Jamie Calhoun erschien geradezu altmodisch pünktlich zur Galaeröffnung des National-Aquariums an der Constitution Avenue, die nicht weit vom Weißen Haus entfernt war.
Er wollte keinen einzigen Moment dieses Ereignisses verpassen - nicht weil er etwa Wert darauf legte, Alligatoren und Haie zu besichtigen, sondern weil diese Veranstaltung Abigail Cabots erster offizieller Auftritt als künftige Braut war.
In dieser reich ausgestatteten neuen Einrichtung, der ersten ihrer Art in der Nation, würde Abigail an Boyd Butlers Arm erscheinen, während Boyds Vater, der Vizepräsident, eine kurze Rede halten und danach das übliche Durchschneiden des Bandes überwachen würde.
Die ganze Elite der Hauptstadt würde zugegen sein und die zukünftige Braut begutachten. Alle waren neugierig auf das Mädchen, das die Schwiegertochter des zweitwichtigsten Mannes im Lande werden sollte. Ihr letzter Auftritt in der Gesellschaft war nicht eben sehr erfolgreich gewesen, und deswegen kreisten die Geier jetzt über ihr.
Es war bekannt, dass Boyd Butler III. eine politische Laufbahn einschlagen wollte, und einige Leute meinten sogar, eine künftige Bewerbung um das Präsidentenamt wäre keineswegs ausgeschlossen.
Als Jamie darüber nachdachte, fand er diese Vorstellung sowohl erheiternd als auch unglaublich: Abby, seine Abby - als First Lady! Bei diesem Gedanken schwindelte es ihn, dennoch stellte er sich immer wieder vor, wie angemessen es wäre und wie wohltuend für das amerikanische Volk. Das Weiße Haus hatte zwar seine Dolley Madison und seine Mary Todd Lincoln gehabt, jene First Ladys, die frischen Wind in das Amt gebracht hatten, doch jemanden wie Abigail Cabot hatte es noch nie erlebt.
Verdammt, niemand hatte je eine Person wie Abigail Cabot erlebt!
Jamie entdeckte etwas Erschreckendes: Sie würde ihm fehlen. Dabei sollte er doch froh darüber sein, dass er mit den Cabots bald nichts mehr zu schaffen haben würde. Darüber bin ich auch froh, redete er sich ein. Es machte ihm nichts aus, Leute für sich einzuspannen, doch ein Sadist war er auch wieder nicht; es bereitete ihm keine Freude zuzusehen, wie alles nach und nach auseinander brach, was zweifellos geschehen würde, denn das lag in der Natur von Romanzen und Liebe. Wie dem auch sei - er war gespannt darauf, wie man Abigail heute aufnehmen würde.
„Sie machen ja ein so düsteres Gesicht, Herr Abgeordneter!“ Caroline Fortenay begrüßte ihn, als er die Marmortreppe in die Hauptgalerie hinunterstieg.
Sofort glättete Jamie die Stirn. Er kam sich vor, als wäre er ein anderer Mensch als der, den die Dame vor nicht allzu langer Zeit verführerisch gefunden hatte. „Das mache ich öfter, wenn ich zu viel nachdenke.“
„Und worüber denken Sie im Moment nach?“
Jamie tat, als interessierte ihn die glänzende neue Galerie ungemein. Eine vergoldete Decke wölbte sich über die ganze Länge des breiten Gangs. Längs jeder Wand sowie an jedem Quergang war hinter dicken Glasscheiben exotisches Seegetier ausgestellt. Von einem Ende der Marmorgalerie drang eine Melodie von Saint-Saens herüber, und am anderen Ende legten weiß gekleidete Kellner letzte Hand an die mit Getränken und Speisen beladenen Tische.
„Ich versuche nur, mich an das letzte Mal zu erinnern, da ich eine schöne Frau im Arm hielt.“ Diese Schmeichelei klang ehrlich. „Meine liebe Madam, das ist schon viel zu lange her.“
Tatsächlich erinnerte er sich noch allzu deutlich daran, wie er die lustige Witwe Fortenay verführt hatte, und ebenso deutlich erinnerte er sich an die rüde Störung, die letztlich Mrs. Fortenays Tugend gerettet hatte - ein lauter Niesanfall, der aus dem Dunkeln kam.
„Ist sie wenigstens lustig, Ihre lange Einsamkeit?“ erkundigte sich seine Gefährtin.
„Eine persönliche Tragödie ist sie“, antwortete Jamie und strafte damit sein Lächeln Lügen. „Ich bestehe darauf, dass Sie mich daraus erretten, indem Sie mir die Ehre eines Tanzes erweisen, Mrs. Fortenay.“
Der kaum verhohlene Hintergedanke war der Dame anzusehen, als sie sein Angebot annahm. „Da Sie mich mit Mrs. Fortenay anredeten, wissen Sie es wahrscheinlich noch nicht: Ich habe einen neuen Gatten gefunden.“
Da hat sie ja keine Zeit verloren, um wieder zu heiraten, dachte Jamie und war hin und hergerissen zwischen Bewunderung und Zynismus. „Ah, Sie brechen mein Herz“, erklärte er und sah, wie ihre Augen bei dieser Schmeichelei aufleuchteten. „Dann darf ich ja wohl gratulieren - Ihnen und ganz besonders dem glücklichen Bräutigam.“
Obgleich sie gerade erst geheiratet hatte, sandte sie eindeutige Zeichen aus; die Zunge, mit der sie ihre Lippen befeuchtete, der schwüle Blick, ihre einladende Hand in der seinen ...
Von alldem blieb er seltsam unbeeindruckt. Noch schlimmer, es langweilte ihn. Heimliche Affären reizten ihn nicht mehr; sie waren alle gleich und lohnten nicht die Mühe.
Da eine Reaktion von ihm ausblieb, drückte die ehemalige Mrs. Caroline Fortenay den Daumen in den Muskel seines Oberarms. „Ich glaube, ich brauche mehr als nur einen Tanz mit Ihnen, Herr Abgeordneter.“
„Ma’am, Sie sind zu liebenswürdig. Womit habe ich mir das verdient?“
Sie lachte, und es klang, als zerbräche Kristall. „Sie haben es gar nicht verdient. Mein Gatte meint sogar, Sie sollten von einem durchgehenden Pferd zu Tode geschleift werden - beziehungsweise von einem Zug.“
Diese bildhafte Vorstellung weckte seine Neugier. „Und Ihr Gatte ist...?“
Caroline drehte ihn um und deutete auf einen rundlichen, älteren Herrn mit von einem Haarkranz umrahmter Glatze, schweren Hängebacken und der großen roten Nase eines Gewohnheitstrinkers. „Horace Riordan, Präsident der Chesapeake Union Railway Company“, sagte sie.
„Ich stehe ganz deutlich nicht in seiner Gunst“, bemerkte Jamie, dem Riordan einen giftigen Blick quer durch den Raum zuwarf.
„Ich soll Sie dazu verführen, Ihre Anti-Eisenbahn-Kampagne aufzugeben. Falls Sie damit durchkämen, hätten wir nämlich keinen Schienenkorridor durch die Tidewater-Region.“
„Das dürfte wohl der Sinn der Sache sein, Ma’am. Übrigens wirkt Ihr Zauber bereits.“ Die Tatsache, dass auch sie eine Absicht verfolgte, machte das Spiel interessanter. Jamie ließ seine Hand aufreizend an dem Rücken der Dame hinuntergleiten. „Ich finde Sie in der Tat bezaubernd.“
Caroline bog ihren Rücken durch und drückte sich enger an Jamie. „Sie werden die Sache also fallen lassen?“
Gewiss doch, dachte er. Weshalb sollte auch die Existenz von ein paar Tausend Farmern dem Reichtum eines Einzelnen im Wege stehen?
Jamie setzte das Lächeln auf, das ihm auf seinen Reisen schon so manch aufregende Nacht eingetragen hatte. „Meine Liebste, ich vermische niemals Politik und Vergnügen, doch ich werde ..." Er neigte sich zu ihr und flüsterte ihr einen seiner schockierendsten Vorschläge ins Ohr.
Caroline errötete, und er hoffte, sie wäre eher interessiert als beleidigt. Dennoch war er ein wenig beunruhigt. Sie wich zurück, und er bereitete sich schon auf eine Ohrfeige vor.
„Wann?“ fragte sie nur.
Er warf wieder einen Blick zu Horace Riordan hinüber. Diesem raffgierigen Bastard geschähe es ganz recht, wenn ich seine frisch gebackene Ehefrau verführte, dachte er. Doch selbstverständlich war ein Mann wie dieser vermutlich daran gewöhnt, dass seine Frauen direkt unter seiner dicken Nase verführt wurden.
„Wann also?“ flüsterte sie drängend. „Sagen Sie es mir doch.“
Bevor er zu antworten vermochte, erhob sich Stimmengewirr, und Jamie zog Caroline an den Rand der Tanzfläche. Senator Cabot war in Begleitung des Vizepräsidenten und dessen Gattin erschienen; die drei standen jetzt oben auf der Marmortreppe. Wie königliche Hoheiten stiegen sie hinunter in das Meer der Partygäste.
Dann richtete sich die Aufmerksamkeit der Menschen auf ein junges Paar, das oben auf der Treppe erschien.
„Das ist Boyd Butler“, stellte Caroline fest.
„Ja, sieht ganz so aus.“
„Und die Dame bei ihm muss seine Verlobte sein.“
„Glaube ich auch.“
„Das kann aber nicht sein“, meinte Caroline. „Ich las doch in der ,Post‘, er würde Miss Abigail Cabot heiraten.“
Nach dem katastrophalen Telefongespräch hatte Jamie sich umgehend in das Verlagsbüro der ,Washington Post“ begeben, hatte Timothy Doyle aufgesucht und diesem die Bekanntmachung diktiert, die jetzt wie eine einzige Lobpreisung für Miss Cabot, deren Lebhaftigkeit, deren Stil und deren Klugheit klang.
Die Leute hatten natürlich den Artikel gelesen und wollten jetzt die junge Dame persönlich in Augenschein nehmen, um das, was in der Zeitung gestanden hatte, mit dem zu vergleichen, was sie nun mit eigenen Augen sehen würden.
„Nun?“ drängte Caroline. „War das eine Falschmeldung der ,Post‘?“
„Durchaus nicht. Boyd Butler ist mit Miss Abigail Cabot verlobt.“
„Nur wer ist denn dann ...“ Caroline sprach nicht weiter, sondern drängte sich vor, um besser sehen zu können. „Große Güte, das ist tatsächlich Abigail Cabot! Sie hat sich ja netter zurechtgemacht, als ich es mir je hätte vorstellen können.“
Nach dem aufgeregten Flüstern zu urteilen, das nun den Raum erfüllte, teilte wohl jeder der Anwesenden ihre Verblüffung. „Sie war doch immer so ein armseliges Geschöpf“, meinte jemand. „Ja, unordentlich, reizlos und hoffnungslos linkisch“, pflichtete eine andere Dame bei. „Wer hätte jemals gedacht, dass sie sich derartig verändern würde?“
Jeder, der sich die Mühe gemacht hätte, sich Abigail einmal genauer anzusehen, beantwortete Jamie die Frage im Stillen. Diese Mühe indes hatte sich natürlich niemand gemacht.
Nicht einmal der Mann, den sie zu ehelichen plante.
Zusammen mit allen anderen Gästen in dem großen Saal beobachtete Jamie, wie das junge Paar die Treppe herunterstieg. Abigails große, weit auseinander liegende Augen glänzten vor Aufregung, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von erstaunlicher Zuversicht und Triumph. Sie hatte einen doppelten Sieg errungen: Der Mann ihrer Träume gehörte jetzt ihr, doch was möglicherweise noch wichtiger war - sie hatte das erreicht, was ihr ein Leben lang Vorbehalten geblieben war und wonach sie sich mehr gesehnt hatte als nach allem anderen - die Anerkennung ihres Vaters.
Jamie begriff nicht, weshalb das für sie so viel zählte. Weshalb ließ sie ihren Wert von einem anderen Menschen bestimmen?
Neben ihm standen Caroline und Mrs. Whitney, die Gattin des Marineministers. Die beiden Damen fragten sich laut, welcher Zauber wohl die unscheinbare Tochter des Senators in ein hinreißendes
Geschöpf verwandelt hatte, das für einen derartig hoch stehenden Mann wie den Sohn des Vizepräsidenten angemessen war.
„Ich glaube, sie trägt eine von Madame Broussards Schöpfungen“, meinte Caroline und reckte den Hals, um noch besser sehen zu können.
„Madame hat sich selbst übertroffen“, gab ihr Mrs. Whitney Recht. „Das ist das raffinierteste Gewand, das ich seit Ewigkeiten gesehen habe.“
Jamie fand das Gewand ebenfalls hübsch; mit der langen Linie und den schillernden Farbtönungen schenkte es Abigail die Illusion königlicher Größe.
„Ja, außerordentlich geschickt“, pflichtete Caroline bei. „Das Gewand ist perfekt geeignet für die Eröffnung des National-Aquariums. Der Seidenstoff schimmert ja wie das Meer, nicht wahr?“
Jamie verstand nicht, wie die beiden Damen so viel in ein Gewand hineininterpretieren konnten, doch das war wohl eine der weiblichen Sichtweisen, die ihm immer unbegreiflich sein würden.
„Ja, und mit diesem Brillant-Halsschmuck ist es vollkommen“, schloss Mrs. Whitney.
Tatsächlich, Abigail trug es - sein Abschiedsgeschenk für sie!
Caroline strich verstohlen an seinem Arm hinunter. „So, jetzt haben wir alle ausgiebigst die zu ihrem Vorteil verwandelte Miss Cabot bewundert.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, erinnerte ihn an seinen geradezu empörenden Vorschlag und fügte noch eine eigene Idee hinzu. „Wollen wir? Schnell, solange uns niemand beobachtet!“
Während sie noch sprach, sah Jamie die Katastrophe schon nahen.
Umgeben von Würdenträgern, hatten es Butler und Abigail noch immer nicht die ganze Treppe hinuntergeschafft. Am Fuße der Stufen wandte sich der Leutnant von seiner Verlobten ab, um einen dunkelhäutigen, mit einem Burnus bekleideten Fremden zu begrüßen. Wahrscheinlich ganz unabsichtlich zog er an Abigails Arm, und mehr war nicht nötig, um sie auf der breiten Marmortreppe aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Jamie ließ Caroline stehen, die sich leise beklagte, und seinem Instinkt folgend sprang er zur Treppe und erreichte Abigail gerade rechtzeitig, um ihren Sturz abzuwenden. Er stellte sich auf die Stufe unter ihr und reckte ihr seine Schulter entgegen, damit sie sich daran festhalten konnte. In dem Gedränge fiel seine Rettungsaktion niemandem außer Abigail auf.
Erleichterung ersetzte den Schrecken, der sich eben noch in ihren großen wunderschönen Augen gespiegelt hatte. „Da hätte ich mich wohl beinahe unmöglich gemacht - wieder einmal.“
„Was gibt’s denn?“ Leutnant Butler drehte sich um. „Oh, hallo, Calhoun.“
„Passen Sie auf Miss Cabot auf“, warnte Jamie flüsternd. „Falls Sie sie fallen lassen, werde ich ..."
„Ach du lieber Himmel, es ist doch nichts passiert“, unterbrach Abigail und bedachte Butler mit einem liebevollen Blick. Wie sehr hatte sich doch die Abigail verändert, die Jamie kennen gelernt hatte! Damals war sie linkisch und schlecht gekleidet gewesen und hatte sich vor ihrem eigenen Schatten gefürchtet!
„Wenn Sie nicht noch länger den Helden spielen wollen, würde ich gern eine Kleinigkeit essen.“ Caroline hatte sich zu Jamie durchgedrängt, hängte sich nun bei ihm ein und zog ihn zu den langen, von Kerzen beleuchteten Tischen, die sich unter dem Festmahl bogen.
Sybren van Zandt, der gefeierte Küchenmeister aus den Niederlanden und gegenwärtig der letzte Schrei unter den Gastgeberinnen von Washington, hatte anlässlich dieser Gala ein Fantasiemahl kreiert. Die Tischdecken waren so entworfen, dass sie einer Unterwasserszene glichen; es gab verwitterte Netze und bunte Arrangements von Korallen, Muscheln und eine versunkene Truhe mit einem daraus hervorquellenden Schatz aus Marzipan-Dublonen, ferner eine große Auswahl von Meeresfrüchten und so viel Kaviar, dass man damit die gesamte russische Armee hätte beköstigen können.
Von einem vorbeikommenden Kellner schnappte sich Jamie zwei Glas Champagner und bot eines davon Caroline an, doch diese war zu sehr damit beschäftigt, die Speisen zu inspizieren, und kurz darauf entschloss sich ihr seniler Gatte, sie mit Beschlag zu belegen. Jamie trank rasch ein Glas Champagner leer, stellte es aus der Hand und nahm das zweite in Angriff.
Er entfernte sich ein wenig von der Menge und versuchte sich zu erklären, weshalb er sich so unbehaglich fühlte. Dies hier war doch der Höhepunkt seines Projekts. Er hatte Senator Cabots Gunst gewinnen und sich dessen Stimme sichern wollen; beides war ihm gelungen. Nun sollte er sich eigentlich über das Erreichte freuen, doch stattdessen ärgerte er sich. Möglicherweise kam er sich auch betrogen vor, nur wusste er nicht, weshalb.
Immer wieder schaute er zu Abigail hinüber, die erhitzt und unruhig wirkte, was ihr indes ungemein gut stand. Sie hing an Boyd Butlers Arm und bewegte sich neben ihm wie ein Blatt, das in einer starken Strömung gefangen war. Der Flegel ignoriert sie, stellte Jamie fest, während die gesellschaftliche Elite von Washington D.C. sie beide in ihrer Mitte aufnahm. Abigail hätte ebenso gut eine Medaille sein können, die an Butlers Brust geheftet war.
Falls seine Missachtung sie störte, so zeigte sie es nicht. Sie blickte nur immer wieder zu ihrem Vater, als wollte sie sich vergewissern, dass dessen Wertschätzung für sie noch nicht ins Wanken geraten war. Der Senator jedoch befand sich in einem freundlichen Gespräch mit dem Vizepräsidenten; er schien also nichts an seiner Tochter auszusetzen haben.
Jamie hielt Franklin Cabot für einen vielschichtigen, rätselhaften Menschen. Die Verbindung zwischen Boyd Butler und Abigail war für den Senator ein wahr gewordener Traum. Aus lauter Dankbarkeit hatte er Jamie seine Unterstützung im Kongress gewährt und den Vizepräsidenten überzeugt, die kleinen Farmer vor der Ausweitung des Schienennetzes zu bewahren.
Wie lange das allerdings Vorhalten würde, vermochte Jamie nicht abzuschätzen. Dass er selbst indes noch immer ein Günstling war, merkte er daran, dass seine Beziehung zu den Cabots ihm die Einladung zu dieser exklusiven Veranstaltung verschafft hatte.
Als spürte sie Jamies Aufmerksamkeit, schaute Abigail so lange im Saal umher, bis sich ihre Blicke trafen. Jamie lächelte und zwinkerte ihr zu. Im gleichen Augenblick spürte er das schnelle und übermächtige Erwachen seiner Lust. Unwillkürlich wurde er an den Zwischenfall neulich in seinem Schlafzimmer erinnert. Da hätte er sie beinahe verführt... und sie hätte sich ihm fast hingegeben.
Jetzt tat sie so, als hätte sie das Zwinkern nicht gesehen, doch etwas in ihrem Gesicht, irgendein Anflug von Sehnen und Verwirrung, zeigte ihm, dass sie sich ebenfalls an den Kuss erinnerte.
Butler hatte begonnen, an den Tischen entlangzugehen und von den Appetithäppchen und dem Süßgebäck zu kosten. Gelegentlich flüsterte er Abigail etwas zu, doch er schien mehr an den Speisen interessiert zu sein - geräucherter Lachs und eingelegter Hering, gebackene Krabben sowie große Terrinen mit diversen Suppen und Biskuit.
Jamie stellte sich an die gegenüberliegende Tischseite und bewegte sich parallel zu Abigail daran entlang.
„Was machen Sie denn hier?“ erkundigte sie sich leise.
„Ich passe auf Sie auf.“
„Ich benötige keinen Wächter.“ Als sie merkte, dass das Gespräch unerwünschte Aufmerksamkeit erregte, schlängelte sie sich durch die Menge und verließ ihren Platz am Speisetisch.
Jamie folgte ihr zu einem runden, weiß gedeckten Extratisch.
„Ich hätte geschworen, vor ein paar Momenten auf der Treppe sah das ganz anders aus.“
„Das war nur ein kleines Missgeschick.“
„Was, wenn ich nicht zur Stelle gewesen wäre, um Sie aufzufangen?“
„Dann wäre ich eben in Schimpf und Schande versunken. Das wäre natürlich unschön, wenn auch nicht das erste Mal gewesen.“
„Ich weiß.“ Er musste an die tollpatschige Kleine bei der Wilkes-Hochzeit denken, und irgendwie vermisste er sie. Ihm fehlte ihr lautes unverschämtes Lachen, ihre ungekünstelte Begeisterung für Dinge, von denen eine ordentliche Lady nichts wusste. Ihm fehlte ihr bissiger Humor, ihre unersättliche Wissbegier und ihr Sinn fürs Absurde. Ihm fehlte - was er natürlich nicht einmal unter Folter zugeben würde - der Tanz mit ihr auf dem Dach um zwei Uhr in der Nacht. Und besonders fehlte es ihm, sie das Küssen zu lehren.
Diese Abigail existierte jetzt nicht mehr; sie war verschwunden wie ein Schatten, den die Sonne verschluckt hatte. An ihrer statt befand sich nun ein glitzerndes Geschöpf, das eine Schatztruhe voller Selbstsicherheit gefunden hatte, oberflächliche Konversation mit Staatsoberhäuptern und Eisenbahnbaronen betrieb und mit Männern flirtete, die der „alten“ Abigail nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten als einem geschnitzten Geländerpfosten.
Und obgleich sie gelegentlich einen prüfenden Blick auf ihren Vater warf, wurde sie jedes Mal kühner und zuversichtlicher, wenn der Senator anerkennend nickte.
„Übrigens erwähnte Rowan, dass der Jupiter heute Nacht in das Tierkreiszeichen Stier eintritt. Doch das werden Sie ja wissen.“
„Gewiss weiß ich das. Der Professor darf jederzeit mein Teleskop benutzen.“
„Sie werden das Ereignis verpassen.“
Ihr Blick ging erst zu ihrem Vater, dann zu ihrem Verlobten, der noch immer dabei war, Delikatessen vom Büfett auf seinen Teller zu häufen. „Das lässt sich nun einmal nicht ändern.“
„Verstehe. Ein seltenes planetarisches Ereignis darf schließlich nicht einer gesellschaftlichen Verpflichtung im Wege sein.“
„Weshalb sind Sie so biestig? Wollten Sie das nicht so für mich?“
„Ist es denn das, was Sie wollten?“
„Selbstverständlich.“
„Sind Sie nicht einmal ein winziges bisschen neugierig auf das, was Sie im Observatorium versäumen?“
„Falls ich mir das ansehen wollte, würde ich dieses hier versäumen.“ Mit einer ausladenden Armbewegung deutete sie auf die festlich geschmückte Halle. „Ich habe Ihnen übrigens noch nie richtig gedankt, Jamie.“
„Wofür?“
„Das wissen Sie doch - dafür, dass Sie mein Leben verändert haben.“
Er lachte. „Das haben Sie doch ganz allein getan.“
„Ich allein hätte überhaupt nicht gewusst, wie man sich in der Gesellschaft verhalten muss.“
Er schüttelte den Kopf. „Wie können Sie die ganze quadratische Gleichung im Kopf haben und trotzdem nicht wissen, wie man sich mit der Gattin des Kriegsministers über das Wetter unterhält?“
„Ich gestehe, das ist mir selbst ein Rätsel. Doch Ehre, wem Ehre gebührt - Sie sind mein Pygmalion.“
Pyg... Pig ... Schwein? Es war zwar nicht das erste Mal, dass eine Frau ihn „Schwein“ nannte, doch von Abigail hatte er das nicht erwartet.
Sie lachte über seinen Gesichtsausdruck. „Offensichtlich sind Sie nicht vertraut mit der griechischen Mythologie. Bei Pygmalion handelt es sich um einen von den Frauen desillusionierten Bildhauer. Weil er die ideale Frau nirgends im wirklichen Leben zu finden vermochte, schnitzte er sie sich aus Elfenbein. Der Rest der Geschichte passt allerdings weniger auf uns.“
„Wieso nicht?“ Der Gedanke, sich eine Frau nach eigenen Vorstellungen zu schnitzen, gefiel Jamie.
„Nun, Pygmalion war von seiner Schöpfung besessen. Er verliebte sich in sie, schmückte die Skulptur mit Juwelen und mit Stoffen aus Tyros, und schließlich bat er die Göttin Aphrodite, die Statue zum Leben zu erwecken. Sein Kuss machte sie am Ende lebendig, er heiratete sie und - nun, über den Ausgang dieses Mythos gibt es mehrere Überlieferungen. Nach einer Version bekamen die beiden einen prächtigen Sohn und lebten glücklich bis an ihr seliges Ende. In einer anderen Version der Geschichte jedoch gab es Probleme.“ „Was für Probleme?“
„Nachdem sie einmal lebendig geworden war, vermochte Pygmalion sie nicht mehr zu kontrollieren, und zum Schluss brachte sie ihn eigenhändig um.“
„Ist es das, was mir ebenfalls bevorsteht? Von Ihrer Hand umgebracht zu werden?“ Er fing Abigails Hand ein.
„Zweifellos.“
„Wenigstens geschieht es dann aus patriotischen Gründen.“ „Ungemein komisch!“
Mit einem vollen Teller in jeder Hand gesellte sich Boyd Butler zu ihnen an den runden Tisch. „Da sind Sie ja, meine Liebe. Ich schwöre, über Sie habe ich mehr Komplimente gehört als über die Piranha-Ausstellung.“
Abigail schenkte ihm einen entzückenden Blick. „Das ist ungemein erleichternd. Es hätte mir auch nicht gefallen, von einem Fleisch fressenden Fisch ausgestochen zu werden.“
Ein Kellner erschien und trug ein Tablett mit zerstoßenem Eis, auf dem eine ganze Flotte roher Austern in halben Schalen angeordnet war.
„Sehen Sie nur“, bemerkte Jamie. „Austern - Ihre Lieblingsspeise!“
Abigail warf einen scheuen Seitenblick auf Butler, nahm eine Auster auf und reichte sie ihrem Verlobten. Da sie dabei errötete, wusste Jamie genau, dass sie daran dachte, was er ihr über die als Aphrodisiakum geltenden Austern gesagt hatte.
Butler schlürfte den Leckerbissen herunter, lächelte sie dabei an, und sogar Jamie spürte, wie sie vor Glück glühte. Ringsherum ein triumphaler Augenblick, dachte er und griff sich noch ein Glas Champagner. Er selbst hatte eine Kleinigkeit übersehen, als er diese „Elfenbeinfrau“ erschuf: Er musste sie einem anderen Mann überlassen.
Und das tat er auch, und zwar ganz freiwillig. Er begehrte sie ja nicht, hatte sie nie begehrt, jedenfalls nicht auf romantische Weise. Herzensverwicklungen hatte er längst überwunden. Dafür war er viel zu weltmännisch und kultiviert.
Trotzdem ärgerte es ihn, dass Butler sich wie ihr Eigentümer aufspielte und dass sie ihn mit verklärtem Blick anschaute.
„Jetzt sind Sie an der Reihe“, erklärte der Leutnant und suchte eine dicke, kalte Auster aus.
Abigail blickte ihn entsetzt an.
„Na los doch, meine Liebe“, drängte Butler amüsiert.
Es war seltsam: Sie gehorchte ihrem Verlobten ebenso ergeben wie ihrem Vater. Jamie merkte, dass sie an ihre erste Erfahrung mit Austern dachte, während sie die Delikatesse aus Butlers Hand entgegennahm und sie dann hinunterschluckte. Nur Jamie sah, wie sich die Panik in ihren Augen spiegelte, während sie sich ihren Ekel nicht anmerken ließ.
„Gut gemacht“, lobte der Leutnant. „Wirklich sehr gut gemacht.“
Mit seiner gönnerhaften Art glich er genau ihrem Vater. Sie tauschte also den einen egozentrischen und herablassenden Mann gegen den anderen ein. Sah sie das denn nicht? Und störte es sie denn gar nicht? Jamie unterbrach seine Überlegungen, entschuldigte sich mit formeller Höflichkeit und machte sich auf die Suche nach weiterem Champagner.
Die Einweihungszeremonie begann mit längeren Dankesreden, die sich an die Stifter richteten, deren Großzügigkeit zu der Einrichtung des National-Aquariums beigetragen hatte; ferner wurde der Architekten, Designer sowie der Wissenschaftler gedacht, die das Ganze erschaffen hatten.
Vizepräsident Butler wurde an das Rednerpult gerufen, um das Hauptstück des Aquariums zu enthüllen, das unter einem Samtvorhang verborgen war. Es handelte sich um den größten Glastank, der jemals für Seegeschöpfe in Gefangenschaft gebaut worden war. Dutzende von Pflanzen- und Tierarten waren darin zu bewundern.
Das Piano intonierte einen Salut, der Vizepräsident hielt eine kurze Rede und überraschte dann alle Anwesenden damit, dass er die Ehre des Band-Durchschneidens an seinen Sohn delegierte, als Anerkennung seiner vor kurzem stattgefundenen Verlobung.
Boyd Butler III. und dessen zukünftige Braut.
Ich bin meiner Pflichten enthoben, dachte Jamie, trat zurück, stützte sich mit der Schulter an eine Säule und beobachtete von fern das Geschehen.
Die beiden Verlobten sahen so adrett aus wie das wächserne Brautpaar auf der obersten Schicht eines Hochzeitskuchens. Abigail warf immer wieder Blicke zu ihrem Vater hinüber, der Stolz und Befriedigung ausstrahlte. Dann trat sie hinter Leutnant Butler, während dieser in der schwungvollen Redeweise eines geübten Sprechers die feierliche Widmung des großen Nationalschatzes verlas.
Jamie betrachtete unterdessen die Menge der Gäste, welche von ausländischen Würdenträgern über Stahlmillionäre bis hin zu Baumwollpflanzern alles mit einschloss. Wenn Abigail erst einmal mit Butler verheiratet war, würde dies hier ihre Welt sein; dies würden ihre Freunde und Bekannten sein.
Jamie missfiel es, wie man die junge Frau beobachtete - wie hungrige Gäste, die auf das Abendessen warteten. Nun, möglicherweise übertrieb er auch, weil ihm die ganze Angelegenheit zuwider war; vielleicht würden diese Menschen ja auch Abbys empfindsame, brillante, amüsante und ernsthafte Natur zu schätzen wissen.
Vielleicht fielen ja auch die Sterne vom Himmel.
Diesen Leuten war es doch völlig einerlei, dass Abigail Cabot ihre Mutter vermisste, dass sie vom Duft der Blumen einen Niesanfall bekam, dass sie nach einem Kometen Ausschau hielt, dass Kinder sie zum Lachen und traurige Lieder sie zum Weinen brachten.
Jamie versuchte sich einzureden, dass es überhaupt nicht zählte, ob es die Leute kümmerte oder nicht. Nur tat es das eben doch. Irgendwann im Laufe der ganzen Geschichte war mit ihm etwas geschehen - er war unbewusst in das klebrige Spinnennetz der Gefühlsregungen geraten, und je mehr er sich bemühte, sich daraus wieder zu befreien, desto mehr verfing er sich darin.
Der junge Butler kam zum Ende seiner Ansprache, zerschnitt das Band, zog den Vorhang zur Seite und gab das beeindruckendste Ausstellungsstück des National-Aquariums den Blicken der Besucher frei: eine gläserne Lagune, in der sich seltene Raubhaie aus der Südsee tummelten. Ein Beamter des Smithsonian-Instituts gab eine kurze Erläuterung dazu ab, und nachdem er seine Ausführungen abgeschlossen hatte, warf man lebendiges Futter in den großen Glastank.
Ein gedämpfter Ausruf des Erstaunens erhob sich über der Menge, und sogar Jamie schaute grimmig fasziniert zu. Wild und aggressiv stürzten sich die Haie auf ihre Beute, schlugen die Zähne in die niederen Geschöpfe und ließen von ihnen nur noch die blanken Gräten oder Knochen übrig. Die weiblichen Gäste wichen bei diesem Anblick zurück, schauten allerdings weiterhin zu.
Abigail mit ihrer natürlichen Wissbegier hatte furchtlos dicht bei dem gläsernen Tank gestanden und ihre Hand an das Glas gedrückt. Als sie indes die brutale Fütterung sah, wich sie ebenfalls zurück. Dies hier war eindeutig nicht ihre Art von Wissenschaft, denn darin vermisste sie die mathematische Ordnung der herrlichen Körper. Stattdessen sah sie nur eine chaotische Naturgewalt, welche für sie wahrscheinlich keinen Sinn ergab.
Wenn man die Gäste zwischen der Besichtigung eines Meteoritenschauers und einer erschreckenden Fütterung wählen ließe, würden sich die meisten Leute wohl für Letzteres entscheiden. Seit Anbeginn aller Zeiten hatten sich die Menschen Gladiatoren- sowie Hahnenkämpfe und Bärenhatzen angeschaut. In London gaben Aristokraten den Wärtern des Bethlehem-Hospitals Geld, damit diese die Geisteskranken quälten. Blutrausch war ein sehr menschlicher Charakterzug. Jamie hatte die Auswirkungen unzählige Male selbst mit angesehen, und das war keineswegs hübsch, doch höchst real gewesen.
Butler lachte wie ein Schuljunge und beugte sich hinunter, um einen blutigen Fischkopf besser betrachten zu können.
Glücklicherweise war die Demonstration bald beendet, doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Das lebhafte Interesse der Gäste richtete sich nicht mehr auf den Glastank, sondern auf Boyd Butler und Abigail. Plötzlich drängten sich alle heran, weil sie unbedingt die Bekanntschaft mit Washingtons neuester „Zukünftiger“ machen wollten. Für einige von ihnen war das eine reine Frage der Höflichkeit, doch die meisten Gäste wollten sich bei den Vätern des jungen Paars einschmeicheln.
Während sich die Menschen herandrängten, alle gleichzeitig redeten und dem glücklichen Paar per Handschlag gratulieren wollten, verschwand Abigail. Weil sie so klein gewachsen war, fiel es ihr nicht weiter schwer, mitten in der lärmenden Menge unterzutauchen.
Jamie, der das Geschehen vom Rande der Gruppe aus beobachtete, ahnte, dass der ganze Aufruhr nicht gut für die gesellschaftlich hilflose Abigail war, doch wie konnte er sie jetzt noch beschützen, nachdem er sie an Butler übergeben hatte?
Er wandte sich gerade rechtzeitig ab, um Helena am Arm des Senators Troy Barnes aus New York eintreffen zu sehen. Der Mann bewegte sich so steif und gerade aufgerichtet wie ein Paradesoldat. Er war beinahe unanständig reich und hoffnungslos in Helena verschossen, was diese offenbar nicht interessierte, denn sie dachte ausschließlich an Michael Rowan. Nachdem Abigail sie ihrer Pflicht enthoben hatte, angemessen heiraten zu müssen, träumte Helena wahrscheinlich von einer wirklichen Liebesheirat zwischen sich und Rowan.
Wie Abigail war auch Helena noch immer so naiv zu glauben, dass es ohne Liebe keine Erfüllung gäbe, und wie Jamie wusste auch der Professor, dass einige Dinge einfach unmöglich waren. Ein mittelloser Gelehrter aus Georgetown, der nicht einmal einen nennenswerten Stammbaum vorzuweisen hatte, war kein passender Ehepartner für die Tochter eines Franklin Cabot; falls man ihn mit einem Forschungsauftrag und einem großzügigen Gehalt köderte, würde Rowan Georgetown bald den Rücken kehren und an einer Universität in Barnes’ Heimatdistrikt lehren.
„Wie fanden Sie das?“ erkundigte sich Helena. Sie hatte sich von Barnes gelöst und kam nun mit zwei Champagnergläsern auf Jamie zu. „Hat Ihnen diese schwachsinnige Fütterung der Raubtiere gefallen?“
Jamie stürzte den Champagner mit einem Zug hinunter. „Welche meinen Sie?“
Helena nippte an ihrem Glas. „Schaurig, nicht? Ich fürchtete beinahe, dass von meiner Schwester auch nur ein Skelett übrig bleibt, wenn sich die Meute verzogen hat.“
„Ihr wird nichts geschehen. Sie ist erheblich stärker, als sie aussieht.“
„Versuchen Sie mich oder sich selbst davon zu überzeugen, Mr. Calhoun? Ich glaube, Sie fühlen sich schuldig.“
„Wieso sollte ich?“
„Weil Sie ein Gewissen besitzen, sosehr Sie es auch verbergen wollen. Ich kann Ihnen versichern, falls man Abigail auch nur im Geringsten verletzt, dürfte es Ihnen sehr Leid tun, dass Sie die Cabot-Frauen jemals gesehen haben.“
Er beäugte sie, als suchte er auch bei ihr die Haifischzähne. „Waren Sie nicht diejenige, die Leutnant Butler einredete, er habe sich in Abigail verliebt?“
„Richtig, doch die Romanze geht auf Ihr Konto, und falls jetzt irgendetwas danebengeht, werde ich Sie dafür verantwortlich machen.“
„Ist das der Dank dafür, dass ich Ihrer Schwester half, sich den Mann ihrer Träume einzufangen?“
„Sie scheinen sich ja sehr sicher zu sein, dass Leutnant Butler der Mann ihrer Träume ist.“
„Das ist er ja auch. Sie hat es mir selbst gesagt.“
„Meine Schwester ist eine sehr kluge Frau. Manchmal ist sie allerdings blind für Dinge, die ganz offensichtlich sind.“
„Was soll das heißen?“
„Anfangs war ich mir ebenfalls sicher, dass sie den Leutnant liebt, jetzt jedoch habe ich da so meine Zweifel. Falls sie leidet, werden Sie dafür bezahlen!“
Jamie lachte leise. „Da müssen Sie sich hinten anstellen, Helena. Nachdem ich mich im Kongress gegen die Eisenbahngesellschaften stellte, scheinen sich meine Gegner verdoppelt zu haben.“
„Selbstverständlich haben sie das. Die Eisenbahngesellschaften halten die Unterstützung meines Vaters für eine verlorene Sache. Niemand rechnete damit, dass Sie sein Chefberater werden würden.“
„Jedenfalls für eine Weile. Solange diese Verlobung bestehen bleibt.“ Mit dem Kopf deutete er zu Abigail hinüber, die jetzt mit ihrem Vater sprach. „Da sehen Sie, wie sie lächelt. Jetzt hat sie alles, was ihr Herz begehrt. Darüber sollten wir uns doch freuen.“
„Was wir indes nicht tun. Tatsache ist doch, dass wir beide uns Sorgen um Abigail machen. Wieso eigentlich?“
„Weil wir zu viel Champagner getrunken haben. Was ist übrigens mit Ihrem Vater?“
„Wie meinen Sie das?“
„Neben ihm wirkt König Lear wie der gute alte Weihnachtsmann.“
„Wie können Sie so etwas sagen?“
„Er frisst Ihre Schwester ja lebendig auf, und Sie ebenfalls, wenn auch weniger auffällig. Weshalb lassen Sie das zu?“
„Weil er eben unser Vater ist.“ Helenas Stimme versagte. Sie verzog das Gesicht, und Jamie erkannte darin denselben sehnsüchtigen Ausdruck, den er auch schon bei Abigail bemerkt hatte. „Seine Wertschätzung bedeutet meiner Schwester alles. Für sie ist das Sonne, Mond und Sterne zusammengenommen.“
„Weshalb das?“
„Fragen Sie sie doch selbst.“
Jamie hatte nicht die Absicht, dies zu tun. Das Thema Abigail und die anderen Cabots war für ihn abgehakt. Seine Arbeit war getan. Jetzt wollte er nur noch die Kongress-Sitzungen hinter sich bringen, bis das Plenum über die Feiertage Ferien machte, und danach wollte er sich eine neue Unterkunft fern von der Dumbarton Street suchen.
„Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen - ich möchte gern draußen eine Zigarre rauchen.“ Jamie drehte sich um und wandte sich zum Ausgang.
„Da sind Sie ja, Mr. Calhoun!“ Caroline Fortenay Riordan fing ihn ab und blockierte seinen Weg. „Ich möchte Sie mit einigen ganz besonderen Gästen bekannt machen. Sie haben einen weiten Weg hinter sich und möchten unsere Hauptstadt kennen lernen. Dafür reisten sie tatsächlich um die halbe Welt!“
Jamie setzte ein freundliches Lächeln auf, trat näher und erstarrte. Er blickte in goldene Mandelaugen, die ihm so vertraut waren wie ein ständig wiederkehrender Albtraum; er sah glänzende Lippen, die sich bestürzt öffneten, und Mitternachtshaar, das blau schimmerte. Er wusste, dass dieses Haar körperlang war, doch jetzt trug sie es zu einem traditionell geflochtenen Zopf aufgesteckt. Ihre dunkle, olivefarbene Haut strömte Jasminduft aus. Oh, wie er sich an sie erinnerte! Er entsann sich ihrer mit allzu scharfer Deutlichkeit.
Neben ihr stand der Mann, von dem er nicht gedacht hatte, dass er ihn jemals wieder sehen würde; hoch gewachsen und gealtert, besaß er noch immer eine düstere Macht, die unter seinem juwelenbesetzten Turban aufzuleuchten schien.
„Fürst Abdul Ali Pascha und Prinzessin Layla von Khayrat“, stellte Caroline vor.
Die Prinzessin starrte ihn mit dunkelbewimperten Augen an, und alle Farbe verließ ihr schönes Gesicht. „Jamie Calhoun! Gelobt sei Allah - ich dachte, du seist tot!“