Jamie ging auf die Kutsche zu und bedeutete dem Fahrer zu warten. In diesem Augenblick trat Butler aus dem Nachbarhaus auf die Straße. Seine makellose Uniform leuchtete im Lampenlicht, und sein Atem gefror an der kalten Luft.
„Stimmt etwas nicht, Mr. Calhoun?“ erkundigte er sich.
„Ich denke, Sie sollten hereinkommen.“ Jamie rechnete es dem Leutnant hoch an, dass dieser keineswegs lange zauderte, sondern ihm ins Haus und die Treppe hinauf ins Wohnzimmer folgte. Rowan war bereits vor Stunden völlig betrunken zu Bett gewankt.
In diesem Haushalt herrscht neuerdings anscheinend die Trunksucht, dachte Jamie. Er selbst suchte ebenfalls viel zu oft Trost im Alkohol, besonders seit der Eröffnungsgala des Aquariums.
Layla - ausgerechnet sie! Die Prinzessin war die letzte Person auf der Welt, die er hier zu sehen erwartet hatte. Und ganz offenkundig war sie noch überraschter gewesen als er, denn schließlich hatte sie ja seiner Hinrichtung vor mehr als zwei Jahren beigewohnt.
In seinen Armen hatte sie sich immer gewünscht, einmal nach Amerika zu gehen, doch wie alles andere auch, das sie ihm erzählte, war das eine Lüge gewesen. Layla und er hatten sich in dem versteckten Geheimhafen von Almulla treffen wollen, doch dort begegnete er nicht der Prinzessin, sondern den Männern der Palastwache, die schwer bewaffnet waren und in mörderischer Absicht gekommen waren.
Frauen waren seiner Meinung nach von Natur aus betrügerische Geschöpfe, doch Jamie hatte die einzige Ausnahme von dieser Regel gefunden, und diese war auch der Grund dafür, weshalb er Boyd Butler jetzt in sein Haus zog. Trotz allem nämlich quälte ihn die Sorge um Abigail.
Was sie wollte, war schlicht und aufrichtig. Und sie wünschte sich so sehr, glücklich zu sein. Erkannte der Leutnant das?
Die beiden Männer traten in das Wohnzimmer, das nur von den flackernden Flammen in einem eisernen Ofen beleuchtet wurde. Rowan hatte behauptet, er habe elektrische Leitungen im Haus verlegen lassen, doch das schien wohl nicht ganz funktioniert zu haben.
„Whiskey?“ Jamie hielt die Flasche hoch.
„Danke, nein. Mr. Calhoun, worum handelt es sich?“ wollte Butler wissen.
„Um Ihre zukünftige Gemahlin.“ Jamie erstickte fast an diesen Worten. Er stellte die Flasche aus der Hand und ging beinahe drohend auf den Leutnant zu. „Ich will wissen, wie ernst Ihre Absichten bezüglich Abigail sind.“
Butler lachte, was eher verwirrt als amüsiert klang. „Ich werde sie selbstverständlich ehelichen.“
„Wie viel Zeit haben Sie schon mit Abigail verbracht? Wie gut kennen Sie sie?“
Butler straffte sich mit seiner wachsenden Verärgerung. „Wofür halten Sie mich denn? Und außerdem - wer sind Sie überhaupt, dass Sie meine Absichten hinsichtlich Abigail infrage stellen?“
„Ich bin ein Freund der Familie.“ Es erschreckte Jamie ein wenig, dass dies fast der Wahrheit entsprach. „Abigail ist eine ganz besondere junge Dame mit einem arglosen Charakter und einem Herzen voller Liebe.“
„Was in ihrem Herzen vor sich geht, weiß ich“, erklärte Butler, und Jamie merkte, dass sich der Leutnant auf die Briefe bezog. „Was genau erwarten Sie eigentlich von mir?“
„Ich bin froh, dass Sie mich das fragen.“ Jamie trat noch näher an ihn heran. „Ich erwarte, dass Sie Abigail so schätzen, als sei sie ein Nationalheiligtum. Oder noch besser, dass Sie sie anbeten wie eine Göttin.“
„Sir, ich bin ein Gentleman. Ich weiß, wie man eine Gattin zu behandeln hat.“
„Aber was wissen Sie von Abigail? Ist Ihnen bekannt, dass sie auf einen Kometen wartet?“
„Auf einen - was?“
„Herrgott, hat sie Ihnen das nicht erzählt?“
„Meine Verlobte hat Wichtigeres zu bedenken.“
Was könnte für sie wichtiger sein als ihr Komet? fragte sich Jamie. Doch das würde Butler nie verstehen. „Sehen Sie, Sie müssen mir schon glauben, dass ich weiß, was sie will. Sie müssen sie ermutigen, ihre wissenschaftlichen Forschungen fortzusetzen.“
Der Leutnant lächelte schwach und so gönnerhaft, dass Jamie ihm dieses Lächeln am liebsten aus dem Gesicht geprügelt hätte. „Sie wird keine andere Beschäftigung benötigen als die, meine Gemahlin zu sein.“
„Haben Sie Abigail das einmal gefragt? Täten Sie es nämlich, würden Sie feststellen, dass sie das Observatorium des Vatikans besuchen und auf Berge steigen möchte, um von dort aus nach Herzenslust die Sterne betrachten zu können.“
„Es geht Sie zwar nichts an, doch meine Pflichten lassen mir keine Zeit für eine Hochzeitsreise.“
„Dann nehmen Sie sich die Zeit, verdammt noch mal!“ Jamie vermochte sich nicht zurückzuhalten. Obschon ihm die Vorstellung zuwider war, Abigail mit einem anderen Mann zusammen zu wissen, konnte er sie doch ebenso wenig der Glückseligkeit berauben, nach der sie sich so sehnte. „Sind Sie dazu bereit, Leutnant? Wenn nämlich nicht, werde ich ...“
„Sir, ich bin im Einzelkampf ausgebildet und geübt. Es dürfte Ihnen also kaum Freude bereiten, sich mit mir anzulegen.“
Jamie erschrak, als ihm bewusst wurde, dass er mit der Faust ausgeholt hatte und tatsächlich zuschlagen wollte, doch bei den Worten des Leutnants fing er laut und bitter an zu lachen. Nach al- lern, was er in Khayrat erlebt hatte, konnte ihn die Drohung eines Marineoffiziers wohl kaum einschüchtern. Davon abgesehen, würde er angesichts seines gegenwärtigen Gemütszustands womöglich noch wirklichen Schaden anrichten. Also senkte er die Faust wieder. „Nein, Leutnant, gewiss nicht.“
Butler stieß langsam den Atem aus, den er offensichtlich lange angehalten hatte. „Sagen Sie mir eines, Mr. Calhoun - weshalb liegt Ihnen so viel an ihr?“
„Weil ..." Jamie fing sich noch rechtzeitig und schüttelte den Kopf. „Die Frage lautet hier doch: Liegt Ihnen wirklich an ihr?“ „Glauben Sie mir, Mr. Calhoun, deswegen brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.“
Jamie konnte nichts darauf erwidern, und er erkannte, dass er Abigail nur Kummer bereiten würde, wenn er sich jetzt nicht zurückzöge. Er begleitete Leutnant Butler zur Kutsche hinaus, und nachdem der Wagen schon fortgerollt war, blieb er noch einen Moment stehen.
Ein sinnloser Zorn erfüllte ihn, ohne dass er wusste, warum das so war. Ihm sollte es doch genügen, dass er seine Pflicht getan und einen anständigen Mann für Abigail gefunden hatte. Der standhafte, Briefe schreibende Butler würde sie zwar nicht in den Himmel heben, doch er würde ihr auch nicht das Herz brechen. Und es war nur gut, wenn man ein heiles Herz behielt.
Schließlich ging Jamie ins Bett, doch er konnte nicht einschlafen. Immer wieder fragte er sich, weshalb es ihm so viel Kopfzerbrechen machte, Abigail dem Leutnant zu überlassen. Vermutlich lag das daran, dass sie das einzig Gute bedeutete, das ihm seit Noahs Tod widerfahren war. In Abigail hatte er wahre Güte gefunden, und bei ihr fühlte er sich geläutert. Ihre Freundschaft konnte nur eine vorübergehende sein; mit dem höflich verbindlichen und gefahrlosen Leutnant Butler wäre Abigail besser dran.
Da Abigail nicht schlafen konnte, schlich sie in ihrem Nachtgewand die Treppe hinunter. Unten legte sie ihren Winterumhang an, öffnete die Haustür und schlüpfte in die Nacht hinaus. Die kalte Luft traf sie wie ein Schlag ins Gesicht, doch das war ihr nur recht, denn sie begriff endlich, was sie lange Zeit nicht hatte wahrhaben wollen: Sie war eine dumme Gans gewesen.
Die Wahrheit starrte ihr direkt ins Gesicht, und trotzdem verschloss sie die Augen vor dem, was ihr Herz begehrte. Doch damit hatte es nun ein Ende.
Jetzt wusste sie, dass es an der Zeit war, ihrem eigenen Urteil zu trauen und sich nicht nach dem zu richten, was irgendjemand anderes von ihr erwartete. Noch heute Abend wollte sie damit aufhören, sich dazu zu zwingen, die sichere, die ordentliche Wahl zu treffen. Heute Nacht wollte sie das einzige Risiko eingehen, welches das Leben lebenswert machte.
Abigail erwartete nicht, dass jemand auf ihr Klopfen reagierte, und das tat auch niemand. Also ließ sie sich selbst ins Haus und begab sich sofort in Jamies Zimmer. Fahles Mondlicht fiel auf das große Bett. Unter den Decken hörte sie jemanden überrascht und verärgert aufstöhnen.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte die Vorstellung, in das Schlafzimmer eines Mannes hineinzuplatzen, sie vor Entsetzen gelähmt, doch jetzt entdeckte sie, dass wahre Liebe die Quelle großen Mutes war.
„Sie haben Ihr mir gegebenes Versprechen noch nicht eingelöst!“ Der gekünstelte Ton, in dem sie sprach, missfiel ihr selbst, doch sie war nun einmal entschlossen auszureden. „Sie schworen, Sie würden mich lehren ... Beim großen Jupiter!“ Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Zum ersten Mal, seit sie ins Zimmer getreten war, sah sie nun, dass Jamie nackt war - jedenfalls von der Taille an aufwärts. Tiefer zu schauen, das wagte sie nicht.
Das kalte Mondlicht vom Fenster her verlieh seiner Haut den
Schimmer einer Marmorstatue, und seine Miene schien ihr wie die eines Fremden. Während er nach der Wasserkaraffe griff, die auf dem Nachttisch stand, starrte er Abigail finster an. „Was, zum Teufel, wollen Sie?“
Sie hielt die Augen abgewandt - oder versuchte es doch zumindest, vermochte indes den Blick nicht gänzlich abzuwenden. Sie musste diese starken, kraftvollen Schulter- und Brustmuskeln einfach anschauen. Etwas an dieser Kombination aus Kraft und Geschmeidigkeit fesselte sie.
„Nun?“ fragte er und trank aus der Karaffe. „Was ist? Ist ein Stern vom Himmel gefallen? Haben Sie einen zweiten Mond entdeckt?“
„Weshalb sind Sie denn so unfreundlich?“ Ihre Unruhe und die Unsicherheit machten sie reizbar. „Ich wette, es ist wegen dieser arabischen Prinzessin im National-Aquarium.“
„Was soll mit ihr sein?“ Er hatte das ganz gleichgültig gefragt, doch Abigail wusste, dass er oft seine tieferen Gefühle hinter dieser Gleichgültigkeit verbarg. Das zumindest hatte sie bereits über ihn erfahren.
„Es heißt, sie sei Vorjahren Ihre Geliebte gewesen.“ Das hatte Helena natürlich nur geraten, doch auf die Instinkte ihrer Schwester war meistens Verlass. „Man sagt, Sie hätten sie über alles geliebt.“
Jamie lachte bitter auf und beugte sich zu der Lampe, um sie anzuzünden. Jetzt übergoss ihn ein goldenes Licht, und seine nackte Haut schimmerte faszinierender denn je. Obgleich er ganz entspannt dalag, wirkte er irgendwie einschüchternd, und Abigail spürte eine Hitze in sich, die sie an den Zweck ihres Herkommens erinnerte.
„Sie sind nicht so dumm, etwas auf Klatsch und Gerüchte zu geben.“ Erneut lachte er. „Sie wissen ganz genau, dass ich nicht zu denen gehöre, die bei einer Frau den Verstand verlieren.“
„Es heißt, die Eltern der Prinzessin wollten Sie hinrichten lassen, und dem seien Sie im letzten Moment entkommen.“
„Es heißt auch, Engel tanzten auf einem Stecknadelkopf. Das sagt noch nichts aus über den Wahrheitsgehalt solcher Behauptungen.“
Abigail wusste, dass sie mit dieser Art der Befragung nicht weiterkommen würde. Außerdem war es auch gar nicht ihre Absicht, in seiner Vergangenheit herumzustochern. Sie hatte etwas viel Wichtigeres vor; sie wollte ihm eingestehen, dass ihr ein großer Fehler unterlaufen war, als sie Leutnant Butlers Heiratsantrag angenommen hatte.
Allerdings hatte sie nicht geahnt, wie schwer es ihr fallen würde, dies zu erklären.
„Ist Ihnen übel?“ Er lehnte sich gegen die Kissen. Im Gegensatz zu Abigail schien ihn seine schockierende Nacktheit in keiner Weise zu stören. „Sie sehen irgendwie merkwürdig aus.“
„Sie sind heute schon der Zweite, der mich fragt, ob ich mich unwohl fühle. Doch das ist nicht der Fall. Ich wollte Ihnen nur sagen ..." Sie stockte, denn mit Worten ließ sich nicht ausdrücken, was sie im Herzen fühlte. Das hatte schon ihre Korrespondenz mit dem Leutnant bewiesen. Und Jamie hatte ein besonderes Talent darin, selbst die ehrlichste Erklärung null und nichtig zu machen.
Abigail wusste einfach nicht, wie sie diesem verbitterten Mann klarmachen sollte, was sie für ihn empfand. Er würde sie nur auslachen und ihr erzählen, ihre Liebe sei eine Sinnestäuschung, ebenso flüchtig und substanzlos wie eine Nebelschwade.
Auch gut, dachte sie, dann werde ich es ihm eben zeigen. Sie holte tief Luft. „Sie haben Ihr mir gegebenes Versprechen nicht eingehalten“, wiederholte sie.
„Ich? Ich soll ein Versprechen gebrochen haben? Niemals!“ Er legte die Hand über seiner nackten Brust aufs Herz.
„Sie brauchen gar nicht bissig zu werden. Sie versprachen mir doch, Sie wollten mich in allem unterrichten, was zur Durchführung einer Romanze erforderlich ist.“
„Und habe ich das nicht getan? Der arme Trottel frisst Ihnen doch aus der Hand, Abby! Was wollen Sie denn noch?“
Sie schluckte und nahm all ihren Mut zusammen. „Über die körperliche Liebe weiß ich noch immer so gut wie gar nichts.“
Für einen Moment wirkte er völlig verwirrt. Dann lehnte er sich wieder gegen die Kissen und lachte leise. „Sie sind doch eine kluge Frau, Abby. Ich sah Sie über Rowans Anatomiebüchern hocken. Und tun Sie nicht so, als hätten Sie sich nicht jede Seite des Kamasutra genau angeschaut, wenn Sie dachten, ich würde es nicht sehen.“
Oh Himmel - das hatte er bemerkt!
„Das ist aber nicht dasselbe“, behauptete sie. „Ich habe auch Bücher über das Reiten gelesen, doch bevor ich wirklich auf einem Pferd saß, hatte ich keine Ahnung, wie man es anstellt.“ Sie trat kühn so dicht ans Bett heran, dass ihre Knie die Kante berührten. „Stellen Sie sich nur vor, was für eine Enttäuschung ich als Braut wäre, falls ich mich in der Hochzeitsnacht als ungeschickt oder verschämt erwiese.“
„Falls Sie glauben, darüber würde ich auch nur eine Sekunde nachdenken, sind Sie verrückt.“ Er winkte ungehalten ab. „Gehen Sie wieder, Abby. Sie wollen doch gar nicht mit mir zusammen sein - weder heute noch in sonst einer Nacht.“
Abigail atmete tief durch. „Sie fürchten sich nur vor dem, was geschehen könnte, falls ich bliebe.“
Er lachte erneut auf diese eigenartig grausame Weise. „Ich vermag Sie die Liebe nicht zu lehren, weder die körperliche noch sonst eine. Wenn Sie jedoch die Tricks einer Hure ...“
„Und wenn?“
„Ziehen Sie sich aus!“
Er will mich verängstigen und einschüchtern, damit ich davon- laufe, dachte sie. Doch dies hier war schließlich Jamie, und vor dem könnte sie sich niemals fürchten.
Wild entschlossen ließ sie ihren Umhang zu Boden gleiten. Darunter trug sie ein zartes Batistnachtkleid, das Madame Brous- sard für sie entworfen hatte. Doch mit einem Mal wurde sie sich der fürchterlichen Wahrheit bewusst, an die sie bis jetzt noch gar nicht gedacht hatte. Tatsächlich hatte sie schon seit Wochen nicht mehr an ihre Behinderung gedacht, denn dazu beschäftigte Jamie sie viel zu sehr mit Kleideranproben, Schlepperfahrten auf dem Chesapeake-and-Ohio-Kanal, gespielten Gesellschaften und Reitstunden. Sie merkte erst jetzt, dass er sie viel zu sehr damit beschäftigt hatte, zu leben, anstatt sich wegen ihres Fußes zu bekümmern.
„Machen Sie das Licht aus“, forderte sie.
„Nein.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Liebe findet nicht im Dunkeln statt. Das müssen Sie lernen.“ Er schien ungemein selbstsicher zu sein, weil er offenkundig erwartete, dass sie nun die Flucht ergriffe.
Dieser Versuchung widerstand Abigail jedoch. Er hatte ihr einmal vorgeworfen, sie scheue das Risiko. Jetzt war sie fast bereit, alles zu riskieren. Und wie schrecklich konnte es schon werden? Sicherlich nicht schlimmer als die unzähligen Demütigungen, die sie in der Vergangenheit erlitten hatte. Frauen auf der ganzen Welt entkleideten sich vor Männern, ohne daran gleich zu sterben. Nur sahen die meisten Frauen auch nicht so aus wie sie.
Abigail holte tief Luft, streifte ihre flachen Hausschuhe ab und öffnete die lange Reihe der Perlknöpfe am Vorderteil ihres Gewandes. Danach ließ sie das Kleidungsstück ebenfalls zu Boden gleiten. Jetzt war sie nur noch mit einem dünnen Unterhemdchen bekleidet. Als sie sah, wie Jamie sie betrachtete, kämpfte sie gegen das stärker werdende Bedürfnis an, auf Nimmerwiedersehen davonzulaufen. Tief in ihrem Inneren indes erkannte sie, dass sie gar nicht fliehen wollte; in Jamies grimmigem Blick lag etwas Bezwingendes, etwas, das ihr den sehnsüchtigen Wunsch vermittelte, hier zu bleiben und ihn zu berühren.
„Und was nun?“ fragte sie.
Wieder meinte sie eine Spur Unsicherheit hinter seiner Fassade zu entdecken, doch allzu schnell kehrte der Zynismus zurück. „Kommen Sie ins Bett, und ich werde es Ihnen zeigen.“
Sie trat ein wenig unsicher auf ihn zu - und dann merkte sie, dass er ihren Fuß betrachtete.
Abigail erstarrte und wünschte, der Boden möge sie verschlucken. Sie wagte nicht, Jamie anzuschauen, sondern wich zurück und tastete nach ihrem Umhang.
Plötzlich stand Jamie vor ihr, nahm sie in die Arme und lächelte sie an. „Ach Liebste, machen Sie sich etwa deswegen Sorgen?“ Ohne jede Verlegenheit hob er sie hoch und legte sie auf das Bett, das noch warm war. Er ließ die Hand an ihrem Bein hinuntergleiten und nahm ihren Fuß in die Hände. Abigail wusste nicht, was sie erschreckender fand - seine Reaktion auf ihren Fuß oder die Tatsache, dass er völlig nackt war. Du lieber Himmel...
„Abby, meine Liebe, sehen Sie mich doch nicht so an. Ich werde Ihnen niemals wehtun“, versicherte er. Seine Grausamkeit hatte sich in eine Zärtlichkeit verwandelt, wie er sie ihr zuvor nie gezeigt hatte. „Wussten Sie nicht, dass Sie keinen Grund haben, auch nur einen einzigen Teil Ihres Körpers zu verbergen?“
Eine Erwiderung hierauf schien er nicht zu erwarten, und Abigail war froh darüber, denn sie hätte gar nicht antworten können. Als er sie auf das Bett drückte, glitt sie nur allzu bereitwillig unter ihn und schmolz vor Erschütterung und Lust dahin. Er schaute ihr in die Augen, während er langsam das Band aufzog, das ihr Hemd zusammenhielt. Nun schob er den zarten Stoff auseinander, schaute an ihr hinunter und stieß dann einen leisen Pfiff aus. „Wenn ich’s mir recht überlege, solltest du vielleicht besser diesen bestimmten Teil deines Körpers verstecken.“ Damit senkte er den Kopf zu einem ruchlos intimen Kuss. „Es gibt nämlich so etwas wie zu große Schönheit.“
Ein kurzer Blitz der Angst, doch auch der Wildheit, durchfuhr sie, und sie erschauderte.
„Bist du dir sicher, dass du es willst?“ fragte er.
„Absolut. Ich weiß nur nicht, was ich machen soll.“
„Doch, das weißt du“, versicherte er.
Abigail ließ sich von ihrem Gefühl leiten, schob die Finger in sein Flaar, strich mit den Fländen über seinen Rücken und hob sich Jamie zu einem Kuss entgegen. Als sie die lange Spur wulstiger Narben ertastete, die sich über seinen Rücken zog, nahm sie ihre Hände fort. „Was ist denn das?“ fragte sie stirnrunzelnd und rückte auf die Seite. „Du lieber Himmel, Jamie! Woher hast du nur diese schrecklichen Narben?“
„Das ist ein Andenken an meine jugendliche Unbedachtheit.“ Er beugte sich zu der Lampe und löschte sie aus. „Das ist schon so lange her, dass ich es vergessen habe.“
„Du meinst, du willst nicht darüber reden.“
„Liebling, dazu besteht auch keine Veranlassung.“
Natürlich bestand eine Veranlassung; man hatte auch ihn verletzt, und sie wollte alle seine Geheimnisse erfahren. Alles wollte sie über ihn wissen.
Sanft strich er über ihre nackte Schulter und dann an ihrem Arm hinunter. „Nach arabischer Überlieferung setzt sich das Universum aus sieben Himmeln zusammen, einer immer über dem anderen. Der erste Himmel besteht aus grünen Smaragden, der zweite aus dem Orange von Ringelblumen ..." Zwischen seinen geflüsterten Worten küsste er sie an Stellen, die er eigentlich nicht küssen durfte, doch sie wollte, dass er es tat. Sie glaubte, sterben zu müssen, falls er damit aufhörte.
„Und der dritte Himmel?“
„Hat die Farbe roter Hyazinthen. Der vierte besteht aus weißestem Silber, der fünfte aus reinem Gold, der sechste aus Perlmutt ..." Seine Hände wanderten noch tiefer hinab und hinterließen eine Feuerspur auf Abigails Haut. „Und der siebte Himmel besteht aus strahlendem Licht.“ Seine Lippen fanden die ihren, und er küsste sie geradezu quälend langsam. Danach hob er den Kopf wieder. „Wie finden Sie das, verehrte Frau Astronomin?“
Endlich fand Abigail ihre Stimme wieder, wenn es auch mehr nach einem Flüstern klang. „Oh, ich glaube, dass es noch sehr viel mehr gibt - zu viele, um alle zu zählen.“
Hitze breitete sich in ihrem Körper aus, und sie fühlte den Hunger brennen, den sie jetzt auch verstand; es war etwas, das sie empfunden hatte, als sie mit Jamie unter den Sternen getanzt, in seinen verbotenen Büchern gelesen oder zugesehen hatte, wie ein Hengst eine Stute deckte. Dieser Drang in ihrem Inneren war etwas Natürliches und Bezwingendes, das eine ganz eigene, ursprüngliche Großartigkeit besaß.
Ihre Hände glitten über seinen Körper mit einem rätselhaften Wissen, von dem sie nicht geahnt hatte, dass sie darüber verfügte.
Jamie küsste sie wieder und wieder; sie drängten sich so nahe aneinander, dass Abigail fast glaubte, die Theorie der Selbstverbrennung könnte durchaus zutreffen. Seine Hände und sein Mund glitten wieder tiefer hinab und gelangten zu Stellen, die so empfindsam waren, dass Abigail kaum noch zu atmen vermochte. Sie fühlte seine Berührung überall; jeder Zentimeter ihres Körpers erwachte gleichzeitig zum Leben. An ihrem Knie, ihrer Wade, dem Fußgelenk und ... ihrem Fuß verweilte seine Hand einen Moment, und Abigail versuchte ihm zu erzählen, was sie fühlte, doch für Worte gab es jetzt keinen Raum; was sich ihren Lippen entrang, ähnelte eher einem wilden Schrei.
Abigail merkte, dass sie jetzt keinen Lehrer, sondern Instinkt benötigte. Sie berührte Jamies starken, narbenbedeckten Körper und versuchte ihm zu zeigen, wie es in ihrem Herzen aussah, und er reagierte mit unverstelltem Entzücken. Der zugleich harte und glatte Körper war für sie ein Wunder; sie ergab sich ihm und der wissenden Zärtlichkeit seiner Liebkosung. Als sie sich vereinigten, schrie sie leise auf und barg das Gesicht an Jamies Schulter, weil der süße Schmerz und das Wunder ihres ersten Liebesaktes sie überwältigten.
„Ist mit dir alles in Ordnung, Liebste?“ Er flüsterte ihr Beruhigendes ins Ohr, was sie indes kaum hörte, weil ihr Herz allzu laut in ihrem Kopf zu schlagen schien.
„Ja“, antwortete sie. „Jetzt ist alles in Ordnung.“ Allein von ihrem Instinkt geleitet, bewegte sie sich unter ihm. Das Mondlicht vom Fenster her spielte auf seinen Schultern, die ein wenig bebten, während er sich ihren Bewegungen mit langsamem Rhythmus anglich. Auf seine Art war Jamie ein noch größeres Wunder als der Nachthimmel, der sich voller Träume und Rätsel endlos und verführerisch über ihr spannte.
Sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass jeder Augenblick, in dem sie mit Jamie zusammen gewesen war, hierzu hatte führen müssen. Das fing schon an in jenem Moment, da er sie bei der Wilkes-Hochzeit in den Armen hielt, setzte sich dann fort mit viel Gelächter und Spötteleien und ging über die absurden Lektionen weiter bis hin zu dem verführerischen Unterricht in der Kunst des Küssens und Flirtens. Alles das schien nur den Zweck zu erfüllen, sie hier in sein Bett, in seine Arme zu führen.
Abigail schloss die Augen, und die Farben der sieben Himmel drehten sich in ihrem Geist - Smaragdgrün, Ringelblumenorange, Silberweiß und alle anderen, bis sie schließlich nur noch das strahlende Licht sah. Und dann gab es keine Farben mehr, nicht einmal einen zusammenhängenden Gedanken, sondern nur einen Wirbel der Gefühle, während Jamie Abigail an den Ort führte, wo die Sterne geboren wurden.
In den langen Momenten danach lagen sie beide reglos da, und nur das Atmen war zu hören. Nach dieser kurzen Stille legte er sich neben sie und zog sie zu sich heran.
Darüber wird also so viel Aufhebens gemacht, dachte Abigail und fand es immer schwieriger, klar zu denken. Kein Wunder, dass niemand darüber sprach: Es gab einfach keine Worte für diese himmelstürmende Freude.
Das hereinfallende Mondlicht beleuchtete Jamies Gesicht, das ein wenig benommen und viel verletzlicher wirkte als je zuvor.
„Hast du etwas?“ fragte sie flüsternd.
„Bei dir fühle ich mich wie ein anderer Mensch“, antwortete er.
Sie seufzte glücklich und strich schläfrig tastend über seine Brust. „Ich glaube, ich habe gerade einen neuen Himmelskörper entdeckt.“
„Du solltest lieber deine Zeit auf dem Dach verbringen und nach Kometen Ausschau halten.“
„Jamie...“
„Abby
Sie hatten beide gleichzeitig gesprochen, und Abigail lachte ein wenig angespannt. „Irgendetwas geschieht mit uns. Diese Zeit mit dir zusammen bedeutet mir mehr, als du dir vorstellen kannst.“ Im Halbdunkel sah sie ihn die Stirn runzeln. Schnell redete sie weiter, ehe er sie zu unterbrechen vermochte. „Du zeigtest mir so viel, Jamie. Du lehrtest mich, stets mein Bestes zu zeigen, doch nun erkenne ich, dass ich das nur dann kann, wenn ich bei dir bin, weil ein weiterer Wechsel der Zuneigung erfolgt ist.“
Jamie erstarrte, und Abigail merkte, dass er sich für Kommendes wappnete. „Wie meinst du das?“
„Nun, nachdem er entdeckt hatte, dass ich die Verfasserin der Briefe war, übertrug Boyd seine Zuneigung von Helena auf mich, wie du es ja auch prophezeit hattest. Du sagtest indes nicht, dass unser Briefflirt genau das war - eben ein Flirt, flach und substanzlos.“
Jamie schob sie von sich fort und lehnte sich gegen die Kissen. „Hat dieser Esel dich etwa fallen lassen?“
„Nein, nichts dergleichen. Dies ist etwas, das ich selbst entdeckt habe, weil du mich gelehrt hast, auf mein Herz zu hören.“ Abigail stockte; sie drückte sich nicht richtig aus. „Herrgott, fühlst du das nicht auch? Was wir eben taten, was wir zusammen sind - das ist kein Flirt, Jamie. Das ist etwas sehr Reales, realer als alles, was ich je empfunden habe.“ Mit angehaltenem Atem wartete sie auf seine Reaktion.
Jamie erhob sich eilig, zog sich gar nicht erst an, sondern warf Abigail ihre Kleidung zu. „Geh nach Hause, Abby. Die Lehrstunde ist beendet.“
„Begreifst du denn nicht, was ich dir sagen will? Ich liebe dich!“
Die Worte hingen in der Luft wie ein übler Fluch.
Dann spie Jamie tatsächlich einen Fluch aus und zog sich seine Hose beleidigend hastig an. „Du weißt ja nicht, was du da redest.“ Er streifte ihr das Gewand über den Kopf, steckte ihr die Schuhe an die Füße, zog sie hoch und wickelte sie in ihren Umhang. „Man verliebt sich nicht, weil man ... getan hat, was wir eben taten.“
„Das war es doch nicht allein!“ Ist es denn wirklich so schwer, ihm verständlich zu machen, was ich jetzt so klar sehe? fragte sie sich. „Wir hätten von Anfang an merken müssen, was geschah. Seit wir uns begegneten, haben wir uns Tag für Tag, Moment für Moment, mehr ineinander verliebt.“
„Es drehte sich nie um Liebe, sondern um den gegenseitigen Nutzen. Ich wollte einen Verbündeten in deinem Vater gewinnen, und du wolltest eine Romanze mit dem Sohn des Vizepräsidenten. Wir bekamen beide, was wir haben wollten, nicht wahr? Herrgott, wenn du jetzt den armen Trottel zurückweist, versagt mir dein Vater die Unterstützung, wendet sich wieder den Eisenbahngesellschaften zu, und ich verliere alles, weswegen ich überhaupt hergekommen bin. Schlimmer noch - die Menschen meines Distrikts sind die Verlierer. Man wird sie von ihrem Besitz vertreiben, und was dann?“
„Also liegt es nur an der Eisenbahn, dass wir nicht zueinander finden können?“
Jamie lachte leise. „Du weißt, dass mehr daran hängt, Abby.“ „Es muss aber nicht so sein. Wenn du mir nur zuhörtest..." „Du liebst mich nicht!“ fuhr er sie an. „Du besitzt ein besseres Urteilsvermögen. Einer Zuneigung, die sich so schnell an- und ausschalten lässt, darf man nicht trauen.“
„Du irrst dich. Ich liebe dich, und du liebst mich. Das weiß ich genau.“
Er gab ihr einen sanften Stoß und drängte sie zur Tür. „Nein, das weißt du nicht, und ich ebenfalls nicht. Und das ist auch verdammt gut so, denn im anderen Fall wäre dies ein sehr trauriger Moment.“