Die Nacht war kalt, und es war schon spät. Jamies Haar war noch nass vom Baden, als er am Fenster seines Zimmers stand und auf das Nachbarhaus starrte.
Um dem zu entkommen, was er jetzt fühlte, war er auf Oscar so lange und hart übers Land geritten, bis Ross und Reiter beinahe vor Erschöpfung umfielen. Er hatte sich einer Gruppe Kanalschleusenwärter von Georgetown angeschlossen und bei deren nächtlichen Raufereien mitgemischt, doch selbst einige Runden Boxkampf mit nackten Fäusten konnten seine Gedanken nicht auslöschen. Der quälende Schmerz blieb in seinem Bewusstsein hängen, und als er endlich wieder zu Hause war, kam er umso stärker zu ihm zurück.
Jetzt befand er sich in seinem Zimmer, und ihm fehlte jede Möglichkeit, seinen Geist bis zur Bewusstlosigkeit zu erschöpfen. Nebenan waren alle Lichter gelöscht worden, doch er überlegte, ob Abigail auf dem Dach erscheinen und ihre einsame Untersuchung des Nachthimmels fortsetzen würde. Täte sie es, wäre er bestimmt versucht, zu ihr zu gehen. Andererseits wusste er genau, dass er sich das nicht gestatten würde. Es wäre zu gefährlich, und es hätte auch keinen Sinn.
Ach, wie sie ihm unausgesetzt durch den Kopf ging! Er fühlte noch immer die weiche Wärme ihrer unschuldigen Hingabe, und er hörte das leise Echo ihres geflüsterten „Ich liebe dich“.
Diese Liebeserklärung würde für den Rest seines Lebens in seinem Innern wohnen als bitter-süße Erinnerung an die ungewöhnliche Freundschaft mit einer Frau, die glaubte, er könnte so viel mehr sein, als er tatsächlich war.
Doch damit hatte es jetzt ein Ende. Vor ihm und ihr lagen unterschiedliche Pfade. Jamie knirschte mit den Zähnen und fühlte den Verlust wie einen körperlichen Schmerz, der auf seine Art heftiger war als jede Folter, die er in einer feuchten Zelle in einem weit entfernten Land durchlitten hatte.
Das leere Gebäude schien zu seufzen. Nachdem Rowan jetzt fort war und die vielen Apparaturen mit ihm, verfügte Jamie über das ganze Haus. Aber er wollte es nicht für lange Zeit behalten. Er konnte nicht der Versuchung so nahe bleiben.
Unten klopfte jemand. Jamie fuhr zusammen und wickelte sich dann das Trockentuch rasch um die Taille. Das musste Abigail sein; wer sonst würde ihn zu dieser späten Stunde besuchen?
Er blieb, wo er war, und wartete darauf, dass sie wieder fortginge. Es hätte ihn nicht überraschen sollen, dass die Vordertür geöffnet wurde und er danach Schritte auf der Treppe hörte.
Verdammt, dachte er, jetzt will sie mich wahrscheinlich auch noch verspotten!
Sofort fühlte er Hitze in sich aufsteigen. Mit seinem Hausmantel bekleidet, erwartete er die Besucherin oben auf der Treppe. Er überlegte hin und her, mit welchen Worten er sie am besten vertreiben konnte, doch die Frau, die jetzt aus den Schatten auftauchte, war gar nicht Abigail.
„Caroline?“ fragte er verblüfft. „Was, zum Teufel, machen Sie denn hier?“
Der flackernde Feuerschein vom Kamin aus dem Schlafzimmer erleuchtete das Treppenhaus. Caroline blickte Jamie kühn an. „Ich musste Sie sehen“, flüsterte sie. „Niemand darf etwas davon erfahren. Mein Kutscher wartet am Ende der Straße.“
„Gut.“ Jamie fasste sie bei den Schultern und drehte sie zur Treppe um. „Dann kann er Sie ja gleich wieder dahin mitnehmen, woher Sie gekommen sind.“
Sie machte sich los, ging geradewegs in sein Schlafzimmer und ließ im Vorbeigehen ihren Umhang auf einen Sessel fallen. „Ich gehe nicht fort.“
Jamie biss die Zähne aufeinander. Dass die Gattin von Horace Riordan in sein Schlafzimmer eindrang, war nun wirklich das, was er am wenigsten brauchte.
„Sie müssen aufhören, gegen die Pläne der Eisenbahngesellschaften zu opponieren“, teilte sie ihm mit. „Ich halte es nur für fair, Sie zu warnen, dass mein Ehemann fest entschlossen ist, dafür zu sorgen, dass diese Pläne genehmigt werden.“
„Das ist mir nicht neu, Caroline.“ Sie amüsiert mich noch immer, dachte er und bewunderte ihre Frechheit und ihren Mut. Und die Art, wie sie ihn anschaute, mochte er auch.
„Verärgern Sie ihn nicht, Jamie! Um Ihnen das zu sagen, bin ich hier. Horace hat Talent darin, Opponenten das Leben schwer zu machen.“
„Ach Gott - eine Drohung?“
„Ein Angebot“, berichtigte sie. „Horace ist bereit, Ihnen ein Vermögen zu zahlen, wenn Sie die Sache fallen lassen.“
Jamie lachte laut auf. „Liebste Caroline, ich kam nicht nach Washington, um die Familien meines Distrikts zu verkaufen. Bei Gott, noch mein Großvater war groß darin.“
„Die Eisenbahngesellschaft bietet den Leuten die Möglichkeit, aus ihrer Armut herauszukommen. Sie werden nicht mehr auf Gedeih und Verderb den Jahreszeiten ausgeliefert sein. Überlegen Sie doch einmal, Jamie: Diese armen Familien könnten in die Stadt ziehen, wo sie ein geregeltes Einkommen bezögen ..."
„Ja, in Ausbeutungsbetrieben und ungeheizten Fabriken. Hört sich ja wie der Himmel auf Erden an, Caroline.“
„Die Leute brauchen sich nicht mehr zu fragen, woher sie ihre nächste Mahlzeit nehmen sollen, und sie werden nie mehr unter Zugluft und Frost leiden müssen. Es ist ein sicheres Leben.“
„Es ist ein hundsmiserables Leben! Jetzt sind sie ihre eigenen Herren, und sie lassen sich nicht kaufen für einen geringen Lohn und das Versprechen, ihnen Suppe und Brot zu geben. Und wüssten Sie das nicht selbst, wären Sie jetzt nicht hier.“
„Das ist nicht der einzige Grund meines Kommens“, flüsterte Caroline, und ihre Stimme war eine einzige Verführung.
Abigail wollte unbedingt mit Jamie sprechen, zwang sich jedoch zu warten, bis sie sicher sein konnte, dass alle im Haus schliefen. Wie spät es war, interessierte sie nicht; sie und Jamie hatten es sich ja von Anfang an zur Gewohnheit gemacht, einander zu unschicklicher Stunde zu treffen, und heute würde es nicht anders sein. Endlich wurde alles gut. Jetzt, da sie wusste, was in der Vergangenheit vorgefallen war, sah sie die Zukunft klar vor sich.
Jamie hatte in sehr vielen Dingen Recht gehabt, und das erkannte sie nun endlich. Er hatte Recht gehabt mit seinem Vorwurf, sie verstecke sich vor der Welt und fürchte sich davor, dass ihr Herz einmal wirklich liebte. In jener Nacht, die sie in seinen Armen verbracht hatte, war ihr diese Wahrheit klar geworden.
Ebenfalls hatte er Recht gehabt, als er ihr sagte, was sie schon längst über ihren Vater hätte wissen sollen. Dessen Achtung zählte weit weniger als die heikle Aufgabe, sich selbst achten zu lernen. Sie hatte furchtbare Angst davor gehabt, ihrem Vater zu gestehen, dass sie Boyd nicht heiraten wollte, und herausgekommen war die aufrichtigste Unterhaltung, die sie je mit ihrem Vater geführt hatte.
Ebenso hatte Jamie Recht gehabt damals, als er behauptete, sie liebe Boyd überhaupt nicht, weil wahre Liebe sich nicht in Poesie auf einem Blatt Schreibpapier ausdrücken könnte; wahre Liebe käme von einem tiefen und rätselhaften Ort, der keineswegs immer sicher und angenehm sei.
Nur in einem Punkt hatte sich Jamie getäuscht, und das war die Tatsache, dass er sich selbst für unwürdig befand, die Liebe eines Menschen zu verdienen.
Jedenfalls hatte Abigail heute viel mit ihm zu besprechen.
Bis auf eine am Ende der Straße wartende Droschke war die Dumbarton Street still und wie ausgestorben. Sanftes Gaslicht fiel auf das Kutschpferd, das den Kopf im Schlaf gesenkt hielt. Abigail wickelte sich fest in ihren Umhang und begab sich zu Jamies Haus.
Noch ehe sie die Tür zu öffnen versuchte, hörte sie von oben Stimmen. Sie erschrak und hatte gerade noch die Zeit, sich in dem winzigen, ummauerten Hof zu verbergen, als sich die Tür schon öffnete und zwei Personen herauskamen. Abigails scharfer Blick erkannte sofort eine mit einem hellroten Umhang bekleidete, schlanke Frau und einen blassen, ihr höchst vertrauten Mann.
Caroline Fortenay Riordan sah genauso wunderschön aus wie in jener Nacht von Nancy Wilkes’ Hochzeit. Und bei Jamie benahm sie sich auch ebenso kühn; sie hängte sich an seinen Arm und flüsterte seinen Namen. Seine leise Erwiderung, während er sie zu der am Ende der Straße wartenden Kutsche begleitete, vermochte Abigail nicht zu verstehen, denn inzwischen hörte sie nur noch das schreckliche Hämmern ihres eigenen Herzens.
Ihr Gefühl rief ihr zu, sie solle davonlaufen und sich mit ihrem Schmerz verstecken, doch dem widerstand sie. Obwohl sie plötzlich innerlich zu Eis erstarrte, zwang sie sich zu warten, bis Jamie zurückkehrte. Er blieb noch eine Weile stehen und redete mit Caroline, bevor er ihr endlich in die Kutsche half. Abigail kämpfte um Haltung. Hatte sie sich möglicherweise doch in ihm getäuscht?
Das langsame Klappern der Pferdehufe war auf dem Backsteinpflaster der stillen Dumbarton Street noch lange zu hören. Jamie kehrte zum Haus zurück, doch als er Abigail dort warten sah, blieb er auf der Stelle stehen.
„Herrgott, Sie haben mich zu Tode erschreckt!“ Sein Haar war zerzaust, sein Hausmantel stand offen, die Hände hatte er zu Fäusten geballt, und er wirkte verärgert und aufgelöst.
Abigail wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Möglicherweise unterschied er sich gar nicht von dem korrupten, verbitterten Mann, als den sie ihn kennen gelernt hatte. „Wir sollten besser hineingehen“, meinte sie und ärgerte sich, weil ihre Stimme zitterte. „Wir wecken sonst noch die Nachbarn auf.“
„Eine hervorragende Idee. Gehen Sie in Ihr Haus, und ich gehe in meines.“ Der Mann, der vor ihr stand, auf sie herunterstarrte und so befehlsgewohnt sprach, war ihr ein Fremder.
„Jamie, ich muss mit Ihnen reden“, beharrte sie. „Es gibt so viel zu sagen. Ich erfuhr, was Ihnen in Khayrat geschah und weshalb Sie die Schuld so lange mit sich herumtrugen, und ich ..."
„Dann gibt es ja nichts mehr zu sagen.“ Er griff ihren Arm und steuerte sie zu ihrem Vaterhaus. „Sie hätten nicht daran rühren, sondern mich lieber unbesehen akzeptieren sollen, Abby. Ich benötigte die Gunst Ihres Vaters, und Sie waren eine Möglichkeit, sie zu erhalten. Falls ich bei Ihnen den Eindruck erweckt haben sollte, Sie bedeuteten mir etwas anderes, dann erwies ich Ihnen einen schlechten Dienst.“
„Ich suchte Prinzessin Layla auf“, redete Abigail unbeirrt weiter. „Sie erzählte mir, was Ihnen widerfahren war. Sie verstand nur nicht, wie Sie überleben konnten. Ich jedoch weiß es. Noah starb an Ihrer statt, nicht wahr? Und zwar auf dieser Reise, von der Sie sprachen. Erzählen Sie mir nun auch noch den Rest. Das schulden Sie mir.“
Er zuckte zusammen. „Noah und ich wurden gemeinsam eingekerkert, doch wir dachten uns eine Fluchtmöglichkeit aus. Als wir durch die Stadt liefen und nach dem Hafen suchten, verloren wir uns in der Menschenmenge. Ich schaffte es gerade noch, an Bord zu gelangen - meine Verletzungen hatten es mir nicht ermöglicht, schneller zu laufen.“
Während Jamie redete, blickte er sie nicht an, und als er es schließlich doch tat, wirkte er gequält. „Ich brach zusammen, und als ich das Bewusstsein wieder erlangte, befanden wir uns bereits auf See, und ... Noah war schon tot. Ein anderer Händler hatte seine Hinrichtung gesehen.“
Abigail drückte sich die Faust an den Mund, weil sie an Doyles Beschreibung der Vorgänge dachte.
„Meinen Sie jetzt noch immer, ich solle Julius die Wahrheit über seinen Vater sagen?“ fragte Jamie.
„Selbstverständlich nicht.“ Abigail war erschüttert.
„Der Meinung bin ich auch. Nun haben Sie also die Erklärung für meine unehrenhafte Vergangenheit. Sie wissen jetzt, weshalb ich so bin, wie ich bin, und weshalb ich nie der Mann sein kann, den Sie in mir sehen wollen.“
„Das sind Sie doch schon“, erwiderte sie leise.
„Hören Sie, vorgestern Nacht beging ich einen Fehler. Ich hatte mich nicht im Griff. Trotzdem bedeuten wir einander nichts - nicht mehr, als ein Hengst einer Stute bedeutet.“
„Das weiß ich besser!“ fuhr sie ihn in ihrer Angst an. „Ich weiß genau, was ich fühlte, als Sie mich liebten, und ich glaube auch zu wissen, was Sie empfanden, als ich mich Ihnen hingab. Ich weiß es tatsächlich, Jamie. Ich ...“
„Still!“ Er drückte ihr zwei Finger an die Lippen. „Ich nahm Sie in mein Bett, und ein anständigerer Mann als ich hätte sich in diesem Fall für Sie verantwortlich gefühlt. Doch Sie benötigen mich nicht mehr, Abby. Bei Ihnen beging ich einen Fehler, doch Sie kennen mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich denselben Fehler nie zweimal mache.“
Er entfernte sich von ihr und fuhr sich mit der Hand durch sein feuchtes Haar. „Ich liebte Layla wirklich“, hörte sie ihn noch sagen. „Sie hat das Beste von mir bekommen, und mehr gibt es nicht.“
Obwohl es mitten in der Nacht war, kleidete sich Jamie hastig an.
Was Caroline gesagt hatte, war weniger wichtig als das, was sie verschwiegen hatte. Irgendetwas war im Gange, und das bedeutete für die Menschen in Jamies Distrikt bestimmt nichts Gutes. Er musste jetzt seinem Instinkt folgen. Das hatte er zuvor einmal versäumt, und das Resultat war tragisch gewesen. Noch einmal durfte ihm das nicht passieren.
Und was Abigail betraf ... Er wollte nicht mehr an sie denken, doch sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Er hätte sie nur als Mittel zum Zweck benutzen sollen; er indes hatte den Fehler gemacht, sich mit ihr einzulassen.
Möglicherweise war er tatsächlich ein bisschen wie ihr mythologischer Bildhauer Pygmalion. Er hatte ihr bewiesen, dass sie eine Frau sein konnte, die Verstand mit Selbstvertrauen und Stolz mit Charme zu kombinieren vermochte. Kurz, die Sorte Frau, der selbst er nicht widerstehen konnte. Doch er würde sich nie ihr unschuldiges, vertrauensvolles Herz und ihre so offen sinnliche Natur als sein Verdienst anrechnen. Diese Dinge kamen von Abby ganz allein, ob sie es nun wusste oder nicht.
Ihre Liebeserklärung hatte ihn wie ein Schlag getroffen, obgleich er alles getan hatte, es zu überhören. Er hatte weder für Liebe das Herz noch für Verwundbarkeit, Torheit, Verantwortung und ... Erfüllung.
Den Ausdruck in ihrem Gesicht, als er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, würde er noch lange vor sich sehen. Woher kam bei ihm eigentlich diese emotionale Grausamkeit? Vielleicht hatte er doch mehr von seinem Vater, als er dachte. Das Mindeste, was er tun konnte, wäre es, Abigail ihr Herz zurückzugeben. Sie hätte es ihm ohnehin gar nicht schenken dürfen.
Er verließ das Haus und lief zu Fuß zu dem Mietstall, in dem Oscar untergebracht war. Dort zündete er eine Lampe an und machte sich daran, das Pferd zu satteln. Abigail wird es überleben, sagte er sich. Im Handumdrehen dürfte sie verheiratet und versorgt
sein. Dann würde sie ein Leben in stiller Schicklichkeit bar jeder Gefahren führen, und wer, zum Teufel, war er, zu behaupten, ein solches Leben sei nicht lebenswert?