester wissen.
„Sage ihm, ich sei entzückt, von ihm zu hören, und teile seine Gefühle.“
„Was du jedoch nicht tust“, stellte Abigail fest. Dann fragte sie erschrocken: „Oder etwa doch?“
„Wahrscheinlich nicht. Aber wie du ganz richtig sagtest - dies ist wichtig für Papa. Denk nur daran, wie zufrieden er mit mir wäre, falls ich tatsächlich das Herz von Leutnant Barnes gewinnen würde.“
„Butler.“ Abigail hatte an nichts anderes gedacht. Würde sie es ertragen, wenn er ihre Schwester heiratete? „Und was hast du mit seinem Herzen vor? Es in deine Sammlung aufnehmen?“
„Abigail, du kennst mich doch besser. Ich denke an Papa, und das solltest du ebenfalls tun.“
„Glaube mir, Helena, ich denke an Vater.“
„Dann tust du es also? Du schreibst diesen Brief?“
„Heute Nachmittag muss ich nach Foggy Bottom.“
„Dann wenn du zurückkommst. Bitte, Abigail! Es würde mir so viel bedeuten.“
„Nun gut, doch nur, wenn du mir sagst, was ich schreiben soll.“ Helena warf ihre Stickerei in den Handarbeitskorb und stand auf. „Ach, wie ich mir wünschte, ich hätte deinen Kopf, um die passenden Worte finden zu können! Du wirst schon genau das Richtige schreiben, das weiß ich, Abigail. Das tust du ja immer.“ Sie umarmte ihre Schwester inniglich und eilte aus dem Raum.
Abigail stand reglos da. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als den Brief zu schreiben und sehr diskret damit umzugehen. Wie ein ungebetener Gast tauchte plötzlich die Erinnerung an den vergangenen Abend vor ihrem geistigen Auge auf. Da war etwas gewesen, das James Calhoun zu ihr gesagt hatte:
„Weshalb, meinen Sie, heißt es, man sei in Liebe ,entbrannt“? Wenn Sie tatsächlich in Liebe entbrannt wären, würden Sie es merken. Sie würden weinen.“
Abigail weinte nicht, obwohl sie sich danach fühlte. Möglicherweise war es ja das, was Mr. Calhoun gemeint hatte.