7. KAPITEL

Abigail schlug den Messingklopfer ein drittes Mal gegen die ^_l hölzerne Tür in der Dumbarton Street und wartete. Die Sonne ging inzwischen unter, und die letzten Strahlen fielen über die kupfernen Dächer auf dem Gipfel des Hügels. Der indigoblaue Himmel im Osten hatte schon die Venus geboren und den rötlichen Stern Antares im Herzen des Skorpions, der immer als Erster zu dieser Jahreszeit erschien.

Der herbe Geruch der Herbstluft erinnerte sie an ihre Tage als Schülerin. Man hatte ihr erlaubt, die Vorlesungen an der Universität zu besuchen. Still und unauffällig wie ein Möbelstück hatte sie hinten im Hörsaal gestanden. Doch diese Tage gehörten längst der Vergangenheit an.

In dem Haus gegenüber bewegte sich der Wohnzimmervorhang von Mrs. Vandivert, und Abigail winkte. Das tat sie immer, doch die neugierige Frau winkte nie zurück. Es schickte sich nicht, ohne Begleitung einen Nachbarn zu besuchen, doch Abigail und Helena hatten sich noch nie daran gehalten. Die ganze Nachbarschaft redete schon seit Jahren über die ungehörigen Töchter des Senators.

„Der Blitz hat mich noch immer nicht getroffen“, sagte sie und öffnete die Tür. „Hallo?“

Keine Antwort.

„Professor Rowan?“

Stille. Vermutlich war er noch bei der Arbeit.

„Mr. Calhoun?“

Wieder Stille, und dann folgte ein dumpfes Poltern.

Abigail raffte die Röcke und lief die Treppe zum Salon hinauf. In diesem Haus fühlte sie sich mehr daheim als in dem ihres Vaters. Die Residenz der Cabots wirkte wie ein Denkmal vergangener Herrlichkeit, voll von französischen Antiquitäten, irischem Kristall und englischem Porzellan, alles liebevoll gepflegt von einer kleinen Armee von Bediensteten. Im Gegensatz dazu war das Haus des Professors voll gestopft mit Gebrauchsmöbeln und modernen Geräten. Aus irgendeinem Grund störte die Unordnung Abigails Neigung zu Ordnung und Präzision nicht. Sie selbst mochte tollpatschig und ungepflegt wirken, doch in diesem Haus schien das nicht so wichtig zu sein,

„Hallo!“ rief sie noch einmal, als sie den Treppenabsatz erreichte. „Ist jemand da? Oh.“ Mr. Calhoun stand plötzlich vor ihr.

Er ist entschieden zu groß, dachte sie nicht zum ersten Mal. Doch im Augenblick erregte noch etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Sein Haar war ungekämmt, und die Halsbinde hing lose um den offenen Kragen. Das Hemd war nicht zugeknöpft und entblößte seine nackte Brust. Abigail hatte nie zuvor die nackte Brust eines Mannes gesehen. Eine ungewohnte Hitze durchströmte sie, und es fiel ihr schwer, den Blick abzuwenden.

Aus dem Augenwinkel stellte sie fest, dass Mr. Calhoun eine unangezündete Zigarre zwischen den Fingern der linken Hand hielt und eine weiße Maus auf der Schulter sitzen hatte. Er lächelte schief. „Kommen Sie, meine Liebe“, forderte er sie gut gelaunt auf. „Sokrates und ich fühlen uns schon ganz einsam, nicht wahr, mein Kleiner?“ Überraschend zärtlich streichelte er das Tierchen mit einem Finger.

Abigails Hals fühlte sich trocken an, und sie musste zweimal schlucken, ehe sie reden konnte. „Geht es Ihnen auch wirklich gut, Mr. Calhoun?“

„Ich bin stockbetrunken, Miss Cabble... Cab...ab.“ Er lachte. „Abby. Es macht Ihnen sicher nichts aus, wenn ich Sie Abby nenne.«

„Ach nein?“

Er ging in den Arbeitsraum, um den kleinen Sokrates in den Glasbehälter zurückzusetzen. Dann schaute er zu, wie der Mäuse- rieh an seinem Arm hinunterhuschte. „Kommen Sie doch bitte herein. Tut mir Leid, dass ich Sie nicht klopfen hörte. Bin wahrscheinlich eingeschlafen.“ Überrascht betrachtete er die Zigarre, als hätte er vergessen, dass er sie in der Hand hielt.

Er legte sie in den Aschenbecher, nahm eine Karaffe auf und hielt sie gegen das Licht, das von draußen hereinfiel. „Whiskey?“ „Es sieht so aus, als hätten Sie nicht mehr viel übrig gelassen“, stellte sie fest. „Trotzdem vielen Dank, nein. Ich mag keine starken alkoholischen Getränke.“

„So spricht die wahre Lady.“ Er setzte die Flasche an die Lippen und ließ die letzten Tropfen seine Kehle hinunterrinnen.

Lieber Himmel, was war denn mit ihr los? Wenn sie nur seinen Hals betrachtete, erinnerte sie das an eine Illustration, die sie in seinem „Kamasutra“ gesehen hatte, und erneut wallte Hitze in ihr auf.

„Die Männer in unserer Familie haben schon immer zu tief ins Glas geschaut“, erläuterte er und stellte die leere Karaffe auf einen Tisch.

„Glückwunsch.“

„Oh, glauben Sie mir, ich prahle nicht damit. Um ehrlich zu sein, das Trinken hat niemandem von uns etwas Gutes eingebracht. Vetter Hunter von Kalifornien gab es ganz auf, und das machte ihn zu einem neuen Mann.“

„Glauben Sie nicht, dass Sie es ebenfalls aufgeben sollten, um ein neuer Mann zu werden?“

Er schnaubte. „Warum sollte ich? Ich kann höchstens versuchen, ein alter Mann zu werden.“

„Ihr Ehrgeiz imponiert mir“, bemerkte sie. „Vielleicht sollten Sie schneller trinken; dann wäre Ihre Zeit eher abgelaufen, und wir wären Sie los.“

„Zu schade, dass man für bissige Bemerkungen nicht bezahlt wird, Abby, meine Liebe. Darin sind Sie nämlich ganz groß.“

Es behagte ihr nicht, wie er sie „Abby, meine Liebe“ nannte, denn er sprach wie ein geübter Schauspieler in einem Melodram. „Tatsächlich? Das ist nichts, worauf man stolz sein könnte.“

„Voltaire war immerhin damit erfolgreich. Und Mr. Mark Twain wird ebenfalls davon reich.“

Abigail fühlte sich seltsam unbehaglich, da sie allein mit diesem nachlässig bekleideten und empörend betrunkenen Mann in dem dämmrigen Salon war. „Ich wollte hier eigentlich etwas erledigen. Ich vergaß nämlich, den Brief abzusenden, den ich vorhin geschrieben habe.“

„Nur keine Sorge.“ Er winkte lässig ab. „Das habe ich für Sie erledigt. Vor gut zwei Stunden habe ich Meeks damit losgeschickt.“ Abigail lächelte. „Das war aber sehr nett.“ Sie ging zum Schreibtisch. „Dann werde ich nur rasch meine anderen Papiere ...“ Sie runzelte die Stirn. „Das ist ja merkwürdig. Ich ließ etwas unter der Löschmatte liegen, und nun ist es nicht mehr da.“

„Ich sagte Ihnen doch: Ich habe es abgeschickt.“

Noch immer verstand sie nicht. Sie hatte dem Leutnant in Helenas Namen einen amüsanten und vollkommen nichtssagenden Brief geschrieben, doch wo waren die anderen, nur für sie selbst bestimmten Zeilen geblieben? Die sie gar nicht erst hätte schreiben sollen, da sie ihre geheimsten Träume ausdrückten.

Ihr wurde eiskalt. Sie stützte die Hände auf die Schreibtischkante und drehte sich langsam um. „Wollen Sie damit sagen, Sie hätten den Brief abgeschickt, der unter der Löschmatte lag?“

Jamie rieb sich nachdenklich das Kinn. „Meinen Sie den langen, innigen Brief mit den zarten Geständnissen und den leidenschaftlichen Andeutungen? Ja, den habe ich auf den Weg gebracht. Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Gern geschehen.“

Das Blut wich aus ihrem Gesicht. „Sie haben ihn gelesen?“ „Gewiss.“ Er grinste geradezu teuflisch befriedigt. „Wer hätte gedacht, dass Sie so viel Feuer und Leidenschaft in sich verbergen, Abby? Butler wird erstaunt sein. Ich war es zumindest.“

Voller Entsetzen hastete sie zur Tür und wäre beinahe gestolpert. „Wir müssen den Brief zurückhalten!“

Jamie ergriff ihren Arm. „Zu spät. Vermutlich drückt Butler ihn sich inzwischen schon ans Herz.“

Abigail entriss ihm ihren Arm. „Dieser Brief war ausschließlich für meine eigenen Augen bestimmt!“ rief sie wütend. „Weder für Leutnant Butlers Augen, und schon gar nicht für Ihre!“

„Aber Sie begannen ihn doch mit ,Mein lieber Leutnant Butler'. Oder schrieben Sie ,mein Liebster“? Wie dem auch sei, ich vergewisserte mich, dass der Brief für ihn bestimmt war und dass es sich bei der ersten Version um einen missglückten Entwurf handelte - ein höchst langweiliger Entwurf, möchte ich hinzufügen. Ich habe ihn verbrannt.“

Er lügt, dachte Abigail. Er muss einfach lügen. Nur ein gemeiner Kerl hätte diesen allzu privaten Brief versandt. Doch ein Blick in sein selbstgefälliges Gesicht belehrte sie eines Besseren. „Bei allem, was recht und anständig ist - wie konnten Sie nur so etwas Verachtenswertes tun?“

„Sie haben soeben Ihre eigene Frage beantwortet, meine Liebe: Ich bin nun einmal nicht anständig.“

Langsam ließ sie sich in einen Sessel sinken, als wäre sie ein Soldat, der in einer Schlacht verwundet worden war. Die Sätze, in denen sie ihre heimliche Bewunderung beschrieben hatte, brannten in ihrer Erinnerung. In diesem Brief hatte sie ihr Herz ausgeschüttet, und dieser entsetzliche Mann hatte alles gelesen und das Schreiben dann an Leutnant Butler weitergeleitet!

„Fehlt Ihnen etwas?“ fragte Mr. Calhoun. „Sie sehen auf einmal etwas spitz aus.“

„Verzeihen Sie mir“, fauchte Abigail ihn an. „Aber ich bin noch niemandem begegnet, der mir so etwas Abscheuliches angetan hat.“

„Ich habe doch nichts Abscheuliches getan. Sie erzählten mir selbst, Sie seien in ewiger Liebe zu diesem Mann entbrannt; der mit seinem bisschen Hirn glaubt, er sei in Ihre Schwester verschossen, die ihrerseits selbstverständlich kein Interesse für ihn aufbringt. Also muss er lernen, die richtige Schwester zu lieben. Und womit könnte man ihn leichter dazu bringen als mit Ihrem bezaubernden Brief?“

„Das war nicht mein Brief.“

„Sie haben ihn geschrieben.“ Er kam immer näher und stützte schließlich die Hände auf die Armlehne des Sessels, in dem Abigail saß. Sein Gesicht befand sich jetzt auf gleicher Höhe mit dem ihren. Der stechende Blick verriet ihr, dass er furchtbare Geheimnisse in sich trug. Und seine wohlgeformten, feuchten Lippen versprachen fleischliche Genüsse ...

Abigail zwang sich fortzuschauen. „Ja, ich war so närrisch, ihn zu schreiben, doch der Leutnant erwartete, von Helena zu hören.“ „Sie hätte es geschafft, selbst ihn zu langweilen.“

Abigail fühlte sich hilflos in die Ecke getrieben. In ihren Schläfen pochte es, und sie musste sich zwingen, nicht auf die harten Konturen seines Gesichts zu starren. „Und welche Rolle spielen Sie bei der ganzen Intrige?“

„Für die Mitbürger etwas zu unternehmen, das ist die Pflicht eines Abgeordneten.“ Erschreckt fuhr sie zusammen, als er sich auf ein Knie niederließ und ihre Hand in die seine nahm. Er roch nach Whiskey und Zigarren, doch aus irgendeinem merkwürdigen Grund konnte sie sich nicht überwinden, den Blick abzuwenden.

„Abby“, sagte er jetzt ganz nüchtern und ernst, „ich mag Sie, und zwar vom ersten Moment an. Auch Ihre alberne Schwester mag ich, und ich gestehe sogar, Verständnis für den Sohn des Vizepräsidenten aufzubringen. Sie und die anderen beiden müssen nur Klarheit schaffen.“

„Und Sie haben sich selbst dazu bestimmt, das zu tun.“

„Sie waren ja nicht besonders erfolgreich damit.“

„Dennoch ging das nur uns etwas an.“

„Und so ist es noch immer. Glauben Sie mir, Abby, ich weiß, wie solche Dinge laufen. Butler wird auf Ihren Brief antworten - wie könnte er auch nicht nach allem, was Sie ihm geschrieben haben? -, und dann werden Sie und er die Korrespondenz fortsetzen. Am Ende wird er mit Ihrem Vater reden, der seine Freude über die ganze Sache hinausposaunen wird, und dann ,lebten sie glücklich bis an ihr seliges Ende“.“

All das war so absurd und hoffnungslos, dass Abigail einfach lachen musste. Sie hielt Mr. Calhouns Hände und lachte, bis sie die Tränen in ihren Augen nicht mehr brennen fühlte. Plötzlich zuckte sie entsetzt zusammen. „Ich habe diesen Brief nicht mit meinem Namen unterschrieben.“

Jamie blickte an die Decke. „Ich glaube, Sie unterschrieben ihn mit ,Ihre einzig wahre Liebe“.“

„Dann wird der Leutnant annehmen, der Brief komme von Helena.“

„Wichtig ist nur, dass er sich in die Verfasserin des Schreibens verliebt. Das weiß selbst eine Topfpflanze. Sie benötigen mehr Selbstvertrauen. Und vielleicht sogar ein bisschen Vertrauen in das Urteilsvermögen des guten Leutnants.“

„Wie, um alles in der Welt, sollte das denn Ihrer Meinung nach funktionieren? Ich kann ihn schließlich nicht zwingen, mich zu lieben.“

„Warten wir es ab. Das menschliche Herz besitzt die Fähigkeit, so lange zu warten, bis es Erfüllung gefunden hat.“ Er richtete sich auf und streichelte ihr über die Wange. „Und Ihr Herz, meine Liebe, ist wahrscheinlich das hartnäckigste, das es gibt.“

„Für einen Zyniker haben Sie einen tiefen Glauben an die Macht der Liebe.“

„Nein. Ich glaube an die Logik der Strategie. In der Liebe liegt weder Logik noch Magie. Sie ist ein einfaches Spiel, und das beherrschen Sie ausgezeichnet. Dieser Brief war ein wahrer Geniestreich.“

Abigail erhob sich aus ihrem Sessel und drückte sich an Jamie vorbei. Dies war ein einziges Fiasko. In den Zeilen, die sie geschrieben hatte, war sie so anmutig und begehrenswert wie eine Prinzessin, doch tatsächlich war sie ein schüchternes, tollpatschiges Nichts.

„Herrgott!“ rief sie ärgerlich. „Dieser Brief war doch keine alberne Spielerei. Das war etwas, das aus meinem tiefsten, ehrlichsten Inneren kam!“

„Ach Liebes, das weiß ich doch“, sagte er leise, berührte ihr Gesicht und hob ihr Kinn mit zwei Fingern an.

Er redete mit ihr, als wäre sie eine andere Person als die Abigail, die der Rest der Welt in ihr sah - als wäre sie eine entzückende, begehrenswerte Frau, an der ihm etwas lag. Doch das war ganz ausgeschlossen. Er kannte sie ja gar nicht, und ihm lag nur etwas an sich selbst und seinen verrückten Scherzen.

Sie wich zurück. „Ich kann nur hoffen, dass Sie keine Katastrophe angerichtet haben.“

„Ausgeschlossen. Jeder gewinnt. Butler bekommt eine Gattin, die ihn vergöttert, Ihr Vater bekommt seinen hohen Verbündeten, Ihre Schwester bekommt ihre Freiheit, und Sie bekommen Ihren Traumprinzen.“

„Und was bekommen Sie?“

„Die Genugtuung, etwas für meine Mitbürger getan zu haben.“ Abigail konnte nicht anders, sie musste aufs Neue lachen. „Sie sind ein schrecklicher Mensch, Mr. Calhoun, dem ich nicht verzeihen kann. Für das, was Sie getan haben, verdienen Sie Schläge mit der Pferdepeitsche.“

„Sie sind nicht die Erste, die das sagt. Doch bei Ihnen hört es sich amüsant an.“

„Ich bin neugierig, Mr. Calhoun. Weshalb sind Sie ein so schrecklicher Mensch geworden?“

Einen Moment dachte er ernsthaft nach, dann entfernte er sich ein paar Schritte, stützte einen Ellbogen auf die Kamineinfassung und blickte zu Sokrates hinunter, der eifrig das Rad seiner Tretmühle drehte. „Ich glaube nicht, dass ich so geboren wurde. Ich erinnere mich sogar ganz genau, dass meine Mutter immer meinte, ich sei ein prächtiges Baby und so wohlgenährt und zufrieden wie ein Opossum im Frühling. Als kleiner Junge war ich nur durchschnittlich schrecklich. Ich glaube, zur schrecklichen Person wurde ich erst, nachdem man mich aufs Internat schickte.“

„Weshalb schickte man Sie dorthin?“

„So machte man es eben. Meine Eltern schickten mich auf ein Militär-Internat im Norden.“

Vor Abigails innerem Auge entstand das Bild eines flachshaarigen Jungen, der in einem Zug saß, unterwegs zu einem Ziel, das er fürchtete. „Sie müssen dort sehr einsam gewesen sein.“

Jamie zuckte die Schultern. „Ich durfte zweimal im Jahr heimkommen; einmal zu Weihnachten und einmal für ein paar Wochen im Sommer. Von den Yankees hielt ich nicht sehr viel, und ich glaube, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich wollte nach Hause, und so tat ich alles Mögliche, um in den Süden zurückgeschickt zu werden. Doch man behielt mich im Norden - Gott weiß warum -, und ich wurde wirklich schrecklich. Und klüger. Schon früh lernte ich, was Liebe ist und was nicht. Und die Erfahrung gab mir Recht.“

„Ihre Erfahrung! Und wie sieht die, bitte sehr, aus?“

Er warf ihr einen Blick zu, riss dann ein Zündholz an und hielt die Flamme an eine Lampe. Das diffuse Licht ließ seine zusammengepressten Lippen noch bitterer erscheinen. „Das möchte ich einer jungen Dame nicht anvertrauen.“

„Tatsächlich? Doch Sie denken sich nichts dabei, sich in meine Privatangelegenheiten zu mischen.“

„Sie ließen Ihren Liebesbrief auf Rowans Schreibtisch liegen.“

„Unter der Löschmatte.“

„Einerlei. Jetzt befindet er sich in Butlers Händen.“

Bei dieser Vorstellung schauderte es Abigail. „Für Menschen wie Sie gibt es in der Hölle einen besonderen Platz.“

Jamie lächelte. „Nun, meine Liebe, ich vermute, dass die Hölle besser ist als das Leben.“

Abigail stand auf, ging zur Treppe, blieb jedoch noch einmal stehen. Sie hätte zu gern gewusst, was James Calhoun zu dem gemacht hatte, was er jetzt war, und weshalb er die Hölle seinem jetzigen Leben vorzog. Oder sprach aus ihm nur der Whiskey?

Schatten krochen über den ausgeblichenen Teppichläufer, während sich die Dunkelheit herabsenkte. „Ich muss jetzt gehen“, sagte sie fest. „Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich mir jetzt ausdenken muss, wie ich Leutnant Butler diesen Fehler erkläre.“

„Es gab keinen Fehler, es sei denn, Sie hätten ihn angelogen, was Ihre Gefühle betrifft.“

„Ich habe nicht gelogen!“ entfuhr es ihr.

Jamie war ihr aus dem Salon gefolgt. Er stellte sich vor Abigail und versperrte ihr den Zugang zur Treppe, indem er einen Arm ausgestreckt auf das Geländer legte. Da der Ärmel seines Hemdes hochgerollt war, sah Abigail seinen entblößten Unterarm. Andere hätten in ihm vielleicht in diesem Augenblick einen gewöhnlichen Arbeiter gesehen, doch für Abigail war er ein sehr muskulöser Mann, der sich erheblich von den schlanken, verweichlichten Gentlemen ihrer eigenen Kreise unterschied.

Schnell vertrieb sie diesen Gedanken wieder. „Entschuldigen Sie.“

„Gehen Sie noch nicht.“ Er stand ganz dicht vor ihr, und seine Körperwärme schien sie bis ins Innerste zu erhitzen.

Verwirrt von ihrer eigenen Reaktion auf ihn, lachte sie auf. „Bei jedem anderen Mann würde ich das für eine Liebeserklärung halten.

„Sie bringen die Dinge bloß durcheinander, falls Sie Butler erzählen, Sie hätten den Brief nur versehentlich geschrieben.“

„Die Dinge sind dank Ihrer Mithilfe bereits durcheinander geraten.“

„Abby.“ Er stieg zwei Stufen hinunter, so dass sich sein Gesicht jetzt mit dem ihren auf gleicher Höhe befand. In dem dunklen Flur wirkte er geheimnisvoll, verführerisch, sinnlich ... und faszinierend. „Lassen Sie den Dingen ihren Lauf. Was Sie in diesem Brief schrieben - Ihre Aufrichtigkeit, Ihre Leidenschaft, das ist etwas sehr Seltenes. Ich will Ihnen sagen, was Butler jetzt empfindet, nachdem er die Worte gelesen hat.“

Jamie strich mit dem Daumen über ihr Handgelenk, und Abigail war so überwältigt, dass sie ihm nicht schnell genug ausweichen konnte. „Er fühlt sich zehn Fuß groß, Abby.“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Das Objekt einer solchen Liebe zu sein ... das ist mehr wert als alles andere. Glauben Sie mir, Abby. Glauben Sie an Ihr eigenes Herz. Gott im Himmel, Butler tut es. Nehmen Sie ihm das nicht wieder fort.“

„Woher wollen Sie wissen, was er fühlt?“

Jamie beugte sich vor, und Abigail merkte entsetzt, dass er ihr jetzt näher war als je zuvor ein Mann. Es fehlt nicht viel, und er wird mich küssen, dachte sie.

„Weil ich mich selbst vor langer, langer Zeit so fühlte, Abby“, lautete seine Antwort.