Täglich trafen immer glühender abgefasste Briefe aus Annapolis ein. Abigail vermochte kaum noch zu essen oder zu schlafen, und oft lief sie noch bis in den frühen Morgen in ihrem Zimmer hin und her. Der Verzweiflung nahe, suchte sie Helena in deren Raum auf, wo sie ihre Schwester am Frisiertisch sitzend vorfand.
„Abigail, ich habe dich gar nicht hereinkommen hören.“ Helena schloss eine Schachtel auf dem Tisch und schob sie beiseite. „Ist alles in Ordnung?“
Abigail hielt ihr Leutnant Butlers kostbare Briefe hin. Genau wie ihre Zeilen an ihn sprachen auch seine Briefe von Hoffnungen und Träumen, von Geständnissen der Zuneigung und von Versprechen, die Abigails Herz schneller schlagen ließen. So konnte es jedoch nicht weitergehen, obwohl ihr diese täglichen Briefe alles bedeuteten, und sie vermutete, ihm ging es umgekehrt genauso. „Wir müssen damit aufhören. Das geht langsam zu weit.“
Helena warf einen Blick auf die Papiere. „Oh, die Briefe des Leutnants. Langweilen sie dich sehr?“
„Ich habe dir doch jedes einzelne Schreiben vorgelesen. Fandest du sie langweilig?“
„Nein, sie sind ganz reizend.“
„Was wir hier machen, ist schlicht und einfach falsch“, erklärte Abigail. „Er beantwortet immer meine Briefe, denkt jedoch, sie kämen von dir.“
Helena nahm eine silberbeschlagene Bürste auf und strich sich damit durch das kupferfarbene Haar. „Du warst so freundlich, das zu übernehmen, und es funktioniert ja auch so gut. Papa ist ganz begeistert, wie gut wir in dieser Angelegenheit vorankommen.“ Sie suchte im Spiegel kurz den Blick der Schwester.
Abigail hielt sich am Bettpfosten fest; sie musste sich stützen.
„Angenommen, Leutnant Butler würde ... Angenommen, er verlöre das Interesse an dir.“
„Kein Mann hat je das Interesse an mir verloren“, stellte Helena ohne jede Eitelkeit fest.
„Falls aber doch, wärst du dann böse?“
Helena lachte auf. „Ich würde ihn wegen seiner höheren Ziele bewundern!“
„Sprich doch nicht so von dir“, bat Abigail beunruhigt.
Helena durchquerte den Raum und nahm ihre Schwester in die Arme. „Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Du musst nur seine Briefe beantworten, Liebling. Schreibe dem Mann, was du willst. Du kannst so gut mit Worten umgehen. Denke nur immer daran, was es für Papa bedeutet!“
Fast gegen ihren eigenen Willen schrieb Abigail weiterhin regelmäßig an Leutnant Butler und wartete auf seine Antworten wie ein Kind auf die Weihnachtsgeschenke. Sie war nicht besser als Jamie Calhoun - nein, sogar schlimmer, denn sie beteiligte sich an diesem Betrug ja nicht aus politischen Gründen, sondern des persönlichen Vergnügens wegen.
Jedes Mal jedoch, wenn sie beschloss, Schluss zu machen und Leutnant Butler mitzuteilen, dass sie diese Korrespondenz nicht mehr fortzusetzen wünschte, las sie sich seine Briefe noch einmal durch:
Etwas Kostbares, ja ich möchte sagen, etwas Bleibendes geschieht zwischen uns beiden, meine allerliebste Miss Cabot... Meine Bewunderung für Sie leuchtet ewig wie der Mond und ist so unaufhaltbar wie die Gezeiten...
Ach, wie könnte sie solch überzeugenden Worten widerstehen? Aber durfte sie einfach weitermachen?
Gequält von ihrem schlechten Gewissen, stieg sie eines Nachts aufs Dach, weil sie sich einen Plan ausdenken wollte, wie sie sich aus diesem Dilemma befreien konnte.
Es überraschte sie nicht, dort James Calhoun auf sie warten zu sehen. Er saß auf einem der Holzstühle, die sie hingestellt hatte, um die Sterne zu beobachten. Mr. Calhoun hatte sich angewöhnt, sie nachts auf dem Dach zu besuchen und mit ihr zu reden, während sie den Himmel studierte und sich Notizen machte.
„Da kommt ja meine Sternguckerin“, grüßte er aufgeräumt. In der einen Hand hielt er ein Glas mit Brandy und in der anderen einen Bogen Papier; eine Kerze flackerte im Windzug. „Ich lese gerade Sir Galahads letzten Brief.“
„Geben Sie her!“ Sie entriss ihm die Seite. „Erlauben Sie mir denn überhaupt kein Privatleben mehr?“
„Wir waren uns doch einig, dass wir die Briefe miteinander teilen“, erinnerte er sie. „Das hilft mir, meine Strategie zu planen.“ „Das ist nicht länger nötig. Ich schreibe nicht mehr an Leutnant Butler.“ Damit steckte Abigail den Brief ein.
„Sie haben den Fisch doch schon am Haken und müssen ihn nur noch hereinholen. Weshalb wollen Sie ihn denn jetzt wieder von der Angel lassen?“
„Weil er glaubt, ich sei meine Schwester.“
„Unsinn. Er glaubt, Sie seien sein Schicksal. Sie müssen dranbleiben!“ Er deutete auf das Teleskop, das aus der Kuppel herausragte. „Wie lange haben Sie schon den Himmel nach einem Kometen abgesucht?“
„Seit mehr als zwei Jahren.“
„Wollen Sie die Suche jetzt aufgeben?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Ihre Korrespondenz mit Butler dürfen Sie ebenso wenig aufgeben. Er hat sich Ihnen doch schon so gut wie erklärt.“
„Es ist nicht ehrenhaft. Ich führe ihn in die Irre.“
„Sie haben Angst, Abby!“
„Er wird feststellen, dass mir etwas fehlt.“
„Was fehlt Ihnen?“
„Die Schönheit meiner Schwester.“
„Damit hätte er Recht. Die Schönheit Ihrer Schwester fehlt Ihnen in der Tat.“
„Ungemein freundlich, mich darauf hinzuweisen!"
„Abby, Sie haben Ihre ganz eigene Anziehungskraft. Wenn Sie versuchen, Ihre Schwester nachzumachen, wäre das nur albern.“
Sie wurde unsicher. Mr. Calhoun hatte sie nicht „schön“ genannt, was auch eine Lüge gewesen wäre. Dennoch hatte er ihr ein Kompliment gemacht, oder nicht? Und weshalb fühlte sie sich dabei im Inneren so merkwürdig? Weshalb stellte sie sich seine Hände auf ihrem Körper, seine Lippen auf ihrem Mund vor?
„Es liegt ja nicht nur daran, wie ich aussehe“, meinte sie. „Es liegt an ... allem. Bei mir stimmt einfach gar nichts.“
Er trank seinen Brandy aus. „Du lieber Himmel, wer hat Ihnen nur beigebracht, sich ständig infrage zu stellen?“
„Eine Frau wie ich findet dazu viele Gelegenheiten, Mr. Calhoun. Erinnern Sie sich noch an den Abend, an dem wir uns begegneten? Ich war sehr tollpatschig, und Sie haben gelesen, was Leutnant Butler in seinem zweiten Brief an Helena schrieb. Wenn sie tanzt, bewegt sie sich leicht wie eine Wolke. Ich dagegen bewege mich wie ein Kohlekarren in einer dunklen Gasse.“
Jamie musste lachen.
„Eben.“ Sie ging zur Tür vor der Dachstiege. „Und dem werde ich jetzt ein Ende machen.“
„Ich lache nicht über Sie. Das heißt, ich lache zwar, doch nicht aus Bösartigkeit. Sehen Sie, Ihre Fertigkeit beim Tanzen ist genau das - eine Fertigkeit, und die kann man üben und verbessern.“ Er stellte sein Glas aus der Hand, und der Kies knirschte unter seinen blanken Reitstiefeln, als er mit wenigen Schritten das Dach überquerte. Er baute sich vor Abigail auf und verbeugte sich formvollendet vor ihr.
„Darf ich bitten?“
„Nein.“
Er stellte sich vor die Tür und versperrte Abigail damit den Fluchtweg. „Als ich Sie zuletzt um einen Tanz bat, wiesen Sie mich ebenfalls ab. Diesmal finde ich mich jedoch nicht mehr damit ab.“ Ohne ihr die Gelegenheit zu einer Entgegnung zu geben, legte er ihr die Hand um die Taille, zog sie zu sich heran und fasste ihre andere Hand. „Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei..."
Ohne dass sie es wollte, zog er sie in die Schritte eines langsamen Walzers. Hier, in seinen Armen und mit den Sternen als einzigen Zeugen, verlor Abigail ihre übliche Befangenheit. Für ein paar Minuten ließ sie sich von ihm herumdrehen und merkte, wie der Rhythmus der Tanzschritte sie durchpulste.
Sie versuchte sich vorzustellen, dass sie mit Leutnant Butler tanzte, doch sie konnte nur an Jamie Calhoun denken. Dessen feste Umarmung ließ keinen Protest zu, und trotz der ungewöhnlichen Situation gefiel ihr das Gefühl der intimen Nähe durchaus. Und Gott möge es ihr vergeben - ihr gefiel es sogar, die Wärme an den intimsten Körperstellen zu spüren.
Bei diesem Gedanken geriet sie prompt ins Stolpern. Sie erwartete, deswegen gescholten zu werden, doch Mr. Calhoun schaute sie nur an.
„Ich weiß, was Ihr Problem ist.“
Ihr stockte der Atem, und sie war sich ganz sicher, dass er ihr den Schreck an den Augen ablas. „Was meinen Sie?“
„Sie verstehen es nicht loszulassen.“
„Was soll ich loslassen?“
„Nun, wie soll ich es beschreiben ... Sie müssen sich selbst loslassen, Ihre Hemmungen vergessen. Wenn Sie sich einfach dem Rhythmus Ihres Partners hingäben, wäre es für Sie viel einfacher.
Sie können mir glauben, ich kenne das. Und jetzt - eins-zwei-drei, eins-zwei-drei...“
Abigail bemühte sich bewusst, sich zu entspannen und seiner Führung zu folgen. Zu ihrer Überraschung tat sie sich tatsächlich ein wenig leichter.
„Hatte ich nicht Recht?“ Er lächelte ihr zu. „Ja!“
Sie versagte sich ein Lächeln. „Mag schon sein. Nur habe ich mich schon immer gefragt, weshalb eine Frau ständig rückwärts tanzen muss.“
„Weil die Männer dazu zu ungeschickt sind. Doch das dürfen Sie eigentlich gar nicht wissen.“
Irgendetwas hatte Helena auf dem Herzen, das sah Abigail ihr sofort an, als ihre Schwester am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam. Helena schien von innen heraus zu leuchten, war jedoch offensichtlich beunruhigt, denn sie trommelte mit den Fingern so lange auf den Tisch, bis der Senator ihr schweigend einen strafenden Blick zuwarf. Nun zappelte sie mit dem Fuß und stieß mit dem Knie gegen die Rufglocke am Tischbein, so dass Dolly herbeieilte.
„Du lieber Gott, Helena, was ist denn los?“ fragte ihr Vater schließlich.
„Ich bin nur so aufgeregt“, antwortete sie. „Es ist schon so lange her, seit ich einmal einen Ferientag auf dem Land habe verbringen dürfen.“
„Wer hat denn etwas von Ferien gesagt?“ wollte der Senator wissen.
„Ach, haben wir dir das nicht erzählt?“ Unter dem Tisch fasste Helena Abigail beim Handgelenk, um sie zu mahnen, den Mund zu halten. „Wir sind an die See eingeladen worden.“
Mr. Calhoun hatte das ganze Unternehmen äußerst geschickt eingefädelt. Da er wusste, dass Helena Professor Rowan überallhin folgen würde, hatte er diesen in seinen Plan eingeweiht, und Helena wusste, wie sie alles erreichen konnte, was sie wollte.
„Die Calhouns haben uns eingeladen. Sie besitzen eine Plantage namens Albion. Eigentlich ist es mehr eine Pferdezuchtfarm. Bitte, sage doch, dass wir hinfahren, Vater. Bitte, bitte!“
Abigail befreite ihr Handgelenk. Sie wusste schon längst, dass sie hier nichts zu sagen hatte.
„Das ist wichtig für deine Stellung im Senat“, fuhr Helena fort. „Die Calhouns sind reich.“
„Das sind wir auch."
„Nächstes Jahr sind Neuwahlen. Eine Spende von den Calhouns würde deine Kampagne sicherlich fördern.“ Sie trank ein Schlückchen Kaffee. „Mr. Calhouns Vater spielt Golf mit dem Oberrichter des Bundesgerichtshofs. Wusstest du das?“
Abigail konnte nicht anders, sie musste Helenas Raffinesse bewundern. Bei häuslichen Dramen oder in politischen Angelegenheiten war sie wie ein geschickter Flusslotse am Ruder, der alle felsigen Untiefen und verborgenen Unterströmungen umschiffte.
Na schön, dachte Abigail. Ein Besuch an der See bei den Calhouns. Inzwischen war sie es ja schon gewohnt, von Jamie Calhoun herumgeschubst zu werden. Vielleicht zu sehr gewohnt...