30 KAPITEL

Abigail wollte direkt zu Jamie gehen, doch als sie in die Dumbarton Street zurückkehrte, befand er sich nicht mehr im Haus und hatte auch nicht hinterlassen, wann er zurückkommen wollte. Auch gut, dachte sie; sie musste ohnehin noch eine Sache erledigen, die das Ehrgefühl erforderte.

Die Fahrt nach Annapolis und das Treffen mit Boyd nahm den ganzen folgenden Tag in Anspruch, und bei ihrer Heimkehr fühlte sie sich derart ausgelaugt und unwohl, als käme sie gerade von einer Beerdigung. Boyd hatte ihre Entscheidung mit militärischer Würde und einer Andeutung von Erleichterung akzeptiert. Offenbar litt er auch in Bezug auf die Eheschließung unter dem Druck der Pflichterfüllung.

Das Schwierigste stand Abigail jedoch noch bevor, und das würde sich ergeben, wenn ihr Vater heimkehrte. Sie begab sich in Helenas Zimmer, weil sie deren moralische Unterstützung brauchte.

Helenas Raum indes war leer, abgesehen von dem Duft ihres Parfüms, der noch in der Luft hing. Weil sie den ganzen Tag in einer Mietkutsche eingesperrt gewesen war, ging Abigail unruhig im Zimmer auf und ab und tat, als könnte sie gleiten wie ein Schlittschuhläufer. Neuerdings dachte sie kaum noch an ihre Behinderung, doch möglicherweise narrte sie sich auch nur selbst und war in Wahrheit so tollpatschig wie zuvor.

Schon bei diesem Gedanken blieb ihr Fuß prompt an der Teppichkante hängen. Abigail stolperte und fing den Sturz mit beiden ausgestreckten Händen ab, wobei sie den Frisiertisch umriss. Flaschen und Parfümzerstäuber rollten über den Fußboden.

Hoffentlich kommt Dolly jetzt nicht, um nachzuschauen, was solchen Lärm gemacht hat, dachte sie und ging in die Hocke, um die Sachen aufzusammeln. „Lerne ich es denn nie?“ murmelte sie enttäuscht vor sich hin.

Eine alte Zigarrenschachtel mit Schreibpapier hatte unter dem Volant der Decke des Frisiertischs gelegen, und die war ebenfalls zu Boden gefallen. Abigail wollte das Papier schnell wieder in die Zigarrenschachtel zurückstecken, doch dann hielt sie inne, und ihre Stirn legte sich in Falten.

In fast kindlicher Handschrift hingekritzelt, bedeckte Zeile um Zeile Helenas Name die Seiten:

 

Miss Helena Cabot

Mrs. Michael Rowan

Mrs. Rowan...

 

Trotz ihrer eigenen Probleme empfand Abigail größtes Mitgefühl mit ihrer Schwester. Helena tat immer so, als kümmerte sie ihre Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben nicht im Geringsten. Abigail bot ihr ständig Hilfe an, doch ihre Schwester schüttelte immer wieder den Kopf und behauptete, sie sei ein hoffnungsloser Fall. „Ich bin eine erwachsene Frau; wenn ich es bis jetzt nicht gelernt habe, lerne ich es auch nicht mehr.“

Doch was Abigail jetzt gefunden hatte, bewies, dass es auch für Helena Dinge gab, die außerhalb ihrer Reichweite lagen.

Gerade als sie mit dem Kaminbesen die Glasscherben zusammenkehrte, kam Helena mit einer großen Holzkiste herein.

„Abigail? Dolly und ich dachten, wir hätten etwas gehört - oh!“ Sie blieb bei der Tür stehen und sah den umgekippten Tisch, die zerbrochenen Flaschen und die Schachtel mit dem Schreibpapier. Ein fiebriges Rot stieg ihr in die Wangen. Wortlos stellte sie die Holzkiste aufs Bett, ging durchs Zimmer und richtete den Tisch wieder auf.

„Helena, es tut mir sehr Leid. Ich suchte dich, und dabei habe ich den Tisch umgestoßen. Es war keine Absicht.“

„Gewiss.“ Helena stellte den Tisch gegen die Wand, an der ein Spiegel hing.

Abigail holte tief Luft. „Ich wünschte, du ließest dir von mir helfen...“

„Dieses Thema hatten wir doch schon. Es hat sich nichts geändert. Ich habe noch immer keinen Kopf fürs Lernen, und so wird es auch bleiben.“

„Ich habe mich geändert“, erklärte Abigail und schob die Zigarrenschachtel wieder unter den Volant der Tischdecke. „Ich gebe zu, es war nicht leicht, doch ich habe damit aufgehört, mir von meinem Fuß und meiner Schüchternheit die Freude am Leben verderben zu lassen. Der Unterschied bestand nur darin, dass ich mein Problem nicht unter der Tischdecke verstecken konnte. Ich könnte dir wirklich helfen, und was ist mit Professor Rowan?“

„Michael ist ein kluger Mann; eine dumme Gans wie mich würde er niemals tolerieren.“

„Gib ihm eine Chance. Vielleicht überrascht er dich.“

„Diese Chance habe ich ihm schon gegeben. Angeblich hat er mit mir Schluss gemacht, weil ihm sowohl das Vermögen als auch die gesellschaftliche Stellung für eine Cabot fehlt. Der wirkliche Grund ist jedoch ein anderer. Er weiß genau, dass er sich nach einiger Zeit mit mir langweilen würde.“

Da Abigail etwas in der großen Holzkiste auf dem Bett scharren hörte, lugte sie hinein. Ein rosa Näschen reckte sich ihr zuckend entgegen. „Er hat dir Sokrates geschenkt?“

„Das ist auch das Einzige, was er mir je geschenkt hat.“ Helena verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Nun ja, praktisch das Einzige. Jetzt jedenfalls hat er eine Stellung an einem Frauen-College im Norden angenommen. Er wird bald abreisen. Ich nehme an, er dürfte recht glücklich sein, wenn er an einem Institut mit tausend reichen und jungen Frauen lehren kann, die ihn wie einen Gott behandeln.“

Abigail schaute sie verwundert an. „Er verlässt uns?“

„So ist es.“

„Ich hatte angenommen, ihr beide ... Helena, du liebst ihn doch. Du darfst ihn nicht fortgehen lassen!“

„Das habe ich bereits getan.“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Mein Entschluss steht fest. Ich werde Mr. Barnes ehelichen.“

„Senator Troy Barnes?“

„Genau den.“

„Du kennst den Mann doch gar nicht.“

„Das wird sich bald ändern, nicht wahr?“ Helena berührte flüchtig ihren Leib, und dann machte sie für Sokrates Platz auf der Fensterbank.

Von der Straße her hörte man ein schwaches Pfeifen. Zwei Etagen tiefer ging die Haustür auf. Abigail eilte ans Fenster und zog den Spitzenvorhang zur Seite. Sie merkte, dass sich ihr der Magen verkrampfte.

„Vater ist heimgekehrt“, verkündete sie.

 

Abigail vergewisserte sich, dass jedes Haar bei ihr richtig saß, jede Falte ihres Gewandes so fiel, wie es sein musste, und dass alle Spuren ihrer Unruhe verbannt waren. Dann atmete sie tief durch und klopfte mutig an die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters.

„Ja, bitte?“

Abigail trat ein. Der Senator saß an seinem massiven Schreibtisch und las die „Post“. Jetzt legte er sie zur Seite und bedachte seine Tochter mit einem Lächeln. Einen Augenblick lang blieb Abigail einfach stehen und genoss dieses Lächeln, denn sie wusste, dass es sich in Wut verwandeln würde, nachdem sie ihr Geständnis abgelegt hatte. „Hast du einen Moment Zeit für mich, Vater?“

„Gewiss. Sicherlich warst du mit deinen Plänen beschäftigt. Ich vermag dir gar nicht zu sagen, wie froh ich bin, dass die Butlers für eine kurze Verlobungszeit sind.“

„Darüber muss ich mit dir reden.“ Abigail bemühte sich, ganz ruhig zu sprechen.

„Gibt es ein Problem wegen des Datums? Mrs. Butler legte besonderen Wert auf den Heiligabend, und ich hoffte ...“

„Vater!“ Sie unterbrach ihn, und ihr scharfer Ton erschreckte sie beide. „Es fällt mir nicht leicht, dir dies mitzuteilen, doch nach reiflicher Überlegung und mit größtem Missbehagen habe ich zu meinem Bedauern die Verlobung mit Leutnant Butler gelöst.“

Die Wangen ihres Vaters röteten sich leicht, und frostige Kälte schien sich wie Raureif über seinen Blick zu legen.

„Wie bitte?“

„Ich kann ihn nicht heiraten. Heute bin ich nach Annapolis gefahren, um es ihm persönlich zu sagen.“ Sie dachte daran, wie Boyds Gesicht erstarrt war, dass sich jedoch unter seiner Bestürzung auch eine Spur Erleichterung gezeigt hatte. „Leutnant Butler ist ein junger Mann, den viele Leute mögen. Er bekundete zwar seine Enttäuschung, doch ich spürte auch, dass er ein wenig erleichtert war.“

Franklin Cabot drückte die Hände flach auf die grüne Schreibunterlage. „Unsinn, Mädchen! Du darfst diese Hochzeit nicht ab- sagen. Du leidest einfach nur wie alle Bräute unter einem Anfall von Angst und Unruhe.“

„Daran liegt es nicht, glaube mir. Ich kenne den Unterschied. Was ich für Liebe hielt, war schlicht und einfach Wunschdenken, Vater.“ Sie blickte ihm in die Augen und erwartete, dass der Blitz sie jetzt träfe. Doch nichts dergleichen geschah. „Und ein großer Teil meines Wunschdenkens hatte nichts mit dem Leutnant und noch weniger mit Heirat zu tun, sondern damit, dass ich es dir recht machen wollte.“

„Es mir recht machen?“ Er hob die Augenbrauen, und in diesem Moment erkannte sie in ihm einen Mann, der zutiefst verunsichert war.

„Es scheint dich zu erstaunen, dass mir das nicht gleichgültig ist“, sagte Abigail.

„Ich habe nie verlangt, dass du es mir recht machst. Dich und deine Schwester drängte ich nie, euch gut zu verheiraten. Meinst du, ich hätte nicht den Klatsch und die Spekulationen gehört, dass mit dir irgendetwas nicht stimmte oder dass ich nicht in der Lage sei, eine Mitgift bereitzustellen? Dennoch zwang ich dich nie, dir einen Gatten zu suchen. Verdammt, Abigail, ich habe doch gewartet, bis du zu mir kamst und mir deine Pläne unterbreitetest.“

Noch nie hatte Abigail ihren Vater fluchen hören; trotzdem wollte sie keinen Rückzieher machen. Ihr Mangel an Aufrichtigkeit hatte ihr jede Menge Ärger eingebracht, und nun hatte sie genug von solcher Rücksichtnahme. „Du hast vielleicht nicht ausdrücklich von mir verlangt, zu heiraten, doch den Erwartungsdruck spürte ich trotzdem.“

„Wirklich?“

Abigail atmete tief durch. „Ich stimmte der Heirat zu mit nur einem einzigen Ziel vor Augen: Ich wollte, dass du stolz auf mich bist. Und weißt du, was ich am bestürzendsten finde? Dass es tatsächlich so war. Sobald ich mich so verhielt, wie du wolltest, überschüttetest du mich mit Liebe und Stolz.“

„Natürlich war ich stolz auf dich. Der Mann ist schließlich ein Butler. Er hätte im ganzen Land jede Braut haben können, doch er erwählte dich.“ Der Senator drehte sich zu dem Ölgemälde an der Wand seines Arbeitszimmers um. Heiter und gelassen, ewig jung und ewig schön, schaute Beatrice Cabot von der Leinwand herunter. „Mir scheint, du hast zu viel vermutet, ohne mich zu fragen.“ Als er Abigail wieder ansah, wirkte sein Gesicht seltsam gequält. „Über diese Verbindung war ich ungemein froh, weil ich glaubte, du seist endlich glücklich. Das war doch alles, was ich für dich wollte.“

Die Kälte, die Abigail in ihrem Inneren gespürt hatte, wurde zu heißem Zorn. Wie viele Jahre hatte sie verschwendet, und wie viele Qualen hatte sie auf sich genommen in dem Versuch, es ihrem Vater recht zu machen? Das war doch alles, was ich für dich wollte! Hatte er das eben tatsächlich zu ihr gesagt?

Es war das erste Mal, dass sie sich ihrem Vater widersetzte. Sie wappnete sich für seinen Wutausbruch und erwartete, dass die Welt unterginge, was sie erstaunlicherweise jedoch nicht tat. „Wenn die Auflösung der Verlobung bedeutet, dass ich deine Liebe verliere, dann sei’s drum. Ich bin auch früher schon ohne sie ausgekommen.“

Ihr Vater erstarrte, und sein Gesicht wurde blass. Er sah aus, als hätte sie ihn geschlagen. „Mein Gott, denkst du das wirklich? Abigail, du könntest dich nicht mehr in mir täuschen! Von dem Augenblick an, da du deinen ersten Atemzug tatest, gehörte dir mein ganzes Herz - dir und deiner Schwester, euch beiden.“

Abigail merkte, dass ihr der Mund offen stand. Ein ganz anderer Mensch saß da vor ihr - nicht mehr der unnahbare und gottgleiche Senator, sondern ein verwirrter und sehr realer Mann.

„Deine geplante Ehe freute mich so, weil ich dachte, du hättest endlich einen Mann gefunden, der dir das geben kann, was ich dein ganzes Leben lang nicht geschafft habe - wirkliches Glück.“

„Nicht doch, Vater ..." Sie sprach nicht weiter, weil sie erst Ordnung in ihre Gedanken bringen musste, denn jetzt hatte sich die ganze Welt auf den Kopf gestellt. Alles, was Abigail von ihrem Vater geglaubt hatte, sah nun ganz anders aus und wurde ihr irgendwie fremd.

„Das wusste ich nicht. Ich fühlte mich immer unzulänglich, dachte stets, dass meine Leistungen und auch meine Schwierigkeiten übersehen werden ...“

„Das lag möglicherweise daran, dass du mich nie zu brauchen schienst.“ Mit fahrigen Bewegungen öffnete und schloss er seine Hände auf dem Schreibtisch. Offenbar fühlte sich Franklin Cabot bei seiner Tochter unsicherer als im Senat der Vereinigten Staaten. „Verstehst du das nicht, Abigail? Du warst immer besser, schlauer und klüger als der Rest der Welt. Als du ein Kind warst, konnte ich dir nicht einmal Gute-Nacht-Märchen vorlesen; die hast du mit vier Jahren dir und deiner Schwester selbst vorgelesen. Du brauchtest nie Hilfe bei deinen Studien, denn deine Bildung überstieg meine bereits Vorjahren.“

Abigail wagte es nicht, sich zu rühren. Sie vergaß das Atmen. Sie fragte sich, ob sie etwas falsch gemacht und unbeabsichtigt Vaters Liebe und seine Sorge abgewehrt hatte. ,Keine Angst, Vater; das kann ich alleine', hörte sie sich wieder und wieder versichern. Was ihre Worte ihm sagten, nämlich dass sie ihn nicht brauchte und möglicherweise gar nicht haben wollte, hatte sie dabei nie bedacht.

Bedauern und Reue erfüllten sie. Welch eine Verschwendung von Jahren und Tränen! Weshalb hatte sie ihm nur ihr Bedürfnis nicht offen gezeigt? Weshalb hatte er ihr nicht gezeigt, wie es in seinem Herzen aussah?

„Du hattest deine Sterne und deine Träume“, fuhr ihr Vater fort. „Du besaßest schon Dinge, die ich weder zu berühren noch mir vorzustellen, geschweige denn dir zu geben vermochte. Ich fühlte mich so unzulänglich, dass ich dir am Ende überhaupt nichts gab.“

„Vater, nein, das stimmt nicht.“

„Dann gab ich dir nicht genug, aber nicht, weil ich dich etwa nicht liebte, sondern weil ich keine Ahnung hatte, was du wolltest oder brauchtest. Bei Helena war es immer klar. Sie benötigte Anleitung, Weisheit, Ratschläge und Führung. Du dagegen besaßest diese Dinge im Überfluss.“ Seine Stimme bebte. „So hart es auch ist, das einzugestehen - du brauchtest mich nie. Ich hatte deinen Gaben nichts hinzuzufügen.“

„Und ich ..." Sie schluckte und begann noch einmal. „Ich war immer die unvollkommenste aller Töchter, und das bereits seit meiner Geburt.“

„Um Gottes willen, sprichst du etwa von deinem Fuß?“ Ihr Vater erhob sich und ging erregt auf und ab. „Das kannst du doch nicht ernsthaft glauben.“ Er wandte ihr den Rücken zu und betrachtete wieder das Gemälde. Der Künstler hatte den rätselhaften Blick und das sanfte Lächeln ihrer Mutter trefflich eingefangen. „Bei deiner Geburt erklärte deine Mutter, du seiest das Kind, welches sie sich immer gewünscht habe. Während der letzten Momente ihres Lebens hielt sie dich in den Armen und weinte vor Freude. Und ich“ - er blickte Abigail wieder an - „ich weinte ebenfalls. Du warst ihr letztes Geschenk für mich. Wie könnte ich etwas anderes als Zuneigung zu dir empfinden?“

Abigail brauchte mehrere Anläufe, ehe sie ihre Stimme wieder fand. „Wenn das stimmt, weshalb hast du mir dann immer meine Unbeholfenheit vorgeworfen?“

Bestürzt blickte er sie an. „Mein liebes Kind, jedes Mal, wenn ich dich stolpern oder gar fallen sah, litt ich tausend Qualen. Ich ahnte nicht, dass du das als Vorwurf betrachtetest. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich alles dafür gegeben hätte, um dir den Schmerz zu ersparen, den du all die Jahre erlitten hast?“

Abigail schwankte und vermochte kaum zu sprechen; dennoch zwang sie sich dazu, noch ein Letztes zu sagen, das Wahrhafteste in ihrem Herzen: „Vater, ich begehrte immer nur das Eine von dir.“

„Das erkenne ich nun endlich auch.“ Langsam setzte er sich wieder und schaute sie über den Schreibtisch hinweg an. „Ist es jetzt zu spät, dir das zu geben?“