13. KAPITEL
Während der Fahrt nach Albion war Jamie überraschend unruhig. In der geräumigen Mietkutsche spielte er für vier Gäste - Franklin Cabot mit seinen beiden Töchtern und Professor Rowan - den Gastgeber. Er hatte das ganze Unternehmen arrangiert, um bei dem Senator Eindruck zu machen, doch statt sich als Sieger zu fühlen, bedrückte ihn der Gedanke daran, wie viel dabei auf dem Spiel stand. Natürlich ließ er sich das nicht anmerken.
„Hier ist das umstrittene Land, Senator. Das wollen die Eisenbahngesellschaften für sich beanspruchen.“ Er deutete auf die ausgedehnten Felder der Farmer. Hier wohnten arme, einfache Familien, kleine Farmpächter und ehemalige Sklaven, die sich um die Ernten kümmerten und Rinder züchteten. Die Eisenbahngesellschaft wollte den Großteil des Tals übernehmen, um sich über ganz Virginia auszudehnen und Handelswege bis ans Ufer der Chesapeake Bay zu schaffen, wo dann Flussboote und seegängige Schiffe die Verbindung über das Meer schließen konnten.
Der Senator hielt den ledernen Windschutz zur Seite und rieb sich nachdenklich übers Gesicht. Er betrachtete das fruchtbare Tiefland, das unzählige Gezeiten erlebt hatte, er sah die Reis- und Indigofelder und die vereinzelten Katen, die inmitten der Felder lagen.
„Wie Sie sehen, ist es ein kostspieliges Unternehmen, wenn man die Dränage- und die Erschließungskosten bedenkt, die notwendig sind, um die Schienen verlegen zu können“, bemerkte Jamie. „Wie hoch werden die Kosten für die Meile veranschlagt?“
Cabot zog die Augenbrauen zusammen. „Worauf wollen Sie hinaus?“
„Ich frage mich nur, Sir - wenn dies Unternehmen so gewinnträchtig ist, weshalb übernimmt dann nicht eine private Eisenbahngesellschaft die Kosten?“ Jamie spürte Abigails Aufmerksamkeit. Er wusste, dass sie nicht verstand, weshalb er gegen die Expansion war. Als reicher Landeigner müsste er ihrer Ansicht nach so etwas doch eigentlich befürworten. Doch das konnte er nicht, und er musste ihren Vater überzeugen, mit ihm einer Meinung zu sein.
„Genau das fragen mich meine Gegner im Kongress auch immer gern“, erwiderte Cabot. „Sie übersehen dabei die vielen Vorteile der Eisenbahnexpansion in diesem Staat. Jahrelang hat man sich wärmstens für die Ausdehnung nach Westen eingesetzt, doch wenn wir uns um unseren eigenen Staat bemühen sollen, wollen wir nicht investieren. Das muss anders werden.“
Jamie nickte höflich. „Deswegen kam ich ja nach Washington - um die Dinge zu ändern.“ Er deutete auf die ausgedehnten, dunstverhangenen Felder, auf denen hier und da noch Korngarben standen. In der Ferne mühte sich ein Farmer mit dem von einem dürren Maultier gezogenen Pflug ab, während seine Kinder hinter ihm herumtollten.
Jamie hätte sich kein besseres Anschauungsmaterial für den Senator wünschen können; so sah das amerikanische Leben auf der niedrigsten Ebene aus.
„Dieser Mann dort gehört genauso zu Ihrem Wahlvolk wie die Eisenbahngesellschaften“, sagte Jamie. „Und sogar noch mehr. Die Eisenbahnen werden von Industriellen aus Pennsylvania und New York betrieben. Dieses Land hier wird von den Menschen aus Virginia bearbeitet. Und nun erklären Sie mir, welchen Nutzen die Eisenbahn für sie haben sollte.“
Cabot lehnte sich in seinem Ledersitz zurück und legte die behandschuhten Hände über seinen Knien zusammen. „Ich bewundere Ihren Ehrgeiz, Mr. Calhoun, doch ich möchte Sie daran erinnern, dass Politik ein kompliziertes Geschäft ist. Allianzen sind etwas sehr Zerbrechliches; sie ändern sich mit der Windrichtung, und man muss sie mit Feingefühl und Geschick aufbauen.“
„Ein ausgezeichneter Rat, Sir.“ Jamie bemühte sich, nicht in den gleichen gönnerhaften Ton zu verfallen. „Ich freue mich, an Ihrer Weisheit und Erfahrung teilhaben zu können.“
Abigail hielt sich ein Spitzentuch vor den Mund, um einen Aufschrei zu ersticken.
„Ich hoffe, du bist nicht gegen Seeluft allergisch.“ Ihr Vater blickte sie finster an.
„Nicht doch.“ Sie sah aus, als hätte sie sich am liebsten unter den Polstern verkrochen. „Es ist nur ein wenig stickig hier drinnen.“
Jamie hätte sie in diesem Augenblick am liebsten erwürgt. „Nur keine Sorge, Miss Cabot“, beruhigte er sie. „Wir sind gleich da.“
Jamies Gäste reagierten auf Albion, wie er es erwartet hatte - mit angemessener Bewunderung. Das Haus lag auf einer leichten Anhöhe am Meer und war eingetaucht in das geheimnisvoll anmutende Licht der See, das typisch war für die Chesapeake Bay. Hier hatte er seine Kindheit verbracht.
Immergrüne Eichen bildeten einen Baldachin über der langen, geraden, zum Haupthaus führenden Auffahrt. Zu beiden Seiten dehnte sich von endlosen weißen Zäunen eingerahmtes Weideland, das sich über die sanften Hügel bis hinunter ans Meer zog.
Stuten und Jährlinge, die über die höher gelegenen Weiden tollten, hoben den Kopf, als sie den Geruch und die Geräusche der herankommenden Kutschpferde wahrnahmen.
Der Kutscher lenkte den Wagen bis vors Haus. Die mit zerkleinerten Austernmuschelschalen bestreute Auffahrt knirschte unter den eisenbeschlagenen Rädern.
Zwei Diener kümmerten sich um die Gäste. Freundlich, aber auch unterwürfig klappten Seamus und Will die Wagenstufen heraus und halfen den Damen beim Aussteigen. Helena lächelte anerkennend über das altmodische Verhalten der Diener, denen bei ihrem Anblick der Mund offen stehen blieb. Wie nicht anders zu erwarten, ließ sich Abigail beim Aussteigen kaum helfen.
Jamie beobachtete sie, wie sie den Kopf zurücklegte und mit einer Hand ihren Hut festhielt, um Albion zu betrachten. Das imposante Gebäude mit den hohen Fenstern, den schlanken Säulen, die den Eingang flankierten, und der den Linien eines antiken griechischen Tempels nachempfundene Ziergiebel - all das spiegelte sich in ihrem erstaunten Blick.
„Das ist also Ihr Familienbesitz“, bemerkte sie. „Ein sehr hübsches Anwesen.“
Rowan strich sich über den Bart und sah sich die handgeschnitzte Verzierung an, die sich über die gesamte Länge der Veranda zog. „Ich sollte Ihnen eine höhere Miete berechnen, Calhoun.“ In diesem Moment öffnete sich die Vordertür, und Jamies Eltern erschienen. Kerzengerade standen sie da. Sein Vater trug einen maßgeschneiderten Gehrock mit dazu passender, eleganter Hose, und seine Mutter sah in dem Gewand aus goldfarbenem Satin hinreißend aus. Die beiden lächelten ihnen ein herzliches Willkommen zu, und keinem der Gäste schienen die winzigen Details aufzufallen, die Jamie umso deutlicher ins Auge fielen: Falten der Unzufriedenheit zeigten sich im Gesicht seiner Mutter, und in den Augen seines Vaters erkannte er die Wirkung des morgendlichen Schlucks Whiskey.
Jamie atmete tief durch, um sich zu wappnen. Das Wochenende schien ihm plötzlich endlos lang zu sein.
„Jamie war für uns stets eine wahre Prüfung“, erklärte Tabitha Calhoun allen Anwesenden, doch ihr reizendes Lächeln schwächte die Aussage ein wenig ab. So merkte niemand, dass der Kommentar eine schwere Missbilligung war. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche angenehme Überraschung es für uns ist, ihn jetzt in so ausgezeichneter Gesellschaft zu wissen, nun, da er in Washington ist.“
Gemessenen Schrittes, der dem einer Brautjungfer glich, führte sie die Gäste in den Salon und bat sie, sich zu setzen. Jamies Vater klopfte ihm auf die Schulter. „Habe ich dir nicht gleich gesagt, dass eine Legislaturperiode im Kongress genau das Richtige wäre?“ Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: „Ich konnte es ja nicht mehr mit ansehen, wie du dich wegen Noah zu Tode grämtest.“
„Was du nicht sagst“, murmelte Jamie zähneknirschend. Er hatte Schlimmeres erwartet. Doch als er einen Blick zu Abigail warf und sah, wie sie ihn beobachtete, fragte er sich, ob es ein Fehler war, dass er sie hierher gebracht hatte. Anders als alle anderen schien sie ihn und sein heftiges Bestreben zu verstehen, ein Teil dieses Platzes zu sein, an dem man ihn nie hatte haben wollen. Es war schon beunruhigend, dass es jetzt eine Person in seinem Leben gab, die ihn so klar durchschaute. Jamie wusste nicht recht, ob ihm das behagte.
Bei einem fürstlichen Abendessen unterhielten Charles und Tabitha Calhoun die Cabots mit köstlichen Anekdoten über ihr Haus, ihre Pferde und die Nachbarn. Jamie hätte den Charme seiner Eltern nie anzweifeln sollen, der umso mehr hervortrat, wenn für sie Anlass bestand, Eindruck zu machen und, im Fall seines Vaters, je öfter er einen Schluck aus der Silberflasche nehmen konnte, die sich stets in seiner Reichweite befand.
Jamie betrachtete seine Eltern wie nicht besonders interessante Fremde. In jüngeren Tagen besaß Charles den Ruf, leichtfertig und wenig ehrgeizig zu sein. Vor ungefähr dreißig Jahren hatte er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau, und als diese starb, verlor er den Boden unter den Füßen, bis sein Vetter Hunter, der damals der Herr von Albion war, ihn mit einem neuen Unternehmen beschäftigte, über das der ganze Landkreis tuschelte.
Während auf den meisten Plantagen Tabak, Baumwolle, Indigo oder Reis angebaut wurden, züchtete Albion Rennpferde irischer Abstammung. Das Unternehmen war ein großes Risiko, warf je- doch schließlich enorme Profite ab. Und Charles Calhoun brachte es die hübscheste, betuchteste Debütantin der ganzen Region ein.
Einzig Tabitha Parks Schwester kam ihr in Reichtum und Schönheit gleich. Tabby und Prissy, wie die beiden genannt wurden, erschienen Jamie immer wie Frauen, die nicht ganz in die gegenwärtige Welt passten. Seine Tante und seine Mutter waren dazu geboren und erzogen worden, Plantagenherrinnen zu sein, doch der „Krieg zwischen den Staaten“, der amerikanische Bürgerkrieg, änderte ihr Leben unwiderruflich. Sie bemühten sich zwar sehr, die neue Ordnung der Dinge zu akzeptieren, doch Jamie hegte den Verdacht, dass sie sich nie ganz damit abfinden konnten, Dienstangestellte und Arbeiter zu haben, die kommen und gehen durften, wie sie wollten.
Da Albion als erstrangige Zuchtfarm an der Ostküste galt, hätte eigentlich jeder glücklich sein sollen, und so war es auch eine Zeit lang, bis Jamie alt genug war, um zu merken, dass sein Vater und seine Mutter nicht mehr auf das wahre Glück hofften.
Jamie wusste, dass seine Eltern ihn auf zurückhaltende Weise liebten, ihn jedoch auch mit gewisser Neutralität ansahen, als betrachteten sie eines ihrer Preispferde. In allen Einzelheiten diskutierten sie seine Stärken und seine Grenzen. Ihre Anforderungen an ihn waren enorm. Er erinnerte sich nicht, jemals für etwas anderes gelobt worden zu sein als für perfekte Leistungen.
Oft genug drückte seine Mutter ihre Enttäuschung darüber aus, dass er ein Einzelkind blieb. Als er schließlich alt genug war, um zu verstehen, dass man dies als große Familientragödie betrachtete, beschloss er, etwas dagegen zu tun. Mit der Aufrichtigkeit und der mangelhaften Logik eines Achtjährigen machte er sich auf, der Welt zu erklären, dass er überhaupt kein Einzelkind war. Er hatte nämlich einen älteren Halbbruder namens Noah Calhoun, der damals fünfundzwanzig Jahre alt und der erfolgreichste Jockey des Landes war. Jamie schrieb darüber einen Brief an die Chesapeake Review, und als dieser dann veröffentlicht wurde, geriet die gesamte Region in Aufruhr.
Jamie hatte Noah stets vergöttert, und es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, dass seine Mutter den Sohn, den Charles Cal- houn mit einer Sklavin gezeugt hatte, vielleicht nicht anerkennen wollte. Doch Tabitha erlitt daraufhin einen Anfall von Schwermut, der sie schließlich drei Monate ans Bett fesselte.
Im darauf folgenden Jahr schickte man Jamie fort von Albion. Man schrieb ihn in einer muffigen, ehrwürdigen Akademie für Knaben in Philadelphia ein, und er kam nur für eine Woche zu Weihnachten und in den Sommerferien heim. Von da an bestand seine Jugendzeit aus einer Folge von erzwungenen Abreisen, obgleich er doch nur daheim sein, auf dem Land leben, etwas anbauen, Rennpferde züchten und abends auf der Veranda sitzen wollte, um die Sterne betrachten zu können.
„Du bist sehr still, mein Sohn“, stellte seine Mutter fest und setzte sich zu ihm auf die breite vordere Veranda. „Das sieht dir gar nicht ähnlich.“
Er nahm ihre Hand, die so schmal und gepflegt war wie die einer Königin. „Ich genieße nur den Ausblick, Mutter.“
„Ich liebe es auch, wenn Albion in allen Herbstfarben leuchtet. Die Blätter der Pappeln werden dann so herrlich golden.“
„Sie haben wirklich ein wunderschönes Anwesen“, stellte Senator Cabot fest, der mit seinem Gastgeber auf die Veranda trat.
Ein Diener erschien mit einem Feuchthaltebehälter aus Teakholz. Charles nahm sich eine Zigarre heraus und bot dann Jamie und Cabot eine an.
„Wahrscheinlich erscheint Ihnen unser kleines Stück Virginia recht provinziell nach der Betriebsamkeit in der Hauptstadt“, meinte Charles.
„Das ist gerade der Schlüssel zu seinem Charme“, erwiderte Cabot, holte seinen silbernen Zigarrenabschneider aus der Tasche und stutzte dann mit einer raschen und gekonnten Bewegung die Zigarre. „Sie können sich glücklich schätzen, ein solches Anwesen zu besitzen.“
„Zu schade, dass du nicht länger bleiben kannst.“ Tabitha lächelte ihrem Sohn zu. „Doch ich weiß ja, dass du deine Pflichten in der Hauptstadt hast.“
„So ist es, Ma’am.“ Darauf lief es immer hinaus; man erinnerte ihn daran, dass er in diesem Haus nur ein Gast war. Doch wenn er ein Gast in seinem eigenen Haus und ein Untermieter in Rowans Stadthaus war - wohin gehörte er dann überhaupt?