Hinter der behandschuhten Hand verbarg Abigail ein Gähnen. Gewöhnlich hatten ihre nächtlichen Ausflüge keine solchen Auswirkungen, doch vergangene Nacht hatte sie sich viel länger als üblich auf dem Dach aufgehalten. Bevor sie sich für die Eröffnungssitzung angekleidet hatte, war ihr nur wenig Zeit zum Schlafen geblieben.
Über ihre Hand hinweg warf sie einen Blick zu ihrem Vater, der ihr gegenüber in dem Landauer mit dem Leinenverdeck saß.
„Spät geworden gestern Nacht?“ fragte er. Das klang zwar recht freundlich, doch da Abigail ihn allzu gut kannte, hörte sie seiner Stimme jetzt auch den leichten Tadel an.
Als sie daran dachte, wie sie von dem halb nackten James Calhoun angegriffen worden war, errötete sie. „Ich habe einen überaus beeindruckenden Meteoritenschauer beobachtet.“
„Einen Meteoritenschauer!“ Helena, die aussah wie eine frisch geschnittene Rose aus dem Gewächshaus eines Meistergärtners, nahm Abigails Hand. „Wie herrlich, Liebling. Ich schelte dich nicht, weil du wach geblieben bist, um dir dieses Wunder anzusehen.“
Abigail drückte ihrer Schwester die Hand. Wahrscheinlich hatte Helena keine Ahnung, was ein Meteoritenschauer war, doch ihre Loyalität war wirklich rührend.
„Ich hoffe nur, du schaffst es, während der Eröffnungssitzung wach zu bleiben“, meinte ihr Vater.
„Aber selbstverständlich“, murmelte Abigail. „Ich habe jedes Jahr daran teilgenommen, ohne jemals während der Sitzung einzuschlafen.“
Helena lachte. „Erinnerst du dich? Als du noch ganz klein warst, sagtest du zu Präsident Grant, er rieche nach Gingerale!“
Abigail erinnerte sich durchaus. Sie hatte es weder damals noch heute komisch gefunden, und ihr Vater hatte ebenfalls nicht darüber lachen können. Er verschränkte seine Hände über dem Knauf seines Spazierstocks und starrte geradeaus.
Die Hickory- und Tulpenbäume, welche die Pennsylvania Avenue säumten, schwankten in der frischen Brise. Der Landauer rollte an den schmiedeeisernen Toren vorbei, hinter denen die ausländischen Vertretungen und Bundesbüros lagen. Männer in schwarzen Anzügen gingen eilig ihren unterschiedlichen Geschäften nach, und Dienstmädchen trugen Brot- oder Wäschekörbe. Dunkelhäutige Diener und Kutscher brüllten und pfiffen auf der breiten, geschäftigen Straße.
„Und weißt du noch, als du dreizehn warst und diese fürchterliche Frau aufstand und sich an den Kongress wandte?“ fuhr Helena fort. „Sie behauptete, sie kandidiere für das Präsidentenamt.“ „Victoria Woodhull“, erinnerte Abigail ihre Schwester. „Und ich fand sie ganz und gar nicht fürchterlich.“
„Deinen Standpunkt hast du ja überdeutlich klargemacht, als du dieses Transparent an der Besuchergalerie aufgehängt hast“, bemerkte ihr Vater.
Abigail erinnerte sich an jeden Moment dieses entsetzlichen Tages und wusste noch genau, wie eifrig sie gewesen war. Und voller Idealismus. Sie hatte gedacht, sie tue das Richtige. Wenn Frauen das Wahlrecht erhielten, hatte sie gemeint, dann würden sie alle für ihren Vater stimmen. Alle Frauen, die sie kannte, fanden ihn nämlich wunderbar. Er würde dann sehr stolz auf seine Tochter sein, weil sie ihm mehr Stimmen eingebracht hatte, und dagegen konnte er doch nichts haben.
Sie war die ganze Nacht wach geblieben, um an dem großen Transparent zu arbeiten, und am nächsten Morgen verstaute sie es in einer riesigen Reisetasche und schmuggelte es in die Galerie über den Plätzen der Senatoren. Heimlich brachte sie es hoch oben an, so dass jedes Mitglied des Senats sowie das Pressecorps und die Administration ihren Slogan lesen konnte: „Wahlrecht für Frauen - sofort!“
Das Problem war, dass sie die Reaktion ihres Vaters falsch eingeschätzt hatte. Nachdem jedermann verblüfft ihr Transparent angestarrt hatte, durchbrach ein rivalisierender Senator von der Opposition die Stille. „Sagen Sie mal, Mr. Cabot, ist das da oben nicht Ihre Tochter?“
Noch im gleichen Jahr wurde sie auf Miss Blandings Lyzeum geschickt. Es besaß den Ruf, die beste Schule für die jungen Damen der Nation zu sein, und war eine festungsähnliche Institution am Ufer des Potomac unweit des Mount Vernon. Der Senator hatte gehofft, dass man Abigail dort Disziplin und weibliche Zurückhaltung beibringen würde. Stattdessen jedoch hatte er sie unabsichtlich an einen Ort geschickt, an dem ihre lebenslange Leidenschaft geweckt und genährt werden sollte.
Auf Miss Blandings Lyzeum nahm sie an einer Vorlesung teil, die eine Gastprofessorin hielt. Professor Mitchell war eine Kennerin des Nachthimmels, die berühmteste Astronomin der Welt und die erste weibliche Professorin für Astronomie. Sie war die Erste, die in die Akademie der Künste und Wissenschaften aufgenommen wurde, die Erste, die mittels eines Teleskops einen Kometen entdeckte. Sie hatte ihre Vorlesung mit einem Satz begonnen, den Abigail nie vergessen sollte: „In der Wissenschaft ist vor allem unsere Vorstellungskraft gefordert“, hatte Professor Mitchell gesagt. „Man muss alles hinterfragen.“
Abigail hatte gefühlt, wie sich der Vorhang vor einem großen Rätsel hob. Hier war endlich eine Frau, die verstand, weshalb sie, Abigail, ihre Kinderjahre mit der Sternguckerei verbracht hatte. Von diesem Moment an hatte sie ein Ziel im Leben, auch wenn es sich nicht auf die Erde beschränkte. Ihr Ziel befand sich vielmehr unzählige Lichtjahre entfernt im weiten Weltraum, wo sich das Rätsel des großen Universums verbarg und wo die Sterne geboren wurden.
Andere Lehrer hatten sie neugierig gemacht, sie angestachelt und inspiriert, doch nur diese Professorin hatte ihr Leben verändert und ihr gezeigt, dass sie mehr vermochte, als sie gedacht hatte.
Nach jener Vorlesung schrieb Abigail an Professor Mitchell und erhielt eine sehr kluge und ermutigende Antwort auf ihren Brief. Die beiden schrieben einander seit damals regelmäßig, und wahrscheinlich hatte Abigail hier auch ihre Fertigkeit im Schreiben entdeckt.
Bei diesem Gedanken verdüsterte sich ihre Stimmung. Ihr letzter Brief hatte ja dank des fürchterlichen Mr. Calhoun eine Katastrophe ausgelöst. Ich hätte mich mit dem Schreiben besser auf die Professorin beschränken sollen, dachte sie, während die Kutsche zu dem eleganten Osteingang des Kapitols rollte. Kirsch- und Hartriegelbäume säumten den gepflegten Rasen, und man hatte das Herbstlaub ordentlich von den Straßen und Wegen gefegt.
Zwei dunkelhäutige Diener begleiteten die Ankömmlinge, während die Kutsche sich in die lange Schlange der anderen Wagen einreihte; Droschken und Mietwagen, offene Fahrzeuge und verzierte Kutschen standen entlang der Straße. Einige Senatoren, wie Pishey Harris von Philadelphia, lebten wie ungekrönte Könige und protzten mit ihrem Reichtum. Andere wiederum waren einfache Landbewohner, Leute aus Minnesota oder Kalifornien, die sich bescheiden gaben.
Die Luft schien vor Spannung und hoffnungsvoller Erwartung beinahe zu knistern. Kongressabgeordnete und Senatoren, deren Mannschaften und Unterstützer spürten diese Stimmung, die sie alle vereinte, und jedermann war voller Eifer darauf bedacht, sich an die Arbeit zu machen. Die jüngeren Abgeordneten mit ihrem idealistischen Schwung und die älteren mit der gewohnten Autorität bildeten eine Regierung, die Macht und Kraft ausstrahlte.
Beim Aussteigen wäre Abigail beinahe gestolpert, doch ein aufmerksamer Diener hielt sie noch rechtzeitig fest. Sie warf einen Blick auf ihren Vater und sah, dass er sie mit gequälter Miene beobachtete. Verstört zuckte sie zusammen. Der Tag hatte noch kaum begonnen, und schon war es ihr wieder gelungen, die Missbilligung ihres Vaters zu erregen. Er sagte kein Wort, sondern drehte sich zu seinen Kollegen um.
Männer waren hier weit in der Überzahl, denn nur die reichsten Abgeordneten und die der Aristokratie brachten ihre Angehörigen mit ins Kapitol. Deshalb bestand der Senator auch immer darauf, dass Abigail und Helena beim Eröffnungstag anwesend waren.
Über dem allgemeinen Stimmengewirr, dem Peitschenknallen und den Pfiffen der Kutscher hörte man auf einmal den Hufschlag eines Pferdes, das sich in schnellem Galopp näherte. Die Leute drehten sich neugierig um, und einige von ihnen sprangen eilig aus dem Weg. Wie alle anderen auch starrte Abigail offenen Mundes den eintreffenden Kongressabgeordneten an.
Der Mann ritt nicht irgendein Pferd, sondern ein schnelles, muskulöses Tier mit glänzendem rotbraunem Fell, langer schwarzer Mähne und dem edlen Kopf eines Arabers. Es schnaubte, warf den prächtigen Kopf hoch und scharrte mit den Vorderhufen; sein Reiter vermochte es kaum zu bändigen. Die Kraft und Energie des Hengstes zwang die wartenden Diener und Knechte, gegen die gemeißelte Mauer zurückzuweichen, die den Rasen umgab.
Der Reiter trug einen Anzug, der extravagant, aber auch modisch wirkte, so als hätte ein Cowboy sich in die Werkstatt eines Schneiders auf der Savile Row verirrt. Gekonnt saß der Mann ab. Er winkte einen Pferdeknecht heran und drückte diesem die Zügel in die eine und eine Goldmünze in die andere Hand. „Er heißt Sultan. Und Sie müssen ihn wie eine königliche Hoheit behandeln“, wies der Kongressabgeordnete den Mann an. „Wenn Sie sich daran halten, wird er Ihnen keinerlei Schwierigkeiten machen.“
Der Pferdeknecht verbeugte sich und führte das Tier zu den Mietställen in der Forth Street. Der Neuankömmling richtete seinen Kragen, klopfte sich die Ärmel ab und wandte sich den breiten Stufen des Kapitols zu.
„Wer ist das?“ fragte jemand.
„Ein Gott, der auf Erden wandelt“, flüsterte eine Frau.
Abigail verdrehte die Augen. „Das ist Mr. James Calhoun. Ein neuer Abgeordneter aus Virginia.“
Jamie fing ihren Blick auf und zwinkerte ihr zu. Sie tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt, drehte sich um und folgte ihrem Vater und Fielena in das Gebäude.
Als sie noch ganz klein gewesen war, hatte sie sich immer wie Alice im Wunderland gefühlt, wenn sie die strahlenden Hallen des Kapitols betrat. Der riesige weiße Rundbau überwältigte sie stets und vermittelte ihr das Gefühl, als wäre sie durch ein Kaninchenloch in eine unbekannte, neue Welt aus Marmor und Gold geschlüpft, in der es fremdartige Geschöpfe wie sprechende Raupen und verrückte Hutmacher gab.
Weltmännisch wirkende Advokaten in teuren Anzügen mit Akten unter dem Arm liefen herum, neugierige Touristen schauten sich alles an, und einige von ihnen erschienen ihr viel interessanter als die Amerikaner. Abigail bemerkte eine Gruppe eleganter Franzosen, welche die in die Wand gemeißelten Inschriften lasen. Auf Spanisch schwatzende Kinder kämpften mit ihrer Langeweile, während ihre Führerin ihren Vortrag endlos fortsetzte.
Am faszinierendsten war eine Gruppe aus dem Nahen Osten, in der sich ein wichtig aussehender Herr mit Bart und Turban befand. Er wurde von einer Dame begleitet, die so vollständig in seidene Schleier gehüllt und von Dienern umgeben war, dass sie für Vorbeikommende fast unsichtbar war.
Abigail wäre gern noch länger hier geblieben, doch ihre Schwester zog sie weiter. Sie kamen in den langen Korridor, der zu den Kammern führte. Ihr Vater, der besser als alle anderen im Senat wusste, wie man einen richtigen Auftritt inszenierte, stellte sich zwischen seine beiden Töchter und hielt ihnen auffordernd seine angewinkelten Arme hin. „Meine Damen - wollen wir?“
Voller Stolz und Zuneigung legte Abigail ihre Hand auf den Arm des Senators. Für Augenblicke wie diesen lebte sie, für die herrlichen Momente, da alle Menschen sehen konnten, dass sie einen Vater hatte, der sie liebte.
Er lächelte wie ein Sieger und stolzierte den belebten Korridor entlang. „Immer schön geradeaus schauen!“ mahnte er, weil er offenbar ihren Drang spürte, die Menschen rechts und links zu betrachten. Mit festem Griff führte er sie weiter.
Abigail hoffte inständig, dass die Leute ihre erhitzten Wangen auf die Aufregung zurückführen würden, die der erste Tag der Herbst-Sitzungsperiode mit sich brachte. Und als sie ihrem Vater alles Gute wünschte und sich zu den Galeriestufen wandte, betete sie, er möge nicht den Glanz ihrer dummen Tränen bemerken, weil sie daran dachte, wie sie vergangenes Jahr auf der Westtreppe gestolpert war und dabei beinahe alle drei umgerissen hätte.
Als sie und Helena sich auf halber Höhe der Treppe befanden, spürte sie plötzlich ein seltsames Prickeln und schaute zurück. Da, am Ende des Korridors, der zu den Kammern des Hauses führte, stand James Calhoun und betrachtete sie mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Dieser unverschämte, extravagante Mensch hatte bereits zu viel von ihr gesehen. Sie kannte ihn erst seit kurzem, und schon hatte er sie hintergangen. Sie sollte sich besser von ihm fern halten.
Sie setzte einen Fuß vor den anderen und ging weiter die Treppe zur Besuchergalerie hinauf. Obwohl sie sich nicht noch einmal zu ihm umdrehte, spürte sie seinen Blick. Sie dachte an die Freiheiten, die er sich ihr gegenüber erlaubt hatte. Und er hatte sich über sie lustig gemacht, obwohl er gleichzeitig mit seiner Berührung ihre Sinne in Glut versetzt hatte.
Dieser Mann bedeutete für sie eine Gefahr, nicht im körper- liehen Sinne, doch auf eine Weise, die sie viel mehr fürchtete: Er bedrohte ihre Sicherheit und alles, was sie für wahr und richtig hielt.
Helena schlief bereits seit einer halben Stunde, und auch Abigail konnte sich kaum noch wach halten. Von ihren Plätzen oberhalb der in Hellrot und Gold dekorierten Senatskammer hatten sie respektvoll die Eröffnungszeremonie verfolgt, doch dann begannen die Ansprachen. Endlose, ermüdende Vorträge, Lobeshymnen, unverständliche Rhetorik und aufgeblasene Aussagen dazu, mit welchem Ehrgeiz man in dieser Legislaturperiode gewisse Ziele verfolgen werde. Die neu gewählten Senatoren waren die Schlimmsten. Der junge Troy Barnes vom Staat New York hatte sich gute vierzig Minuten lang über seine göttliche Mission ausgelassen. Abigail fragte sich, ob ihm eigentlich bewusst war, dass ihn Menschen und nicht der liebe Gott gewählt hatten.
Sie warf heimlich einen Blick auf ihre Schwester. Helena hatte im Laufe der Jahre die Kunst perfektioniert, hellwach zu wirken, obgleich sie in Wirklichkeit fest schlief. In vollendeter Haltung saß sie da, die Krempe ihres modischen Huts beschattete ihr Gesicht, und die Hände hielt sie bescheiden im Schoß gefaltet. Abigail allein wusste, dass sie selig schlief.
Mit einer Stimme wie ein Ochsenziemer machte Senator Barnes deutlich, dass er das Feld in nächster Zeit nicht zu räumen gedachte. Abigail blickte die Galerie entlang und suchte eine unauffällige Fluchtmöglichkeit. Die eleganten Damen der Hauptstadt schienen damit beschäftigt zu sein, hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln und zu klatschen. Auf der Galerie gegenüber beobachteten ein paar Diplomaten und ausländische Minister in goldbetressten Galauniformen, Reporter sowie Touristen die Vorgänge.
Während Barnes ungebremst weiterschwafelte, stand Abigail auf und schlich von der Galerie zu dem zentralen Durchgang zwischen den Kammern des Kongresses. Helfer und Pagen liefen durch die Gänge, trugen Botschaften aus und machten einen sehr beschäftigten Eindruck.
Abigails Füße kribbelten, als das Blut wieder in den Beinen zirkulierte. Sie konzentrierte sich darauf, möglichst anmutig zu gehen; schätzungsweise blieb ihr nur eine gute Stunde, bevor der Vizepräsident das Ende der heutigen Sitzung verkündete.
Leutnant Butler hatte den Eröffnungszeremonien nicht beigewohnt, und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Einerseits fürchtete sie sich vor dem Wiedersehen, doch andererseits sehnte sie sich danach. Sie sah ihn vor sich, wie er den Brief las, den er niemals hätte sehen sollen. Er musste annehmen, dass Helena für den Inhalt verantwortlich war. Irgendwann würde Abigail ihm die Wahrheit sagen. Dann würde sie sehen, wie sich seine Verwirrung in Schmerz und schließlich in kalte Abneigung verwandelte.
Als sie hinter der oberen Galerie entlanglief, stürmten zwei Reporter heraus und eilten zum Telegrafenbüro im Untergeschoss. Abigail wollte den Grund der Aufregung erfahren, betrat die Galerie und setzte sich hinten hin.
Während im Senat die Atmosphäre eines Herrenklubs geherrscht hatte, war es im Repräsentantenhaus laut und voll. Männer in einfachster Kleidung saßen herum, spuckten und rauchten, als wären sie Zuschauer bei einer Sportveranstaltung. Es überraschte Abigail nicht im Mindesten, Jamie Calhoun am Podium zu sehen. Sein Kragen stand offen, und das Haar fiel ihm in die Stirn. Was sie allerdings überraschte, war das Thema seiner leidenschaftlichen Rede.
„... weshalb ich nach Washington kam, meine Herren. Nicht, um Eisenbahnen zu bauen, sondern um die Kleinbauern zu beschützen, die durch die Ausweitung des Schienennetzes von ihrem Land vertrieben werden“, brüllte er über das Stimmengewirr der Menge. „Welchen Wert hat der eiserne Schienenweg für einen Farmer, der keine Ernte hat, die er verladen könnte?“
Ein wohlbeleibter Mann auf der anderen Seite des Mittelgangs schüttelte ungläubig den Kopf. „Der Mann muss lebensmüde sein“, murmelte er. Sein Abzeichen wies ihn als Timothy Doyle von der „Washington Post“ aus.
„Weshalb sagen Sie das?“ flüsterte Abigail.
„Er opponiert gegen die Expansion der Chesapeake Railroad. Da könnte er auch gleich gegen das freie Unternehmertum opponieren.“ Doyle rieb sich übers Gesicht und runzelte die Stirn. „Ist doch komisch, nicht? Was hat ein Mann aus der Plantagengesellschaft nur gegen die Eisenbahn? Jahrzehntelang arbeiteten sie doch Hand in Hand. Was will dieser Calhoun nur erreichen?“
„Das weiß ich wirklich nicht.“ Abigail hörte sich die Rede weiter an, und ihre Verwunderung wuchs. In vielerlei Hinsicht war Mr. James Calhoun nicht das, was er zu sein schien.
Am frühen Abend kehrten sie nach Georgetown zurück. Als sie ins Foyer traten, war Abigails Vater voller Selbstbewusstsein und großer Töne, und Helena hatte nur Lob für das neueste Objekt ihres Interesses: Senator Troy Barnes.
Ihr Vater runzelte die Stirn. „Ich dachte, du hättest dich für Boyd Butler entschieden.“
„Gewiss, Papa, genauso sehr wie du. Schließlich habe ich seinen Brief auch postwendend beantwortet, nicht wahr, Abigail?“
„Selbstverständlich“, bestätigte ihre Schwester und fühlte, wie es ihr bei der Erinnerung an den leidenschaftlichen Brief kalt über den Rücken lief.
„Ja, ich habe mich damit sehr beeilt.“ Helena übergab Dolly Hut und Schal. Dann drehte sie sich mit einem gewinnenden Lächeln zu ihrem Vater um. „Ach, nun mach doch nicht so ein böses Gesicht! Ich darf doch sicherlich mehr als einen einzigen Mann gleichzeitig verehren, nicht? Auf der Hochzeit hat Senator Barnes zweimal mit mir getanzt. Er ist ein wundervoller Mann und stammt aus bester New Yorker Familie.“
„Er darf nur deine Verehrung nicht missverstehen.“
Während die beiden hin und her stritten, stiegen sie die Treppe hinauf. Nur Abigail hatte die Mitteilungen auf dem Flurtisch bemerkt. Furchtsam nahm sie den obersten Brief auf und fuhr mit dem Daumen über das eingeprägte Siegel der Marineakademie.
Mit zitternden Händen hob sie den Umschlag an die Lippen und schloss die Augen, in denen Panik, Schrecken und Freude lag: Leutnant Butler hatte geantwortet!