In der Dumbarton Street 32 in Georgetown stolperte Abigail beinahe, weil sie es so eilig hatte, ihr Zimmer zu erreichen. Sie, Helena und ihr Vater waren spät heimgekommen, und sie fühlte sich ganz und gar nicht wohl. Abigail schaffte es gerade noch, ihrer Schwester und ihrem Vater eine gute Nacht zu wünschen, bevor sie sich in ihr Zimmer im zweiten Stock zurückzog. Die enge Treppenstiege des im Georgianischen Stil erbauten Stadthauses schien ihr nie steiler als nach einer durchtanzten und mit sinnlosen Gesprächen verbrachten Nacht.
Sie und Helena hatten sich vor dem Schlafengehen noch gegenseitig die Mieder und die Korsetts aufgeschnürt, um Dolly nicht wecken zu müssen. Viele vornehme Damen dachten sich nichts dabei, ihr Personal zu jeder Tages- und Nachtstunde aufzuwecken, doch das wäre den Cabot-Schwestern nicht im Traum eingefallen.
Die Haushälterin hatte einen großen Krug voll Wasser auf den Waschstand gestellt, das jetzt noch lauwarm war. Abigail warf ein wenig Bittersalz in die Schüssel und goss dann Wasser hinein. Mit einem erleichterten Seufzer schnürte sie ihren Stiefel auf und zog ihn aus. Befreit steckte sie ihren rechten Fuß ins Wasser und schloss die Augen. Die Schmerzen in dem Fuß waren ihr so vertraut wie die Einsamkeit, die sie manchmal beschlich.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und starrte ärgerlich auf den ausgezogenen Stiefel, den sie tagein, tagaus trug, solange sie denken konnte. Als sie noch klein war, hatte sie immer darum gebetet, aus diesem hässlichen, verdrehten Glied möge ein zierliches, hübsches Füßchen werden, das zu ihrem linken passte.
Seitdem sie erwachsen war, hatte sie es aufgegeben, um das Unmögliche zu beten. Sie war nun einmal mit dieser Missbildung geboren worden und würde auch damit sterben. In der Zwischenzeit verbarg sie eben ihr Geheimnis unter dem Rocksaum. Müde betrachtete sie den Fuß im Wasser.
Ihre Mutter war gestorben, gleich nachdem sie Abigail, ein viel zu kleines Baby mit einem fehlgebildeten Fuß, zur Welt gebracht hatte. Das Kind musste ein fürchterlicher Fluch gewesen sein für Beatrice Gavin Cabot, die für ihr Vermögen, ihren Stolz auf ihre Ehe mit dem ehrgeizigen jungen Senator und ihre Freude über ihre erstgeborene Tochter Helena bekannt war. Welche Qual musste es für ihre Mutter gewesen sein, ein missgebildetes Baby im Arm zu halten, während sie selbst verblutete. Für Abigail war diese Tragödie unauflösbar mit ihrer Unvollkommenheit verbunden. Damit lebte sie Tag für Tag, ein Schatten, der sie auf Schritt und Tritt begleitete.
Doch solche Gedanken waren ebenso ärgerlich wie müßig; also schob sie sie beiseite und hob den Fuß aus dem warmen Wasser.
Sie streifte ihr Gewand und die Unterwäsche ab, hängte alles in den Ankleideraum und zog ein bodenlanges Schlafkleid mit dazu passendem Nachtmantel an. Schnell schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und verließ das Zimmer so leise wie möglich. In den weichen Hausschuhen konnte sie ihr Hinken nicht so gut verbergen wie in dem Maßstiefel, doch sie hatte ja auch nur einen kurzen Weg vor sich. Am Ende des Flurs öffnete sie einen niedrigen, engen Durchgang und stieg die Stufen zum Dach hinauf.
Das mitternächtliche Refugium hieß sie willkommen. Hier fühlte sie sich immer wohl, denn dieser Ort gehörte ausschließlich ihr. Der Nachthimmel hatte Abigail schon seit frühester Jugend fasziniert. Mit fünf Jahren, als sie schlimme Albträume durchlitt, hatte sie es sich angewöhnt, sich nachts ans Fenster zu setzen und zu den Sternen hinaufzuschauen. Später in der Schule quälte sie ihre Lehrer mit Fragen über das Universum. Als ihre Ausbilder nicht mehr weiterwussten, engagierte ihr Vater einen verarmten Mathematikstudenten aus Georgetown, der ihr einen Sternenatlas sowie einen Fotoband mit Bildern der Sterne und Planeten schenkte.
Jahrelang sparte sie ihr Kleidergeld, um sich davon ihr Allerheiligstes auf dem Dach zu erbauen; Helena und ihr Vater nannten es „Abigails Torheit“, doch sie hatten es sich längst abgewöhnt, mit ihr darüber zu streiten. Und so war Abigail die einzige Frau in der Hauptstadt, die ein eigenes Observatorium besaß.
Der Standort war nicht ideal, denn die Atmosphäre in Höhe des Meeresspiegels war zu dicht und störte oft die Beobachtung der Sterne. Trotzdem kam sie damit zurecht, und nur manchmal sehnte sie sich nach einem klareren Himmel.
Die drehbare Kuppel war nach dem privaten Observatorium von Maria Mitchell gestaltet, der größten Astronomin des Landes. Sie hatte sich inzwischen zur Ruhe gesetzt und lebte von der Pension, die ihr vom Vassar-College für Frauen gezahlt wurde. Abigail jedoch besaß eine Gabe, welche selbst der großen Professorin Mitchell fehlte: Sie vermochte mit dem bloßen Auge schärfer und weiter zu sehen als jeder andere Mensch.
Schon immer war sie mit beinahe übermenschlicher Sehkraft gesegnet - oder vielleicht geschlagen - gewesen. Ein Schiff am Horizont oder einen Schwarm Zuggänse am Himmel sah sie stets als Erste. Ihr ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen für Farben zeigte ihr ein so strahlendes Frühlingsgrün, dass es in ihren Augen schmerzte, und das intensive Gold und Orange der Herbstfarben bereiteten ihr Kopfweh. Mit so viel Schönheit um sich herum spürte sie oft einen Schmerz, den sie nicht verstand. Möglicherweise waren ja ihre Sehkraft und ihr Wahrnehmungsvermögen das, womit die Natur sie für ihren missgebildeten Fuß entschädigte.
Der Mond war untergegangen und schaffte damit bessere Bedingungen für die Sternbeobachtung mit bloßem Auge. Für ein paar Momente vergaß Abigail ihren Ärger über irdische Belange, setzte sich auf einen niedrigen Hocker und verlor sich im Anblick der Sterne. Obwohl es natürlich ein vollkommen unwissenschaftliches Empfinden war, meinte sie, über die Erde, über die bekannte Welt hinauszuschweben zu etwas Unendlichem und Mysteriösem.
Sie atmete die kühle, nach Holzrauch und trockenen Blättern riechende Herbstluft ein und ließ den Blick über den Himmel schweifen.
„Hallo, Mutter“, flüsterte sie der Frau zu, die sie nie kennen gelernt hatte. „Ich habe heute Abend getanzt. Mit Leutnant Boyd Butler. Es war wundervoll. Du wärst sehr stolz auf mich gewesen Plötzlich stockte sie, weil sie daran denken musste, dass sie beinahe hingefallen und dann in den Armen des unverschämten James Calhoun gelandet war. Schnell wischte sie diese Erinnerung beiseite und fuhr fort: „Der Sohn des Vizepräsidenten! Kannst du dir das vorstellen, Mutter? Natürlich kannst du das. Vater war ja auch der Sohn eines Politikers. Vielleicht liegt es uns im Blut, regierende Männer zu lieben. Mr. Calhoun - ihn lernte ich ebenfalls heute Abend kennen, doch er ist ganz anders als Leutnant Butler - behauptet, es sei gar keine Liebe, weil ich nicht weinte, nicht tobte, nicht auf den Boden stampfte und mir nicht das Haar ausgerissen habe. Doch das zählt ja nicht. Boyd Butler wird nie erfahren, wie es in meinem Herzen aussieht. Dies wird ein weiteres meiner Geheimnisse sein. Nun, ich dachte nur, du solltest es wissen. Also gute Nacht, Mutter. Ich liebe dich.“
Abigails Flüstern verhallte in der kühlen Luft. Sie kam jede Nacht hier herauf, um eine einseitige Unterhaltung mit einem Geist zu führen. Aber nicht nur das. Sie beobachtete den Himmel, der so schön, unendlich und wundersam war. Und sie hielt nach etwas Ausschau.
Abigail erwartete einen Kometen.
Wenn sie das den Leuten erzählte, sah man sie oft bestürzt an und schüttelte den Kopf. „Wäre es nicht einfacher, eine Nadel in einem Heuhaufen zu suchen?“ fragte man sie dann.
Abigail erwartete nicht, dass es leicht sein würde. Doch aufgeben wollte sie auch nicht. Helena mochte ihre Mutter in dem Schmuck, den alten Bildern und in den Andenken suchen, doch Abigail wusste es besser: Falls sie wirklich jemals ihre Mutter fand, dann hoch oben im unendlichen Nachthimmel, versteckt zwischen den Sternen.
„Guten Morgen, liebster Papa! Guten Morgen, liebste Schwester!“ Mit dieser Begrüßung platzte Helena ins Speisezimmer. Ihre Stimme hatte sich beinahe überschlagen, und ihr Vater und Abigail zuckten zusammen. Sie beugte sich zu beiden hinunter und küsste sie. „Was ist das doch für ein schöner Tag!“
Der Senator lächelte nachsichtig und legte die „Washington Post“, in die er bis jetzt vertieft gewesen war, aus der Hand, nahm seine silberumrandete Brille ab, erhob sich und rückte Helena den Stuhl zurecht. „In der Tat, ein schöner Tag.“
Wenige Minuten zuvor hatte Abigail ihm das Gleiche gesagt, doch das hatte er wohl schon vergessen. Unwillkürlich lächelte sie Helena ebenfalls an. Eine so schöne Person wie ihre Schwester sollte eigentlich heftige Eifersucht wecken, doch an ihrem Aussehen war diese schließlich ebenso wenig schuld wie Abigail an ihrem Fuß.
Senator Cabot hielt Helena einen Korb mit Zwieback und Konfitüre hin. Sie dankte ihm mit einem Lächeln. „Kaffee?“ erkundigte er sich.
„Ja, bitte.“
Sofort eilte ein Dienstmädchen herbei und schenkte ihr ein. „Abigail?“ fragte ihr Vater. „Möchtest du auch Kaffee?“
„Ich trinke Tee, Vater. Trotzdem vielen Dank.“ Morgens trank sie von jeher Tee.
Abigail liebte das gemeinsame Frühstück. Denn Franklin Rush Cabot füllte seine Rolle als liebevoller Vater nur selten aus, und die mit ihm gemeinsam verbrachte Zeit war kostbar. Manchmal meinte Abigail, ihre Schwester vermeide es, vom Heiraten zu reden, weil sie ihren Vater nicht verlassen wollte. Er war die einzige Konstante im Leben der Schwestern, die Sonne, um die sie sich drehten.
„Hast du heute etwas vor?“ fragte er Helena.
Sie nickte so heftig, dass ihre kupferroten Locken hin und her flogen. „Ich habe eine Anprobe bei Miss Finch. Sie hat bei Madame Broussard gelernt, weißt du.“ Helena stützte ihren Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hand. „Ich würde mir ja so gern ein Gewand von Madame selbst entwerfen lassen, doch es heißt, man müsse über ein Jahr lang warten.“
Der Senator hob die Augenbraue. „Tatsächlich? Ich werde einmal sehen, was ich machen kann.“
Helena strahlte. „Danke, Papa! Ach, ich bin ja so froh, dass ich deine Tochter bin!“
Er setzte die Brille wieder auf und las seine Zeitung weiter. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, versicherte er. „Und du, Abigail? Du kannst doch auch etwas Neues gebrauchen, nicht wahr?“
Sie errötete. „Heute habe ich schon etwas anderes vor. Ich muss nach Foggy Bottom und Mr. Hockett beim Eichen seines Schiffschronometers helfen.“
„Dann ist wohl Hockett der Glücklichere von uns“, murmelte ihr Vater, ohne aufzuschauen.
Abigail lächelte ihn an, doch offenbar bemerkte er es nicht. Der feinsinnige und kluge Senator war offensichtlich stolz auf Helenas Aussehen und Abigails Leistungen, doch er schien mehr zu erwarten, als die Schwestern zu geben vermochten.
Versonnen betrachtete Abigail ihren Vater, sah das immer noch schöne Gesicht, die präzisen Falten seiner gestärkten Halsbinde, die sich von seiner rötlichen Haut abhob, und die funkelnden Augen, hinter denen eine Welt voller Gedanken verborgen lag. Eine Welle der Sehnsucht überschwemmte sie. Sie wollte seine Hand nehmen und ihn fragen, was er gerade dachte, doch sie wagte es nicht. Er enthielt ihr etwas vor. Abigail wusste nicht, was es war, doch sie spürte, dass er noch etwas Unausgesprochenes verlangte. Und wenn sie ihm das geben könnte, würde sein Glück vollkommen sein.
Seit vielen Jahren war er nun bereits Witwer und hatte nie das Herz gefunden, wieder zu heiraten. Allein diese Zurückhaltung ließ schon die Hoffnung vieler Damen wachsen. Über die Jahre hinweg hatten sie um seine Aufmerksamkeit gebuhlt, bisher jedoch ohne Erfolg. Deshalb fühlten sich die Schwestern umso mehr verantwortlich für sein Glück.
„Mr. Hockett hat auf meiner Hilfe bestanden“, erklärte Abigail, obwohl weder ihr Vater noch Helena danach gefragt hatten. „Nach der letzten Eichung ging der Apparat mehr als eine Sekunde nach.“
„Tatsächlich?“ fragte Senator Cabot, doch seine Stimme deutete Interesselosigkeit an. Er gab dem Dienstmädchen ein Zeichen und ließ sich noch einmal Kaffee einschenken.
Abigail wusste, dass ihr Vater sie liebte, aber er nahm sie nicht wirklich zur Kenntnis. Doch sie hatte die Hoffnung, dass er ihr sein ganzes Herz öffnen würde, wenn sie nur das Richtige täte - ihren Kometen entdeckte, Unterstützer für seine Gesetzesvorlage im Senat fände oder den richtigen Mann heiratete. Wahrscheinlich jedoch machte sie sich wieder einmal zu viele Gedanken.
„Wenn ich etwas zu eichen hätte, würde ich es selbstverständlich auch von dir tun lassen“, erklärte Helena loyal und wandte sich dann an ihren Vater. „Steht in der Zeitung etwas über die Hochzeitsfeier?“
„Ja.“ Er schob ihr einen gefalteten Teil der „Post“ hin. „Ein langer Artikel von Timothy Doyle. Lies einmal den letzten Abschnitt. Darin wirst du ein paar Mal erwähnt.“
„Ich kann kein einziges Wort lesen, ohne zuvor Kaffee getrunken zu haben.“ Helena rührte einen Löffel voll Zucker in ihre Tasse und schob die Zeitung zu der Schwester hinüber. „Lies mir bitte das Wichtigste vor.“
Abigail faltete die Seiten auseinander. Dies war ein weiterer Grund, weshalb sie ihrer Schwester nie böse sein konnte: Helena war zu sehr von ihr abhängig. Auf eine weniger offensichtliche Art war sie ebenso behindert wie Abigail.
„Ah, hier steht es. ,Miss Helena Cabot glänzte in einem Gewand vom La Maison d’Or, New York. Zweimal tanzte sie mit Mr. Troy Barnes, einmal mit Leutnant Boyd Butler.'“ Als Abigail diesen Namen vorlas, klang ihre Stimme belegt, und sie hoffte, dass ihr Vater und ihre Schwester nichts davon gemerkt hatten.
„Ich freue mich, wie gut du dich gestern Abend gehalten hast, meine Liebe. Sowohl Barnes als auch Butler sind sehr geeignet.“ Cabot schob seine Kaffeetasse beiseite und schenkte Helena seine volle Aufmerksamkeit, unter der sie förmlich aufblühte. „Wie du weißt, liegt mir deine Zukunft sehr am Herzen. Insbesondere Leutnant Butler wäre eine bemerkenswerte Partie. Ich hätte durchaus nichts dagegen, wenn du sein Werben ermutigtest.“
„Dann werde ich es natürlich auch tun.“ Helena zuckte die Schultern. „Wenn Leutnant Barnes ...“
„Butler“, berichtigte er.
„Wenn Leutnant Butler deine Zustimmung findet, Vater, dann bin ich mir sicher, dass er geeignet ist“, meinte Helena.
Mit besonderer Sorgfalt maß Abigail Zucker für ihren Tee ab. Sie schätzte das Gewicht der Zuckerkristalle auf sechs Gramm, womit sie vermutlich auch richtig lag. Dennoch vermochte sie nicht, sich dadurch von der Unterhaltung abzulenken. Sie konnte es nicht glauben, was sie da hörte - von allen Männern, die ihrer Schwester den Hof machten, suchte Vater ihr ausgerechnet Leutnant Boyd Butler aus!
Für den Bruchteil einer Sekunde erwog Abigail, Einspruch zu erheben, doch sofort verwarf sie diesen Gedanken wieder. Gäbe sie ihre Gefühle für den Leutnant preis, würde das eine einfache Sache nur komplizieren. Und diese Angelegenheit war wirklich sehr einfach. Butlers Herz gehörte Helena, und ihr Vater hoffte auf eine angemessene Heirat. Bisher hatte Senator Cabot am Ende stets das erreicht, was er wollte.
„Dann geht es wahrscheinlich um wichtige Angelegenheiten mit dem Vizepräsidenten.“ Abigails Stimme klang neutral.
Ihr Vater drückte die Hände auf die Tischplatte. „Ich nehme meine Vorteile wahr. Meine Liebe, ich war schon Senator, bevor ihr beide auf der "Welt wart. Ich liebe mein Land und will es zu der größten Nation der Erde machen. Dies ist mein vordringlichster Wunsch. Gegenwärtig gibt es eine Bewegung, die hier in Virginia die Expansion der Eisenbahn behindern will. Meine Aufgabe ist es, die Unterstützung des Vizepräsidenten zu gewinnen.“
Abigail fragte sich unwillkürlich, was ihrem Vater eigentlich mehr am Herzen lag - Helenas Glück oder sein Bedürfnis nach einer politischen Allianz.
„Ist das möglich, ohne Helena mit einem Mann zu verheiraten, den sie gerade erst getroffen hat und den sie kaum kennt?“ „Möglich ist alles.“
„Willst du denn nicht, dass ich heirate, Abigail?“ Helena schob die Zwiebackkrümel auf ihrem Teller zusammen.
Abigail maß ihre Antwort mit derselben Präzision ab wie vor wenigen Augenblicken den Zucker. „Ich will, dass du das tust, was dich glücklich macht.“
„Papa zu gefallen, das macht mich glücklich.“ Helena strich Konfitüre auf einen Zwieback und reichte ihn dem Senator.
„Der junge Butler ist in sie verliebt, Abigail.“ Ihr Vater nahm den Zwieback entgegen. „Das haben gestern Abend alle gesehen. Außerdem braucht deine Schwester einen Ehemann. Weshalb sollte man da nicht beides miteinander verbinden?“
Weil ich Leutnant Butler liebe, dachte Abigail und biss sich auf die Lippe, um dies nicht laut zu äußern.
Sie überflog den Rest des Zeitungsartikels und stellte fest, dass dem verruchten James Calhoun mehrere Zeilen gewidmet waren. Er selbst stellte sich als ein Gentleman vom Lande dar, doch die Zeitung befasste sich hauptsächlich mit seinem blendenden Aussehen, seinem verbindlichen, weltmännischen Auftreten, seinem Ruf auf dem Gebiet der Rennpferdezucht und natürlich mit der Tatsache, dass er unverheiratet war. Dass er als Abgeordneter vor kurzem in den Kongress gewählt worden war, schien nicht so wichtig zu sein wie sein mysteriöser Charme.
Gedankenverloren faltete Abigail die Zeitung genau in der Mitte, faltete sie dann noch einmal und strich mit dem Daumen über den Knick. Sie richtete das Blatt exakt nach der Tischdecke aus und stellte dann das Salzfässchen genau in die Mitte der Spitzentischdecke.
Helena beobachte sie liebevoll amüsiert. „Wie um alles in der Welt bist du nur so pingelig geworden?“
Da Abigail es selbst nicht wusste, schwieg sie. Abgesehen von ihrer verblüffenden Sehkraft besaß sie einen ausgeprägten Sinn für räumliche Verhältnisse. Eine fast krankhafte Veranlagung in ihr verlangte nach Ordnung und Präzision, ob es sich nun um eine gefaltete Zeitung, ein Salzfässchen, Bücher auf einem Regal oder um ein Blumenarrangement handelte. Ihr Vater erhob sich nun vom Tisch. „Ich muss gehen“, erklärte er. „Bis der Senat Zusammentritt, habe ich nichts weiter als Besprechungen mit dem Komitee.“ Versonnen küsste er seine Töchter und nahm seine Papiere auf.
„Es sieht ganz so aus, als kämst du in die Politik“, bemerkte Abigail, nachdem ihr Vater fort war.
„Vielleicht kommt die Politik auch in mich.“ Bei Abigails bestürzter Miene brach Helena in Gelächter aus. „Bin ich zu frivol für dich?“ fragte sie. „Hat sich in dir denn noch nie das Verlangen nach einem Mann geregt?“
Da Abigail keine passende Antwort einfiel, sagte sie nur: „Also wirklich, Helena!“ und tat noch zwei Gramm Zucker in ihren Tee.
Während ihre Schwester pausenlos über den Hochzeitsempfang redete, spürte Abigail einen bitter-süßen Schmerz in der Brust. Wie herrlich wäre es doch, so in die Welt zu passen wie Helena und sich immer der Zuneigung, der Akzeptanz und der Wertschätzung der Menschen sicher zu sein!
„... und so habe ich ihn eingeladen, uns zu besuchen“, erzählte Helena gerade.
Abigail war sofort hellwach, und ihr Herz machte einen Satz. „Leutnant Butler?“
„Wer? Ach, der. Nein, ich sprach von Mr. Calhoun. Wenn du mir zugehört hättest, bräuchtest du nicht zu fragen.“
„Du willst also, dass dir Mr. Calhoun ebenfalls den Hof macht?“
„Hast du den Mann denn nicht gesehen? Gestern Abend begehrte ihn jede junge Dame im Saal.“
„Ich nicht!“ Abigail stellte sich das goldene Haar, das blendend gut aussehende Gesicht und die eisgrauen Augen vor, die einen Menschen unbarmherzig bis ins Innerste zu durchdringen vermochten. Der Mann hatte etwas Gefährliches, Raubtierhaftes an sich. Für ihn schien die Welt ungeheuer amüsant zu sein, doch hinter all seiner Heiterkeit wohnte eine kalte, umschattete Finsternis. Abigail erschien er nicht wie jemand, der in der Lage war, glücklich zu sein.
„Ich habe ihn natürlich nicht eingeladen, damit er mir den Hof macht“, fuhr Helena fort. „Er kommt, weil er bei Professor Rowan einziehen wird.“ Sie faltete die schmalen Hände unter dem Kinn und lächelte ein wenig rätselhaft. „Das ist doch einfach perfekt, nicht wahr? Der arme Professor Rowan läuft rastlos nebenan in diesem großen Haus herum, hat allen Platz der Welt und kann ihn mit niemandem teilen.“
Die gute Helena, dachte Abigail voller Zuneigung - stets versucht sie, anderen Leute zu ihrem Besten zu verhelfen und sie miteinander zu verknüpfen wie Fäden in einem Teppich. „Hast du den Professor schon davon unterrichtet, dass er einen neuen Abgeordneten als Untermieter bekommt?“
„Ich habe Dolly gleich heute Morgen nach drüben geschickt, damit sie das Haus aufräumt“, berichtete Helena. „Professor Rowan wird schrecklich dankbar sein, nicht wahr?“
Wahrscheinlich nicht, doch wie jeder andere Mensch war auch er unfähig, Helena zu widersprechen.
„Übrigens, was Leutnant Butler betrifft..." Abigail sprach wie nebenbei. „Willst du wirklich, dass er um dich anhält? Oder hast du das nur gesagt, um Vater zu gefallen?“ Mit angehaltenem Atem wartete sie auf die Antwort ihrer Schwester.
„Der Leutnant bat mich, mir aus Annapolis schreiben zu dürfen, und ich war natürlich damit einverstanden.“ Helena seufzte. „Er gefällt mir tatsächlich.“
„Und, liebst du ihn?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich lernte ihn ja eben erst kennen.“ Abigails geheime Wünsche drohten überzuschäumen wie Champagner aus einer Flasche. Ja, sie liebte den Leutnant. Ihr Herz sagte ihr das, wenn ihr wesentlich verlässlicherer Verstand ihr auch klarmachte, dass Boyd Butler für sie nicht in Reichweite lag. Navel- orangen aus Jaffa liebte sie auch, was nicht hieß, dass sie diese jederzeit haben konnte; sie waren schlicht nicht verfügbar.
Gestern Abend hatte der Leutnant ihr seine Sehnsucht nach Romanzen und Poesie gestanden. Doch was er wirklich begehrte, war Helena, und wer wollte es ihm verübeln?
„Das muss ich doch auch noch nicht heute entscheiden, oder?“ fragte Helena mit strahlendem Lächeln.
„Selbstverständlich nicht.“
„Ich hasse Entscheidungen“, meinte ihre Schwester und klaubte mit der Fingerspitze die Krümel auf ihrem Teller zusammen. „Du auch?“
Abigail musste lachen. „Nein. Ich entscheide gern, was als Nächstes passieren soll, und dann lasse ich es geschehen.“
„Das finde ich langweilig“, entschied Helena. „Wenn ich nie etwas plane, erlebe ich jeden Tag Überraschungen.“
Abigail schüttelte den Kopf und trank ihren Tee aus. Sie wünschte, sie hätte sich für heute mehr vorgenommen, denn das Eichen sollte erst am späten Nachmittag stattfinden, und bis dahin hatte sie nichts zu tun, obwohl die Astronomie ihre wahre Berufung war. Sie arbeitete drei Tage in der Woche für Professor Drabble an der Universität, errechnete Sternkarten und studierte Astronomie.
Mit ihrer Arbeit war sie glücklich und zog den Hörsaal einem Ballsaal vor. Für sie bedeutete eine Galagesellschaft immer ein tödliches Risiko - fliegende Blumensträuße, schnelle Tänze, zerbrechliche Gegenstände, die einer tollpatschigen Frau in den Weg gestellt wurden.
Im Gegensatz dazu schien niemand an der Universität zu wissen oder sich darum zu kümmern, dass sie anders als andere war. Im Labor oder im Observatorium war sie für ihren scharfen Verstand und ihr ebenso scharfes Auge bekannt; hier kritisierte niemand ihr ungepflegtes Äußeres und ihre so genannte Streitsucht. Sie träumte von Bergspitzen unter kristallklarem Himmel, von Inseln mitten im weiten Ozean - von Orten, die weit entfernt waren von der Hauptstadt, die einem überfüllten Goldfischglas glich, und der Versnobtheit von Georgetown.
Während sie und Helena sich auf ihre getrennten Unternehmungen vorbereiteten, kam Dolly mit einer gedruckten Karte auf einem Silbertablett herein. „Ein Gentleman möchte Ihnen seine Aufwartung machen, Miss.“ Die Haushälterin stellte das Tablett vor Helena ab.
„Lieber Himmel!“ rief diese aus, ohne auf die Karte zu schauen. „Er verliert ja wahrhaftig keine Zeit, herzukommen. Bringen Sie ihn bitte in den vorderen Salon.“
„Sehr wohl, Miss.“
Helena strahlte. „Oh, das wird lustig, nicht wahr, liebste Abigail?“
Es wurde natürlich keineswegs lustig, jedenfalls nicht für Abigail. Helena spielte gern mit Menschen, als wären es Modepuppen; sie zog sie an, schickte sie auf Abenteuer aus und beobachtete, was passierte. Vielleicht war das ja auch eine Art von Wissenschaft, die sich jedoch - falls es so sein sollte - sehr von der Astronomie unterschied.
Als die Schwestern in den Salon hinunterkamen, stand der Besucher abgewandt von ihnen. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und schaute aus dem Fenster. Mit seinen modischen, blank geputzten Schuhen war er größer als Leutnant Butler, wie Abigail feststellte.
„Guten Morgen, Mr. Calhoun“, grüßte Helena und glitt wie auf Schlittschuhen durch den Raum. „Schön, dass Sie gekommen sind.“
Abigail näherte sich ihm etwas langsamer. Sie vermochte nicht zu gleiten, außer in einer Gondel auf einem stillen Teich.
Nun drehte er sich um und bedachte sie mit einem verwirrenden Lächeln, das in Abigail bisher ungekannte Gefühle hervorrief. „Ganz im Gegenteil; es war nett von Ihnen, mich einzuladen. Sie scheinen sich beide von der gestrigen Veranstaltung sehr gut erholt zu haben.“
„Wir dürfen keine Minute verschwenden“, meinte Helena. „Ich kann es kaum erwarten, Sie mit Professor Rowan bekannt zu machen.“
„Ihr Vater ist nicht im Hause?“
Abigail wurde misstrauisch. Typisch Politiker! Immer auf der Suche nach dem Vorteil. „Falls Sie unseren Vater besuchen wollten, hätten Sie früher kommen müssen“, erklärte sie.
„Um mich dadurch Ihrer charmanten Gesellschaft zu berauben?“ Spöttisch hob er die Augenbraue.
„Irgendetwas sagt mir, dass Sie in Ihrem Leben nicht noch mehr Frauen brauchen.“ Abigail vermochte der Versuchung nicht zu widerstehen, ihn an das zu erinnern, was sie im Garten des Weißen Hauses beobachtet hatte.
„Meine Teure, jeder Mann wird Ihnen bestätigen, dass man gar nicht genug Frauen im Leben haben kann.“
„Zanken Sie nur nicht mit meiner Schwester“, warnte Helena.
„Weshalb nicht?“
„Weil Sie dann verlieren.“ Sie nahm Abigails Hand. „Meine Schwester ist fraglos streitlustiger als jeder andere Mensch.“
Sein Lächeln war teuflisch, sprach jedoch auch von aufrichtigem Vergnügen. „Möglicherweise hat sie ja jetzt ihren Meister gefunden.“
„Das bezweifle ich. Sie kennen Abigail nicht, Mr. Calhoun.“
„Helena, bitte.“ Abigail drückte ihr die Hand. Vielleicht hatte die Schwester ja Recht. Ihre Streitlust war jedoch nichts anderes als Verteidigung, indem sie den harten Schild ihres Intellekts über ihre weiche Verletzbarkeit hielt. „Mr. Calhoun hat nicht den langen Weg quer durch die ganze Stadt gemacht, um etwas über mich zu hören."
Helena nahm Abigails Unbehagen nicht zur Kenntnis. „Sie ist eine erstklassige Gelehrte an der Universität auf dem Gebiet der Mathematik, und eines ihrer Spezialgebiete ist die ,Lehre vom Schluss“. Sie hat eine tödliche Art des Argumentierens. Der Klügere gibt nach, ohne sich mit ihr zu streiten.“
Mr. Calhoun stieß einen leisen Pfiff aus und sah Abigail herausfordernd an. „Das werde ich mir merken. Doch Sie müssen wissen, ich bin noch niemals einem guten Streit aus dem Weg gegangen.“
„Diese Einstellung steht Ihnen im Kongress gut an“, bemerkte Abigail und hoffte, damit das Thema zu wechseln. Dieser Mann verstörte sie. Immer wieder fiel ihr die Szene im Garten ein, und wüsste sie es nicht besser, hätte sie möglicherweise Neugier mit Interesse verwechselt.
Doch nein, dachte sie. So fühlte sie für Leutnant Butler; Mr. Calhoun faszinierte sie auf ganz andere Weise. Er sah gut aus, seine merkwürdigen grauen Augen sprühten Funken, sein Körper war der eines Athleten, und seine Hände wirkten weniger verweichlicht als bei einem Gentleman üblich. Wenn sie James Calhoun ansah, spürte sie Gefahr. Er bedrohte sie nicht körperlich, doch in anderer Beziehung. Er forderte sie heraus und provozierte sie. Außerhalb der akademischen Welt missfiel es ihr allerdings, herausgefordert und provoziert zu werden.
„Also dann los!“ Helena ging voraus zu der hellen Treppe, die sich durch das schmale, hohe Stadthaus wand. Sie war das Schönste am ganzen Gebäude, denn man konnte von oben bis unten hinuntersehen, und an jedem Absatz befanden sich Erkerfenster.
Abigail holte rasch ihre letzten Aufzeichnungen und Berechnungen, die sie dem Professor vorlegen wollte, und dann stiegen sie hinab. Beim Ankleidezimmer hielten sie kurz an, um die Umschlagtücher und Hauben anzuziehen. Professor Rowan wohnte zwar im Nebenhaus, doch die Herbstluft war kühl, und in Georgetown herrschten strenge Sitten. Eine Dame verließ das Haus niemals ohne Umschlagtuch und Kopfbedeckung. Selbst die Cabot- Schwestern richteten sich danach - noch.
Als sie nach draußen traten, blickte Abigail verstohlen zu Mr. Calhoun hinüber. Der Wind spielte mit seinem viel zu langen Haar, und der Sonnenschein glitzerte in seinen Augen. Was würde es wohl bedeuten, diesen schönen Teufel neben sich wohnen zu haben? Und was würde er wohl von Professor Rowan denken?