23. KAPITEL

Franklin Cabot hob sein Weinglas und strahlte Abigail auf eine Weise an, die ihr vollkommen neu war. In der Vergangenheit hatte er sich freundlich und sogar tolerant gezeigt, sie mit pflichtgemäßer Zuneigung und manchmal, wenn dies gerechtfertigt war, sogar mit Bewunderung betrachtet. Nun indes bot er ihr die aufrichtige Achtung und Aufmerksamkeit, die sie sich ihr ganzes Leben lang erhofft hatte.

Sie hob ihm ihr Glas ebenfalls entgegen, und Helena tat es ebenso; nach Leutnant Butlers Fortgang speisten die drei feierlich zu Abend.

„Auf meine außergewöhnlich kluge Tochter!“ rief der Senator begeistert und zugleich ein wenig ungläubig aus. „Auf die zukünftige Braut! Ich bin ja so stolz auf dich, meine Liebe.“

Abigail versuchte, ihren Triumph zu genießen, und stellte ihr Weinglas exakt zwischen Salzfässchen und Fingerschale ab. Nun war alles doch so gelaufen wie geplant - zumindest hatte sie den Weg in das Herz ihres Vaters gefunden.

„Und auf meine noch klügere Schwester“, fügte sie hinzu und schaute Helena an. „Ohne dich wäre dies alles nicht geschehen.“

Helena lächelte unbekümmert und stellte ihr Glas ab, ohne den Wein gekostet zu haben. „Du warst immerhin diejenige, die die Briefe schrieb.“

„Doch dich wollte er anfangs besuchen.“ Abigail hatte natürlich keine Ahnung, was zwischen ihrer Schwester und dem Leutnant gesprochen worden war, allerdings wusste sie genau, dass Helena ungemein überzeugend sein konnte, wenn sie wollte. Sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte, dass ihre Schwester Leutnant Butler klargemacht hatte, dass er sie, Abigail, liebte. Wäre es nicht viel romantischer, wenn sich ein Mann aus eigenem Willen verliebte?

Angesichts ihres Triumphes war es indes sicherlich töricht, sich wegen solch eines nebensächlichen Details in Wortspaltereien zu ergehen.

„Ihr beide seid wirklich ein bemerkenswertes Team“, stellte der Senator fest. „Ihr hättet euch bereits Vorjahren zusammentun sollen, bei Gott.“

„Vergiss nicht Mr. Calhouns Rolle hierbei“, erinnerte Abigail ihn in einem plötzlichen Anfall von Loyalität. Sie hatte schließlich versprochen, Jamies Anliegen bei ihrem Vater zu vertreten.

„Richtig“, pflichtete Cabot bei. „Der Mann hat dir mehr Gutes gegeben als ein ganzes Schuljahr.“ Lächelnd stellte er sein Weinglas ab und machte sich dann über die dicken Schinkenscheiben mit dem Butterkürbis her, den Dolly in jedem Herbst reichlich zubereitete.

Abigail konnte es noch immer nicht so ganz glauben, und möglicherweise war es auch gar nicht geschehen. Sie, Abigail Beatrice Cabot, würde Boyd Butler III. ehelichen! Zunächst hatte sie ihn nur wie ein törichtes kleines Mädchen von fern geliebt, so wie man einen Helden verehrt, danach mit der unerschütterlichen Glut einer erwachsenen Frau, und jetzt endlich durfte sie ihn aus dem vollen Herzen einer Ehegattin lieben. Mehr noch, sie hatte ihrem Vater Freude bereitet, und das verlieh ihrer Glückseligkeit den perfekten Glanz.

„Ich habe dir tatsächlich zu danken, Helena.“ Abigail stocherte in ihrem Essen herum, rührte es jedoch kaum an. „Wenn du nicht gewesen wärst, hätte er nie ..."

„Jetzt ist es aber genug mit deinen Danksagungen und deinem Applaus für meine angebliche Klugheit!“ Helena lachte, doch ihre Heiterkeit schien ein wenig bitter. „Es ist doch alles hervorragend ausgegangen. Du liebst den Mann, ich nicht. Und jetzt hat er die richtige Schwester bekommen. Du und der Leutnant hättet am Ende auch ganz ohne fremde Hilfe eure gegenseitige Zuneigung entdeckt. Die Liebe findet immer ihren Weg“, fügte sie mit sanfter Stimme hinzu. „Das kann niemand erzwingen, sosehr man es sich auch wünschen mag.“

Dachte Helena dabei an Michael Rowan? Bedauerte sie, dass sie ihn liebte, oder genoss sie es?

„Mr. Calhoun würde dir hier sicherlich widersprechen“, meinte Abigail und schnitt ihren Schinken in genau neun gleiche Teile. „Er ist der Meinung, Liebe sei ein strategisches Spiel. Er drängte mich dazu, Leutnant Butler mit systematischen Zügen zu gewinnen. Glaubst du das auch, Vater? Glaubst du, dass man Liebe durch Logik und Strategie auslösen kann?“

Der Senator lächelte nachsichtig, und ein sanfter, in weite Fernen gerichteter Blick trat in seine Augen. „Ich glaube, für einige wenige Menschen kann Liebe aus dem erwachsen, was im Leben wirklich wichtig ist - Ehre, Achtung und Anerkennung. Und das sind doch Dinge, die es wert sind, angestrebt zu werden, nicht wahr?“

„Gewiss.“

„Da wir gerade davon reden ...“ Er biss in einen der Buchweizenkekse, die Dolly gebacken hatte. „Senator Troy Barnes hat sein Vorhaben aufgenommen, dich zu gewinnen, Helena, und wenn es erst einmal heraus ist, dass Butler sich für deine Schwester entschieden hat, wird er seine Bemühungen sicherlich verdoppeln.“

„Ich kenne den Mann doch kaum.“ Helena lachte erneut, doch Abigail entging nicht, wie krampfhaft sie den Stiel ihres Weinglases festhielt.

„Nach allem, was man so hört, ist er ein exzellenter junger Mann mit hervorragenden Aussichten. Das Familienvermögen liegt im Bankgeschäft, und er stammt aus einer der schönsten Gegenden des Landes - Saragota Springs, New York.“

„Die Stadt ist bekannt für ihre Vollblut-Pferderennen“, warf Abigail ein, der sofort Jamie und die Pferde von Albion einfielen.

Unbewusst hob sie die Hand, um den ungewöhnlichen Halsschmuck zu berühren. Als sie jedoch merkte, was sie da tun wollte, ließ sie die Hand rasch wieder sinken; es schien ihr wie ein Betrug, zu einem solchen Zeitpunkt an Jamie zu denken.

Helena blickte finster drein. „Ach Papa! Reicht es denn nicht, dass du endlich eine von uns unter die Haube gebracht hast? Musst du denn jetzt gierig werden?“

„Meine Liebe, ich bin durchaus nicht gierig. Ich habe nur den Wunsch, dass du die gleiche Glückseligkeit erfahren mögest wie deine Schwester.“ Er reichte ihr die Schale mit den Keksen, und das Gespräch wandte sich Plänen und Politik zu.

Man würde selbstverständlich ein Treffen der beiden Familien vereinbaren und dann das Hochzeitsdatum festsetzen. Der Senator war glücklich, die Details anderen Personen überlassen zu können. Er hatte ja sein Ziel erreicht und die Zukunft seiner jüngeren Tochter gesichert; jetzt war er entschlossen, die politische Allianz zu schmieden, die er benötigte.

Nach dem Abendessen wünschte er seinen Töchtern eine gute Nacht, bevor er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog. Als Abigail ihn leicht auf die Wange küsste und dann zurücktrat, studierte er sie mit ungewöhnlichem Interesse. „Diese Verlobung bekommt dir gut.“

„Findest du?“

„Ja. Du siehst ganz ... ganz anders aus.“

Abigail musste lächeln. „Das kann man wohl sagen, Vater. Zuvor sah ich ja erschreckend aus. Mr. Calhoun überredete mich, mir ein paar neue Sachen zu bestellen. Er begleitete mich auch zu der Gewandschneiderin.“

„Ach ja? Nun, jedenfalls hat sie Wunder gewirkt.“ Er gab Helena einen Kuss und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, um dort seine Abendzigarre zu rauchen.

„Ich habe Papa noch nie so glücklich gesehen“, stellte Helena fest. „Dich übrigens auch nicht. Du bist doch jetzt glücklich, nicht wahr?“

„Ein bisschen überwältigt bin ich.“ Abigail hatte Mühe, all die Gefühle zu verarbeiten, die auf ihr Herz einstürmten. „Ich vermag kaum zu glauben, dass alles so geschehen ist. Ein Teil von mir hat noch immer nicht akzeptiert, dass es wahr ist, und ein anderer Teil fürchtet, dass es sich jeden Augenblick auflösen könnte.“

Helena nahm ihre Schwester bei der Hand und ging mit ihr zur Vordertür. „Ich habe eine hervorragende Idee!“

„Und was für eine?“

„Wir müssen die ,Washington Post' von deiner Verlobung informieren!“

„Ich bin mir sicher, Vater und die Butlers werden schon dafür sorgen, dass sich das herumspricht.“

„Wo bliebe denn da der Spaß an der Sache?“ Helena zog ihre Schwester aus dem Haus. „Wir werden die Nachricht über das Telefon verbreiten!“

Abigail wollte ihr lieber nicht widersprechen, zumal sie ihr gegenüber auch einiges gutzumachen hatte; Helena war schließlich der Auslöser der ganzen Geschichte gewesen, und in Abigails Hinterkopf lebte noch immer ein kleiner Rest von Furcht, dass alles vielleicht doch nur eine Illusion sein könnte. Je mehr Leute sie informierte, desto realer würde es werden.

 

Forsch wie immer betätigte Helena den Messingtürklopfer ein- oder zweimal und trat dann sofort ein. „Hallo!“ rief sie und stieg voran die Treppe hinauf. „Wir sind es - die Cabot-Schwestern! Wir müssen eine Nachricht über das Telefon schicken!“

Professor Rowan nahm sie oben auf der Treppe in Empfang. Mit seinem zerdrückten, am Kragen offenen Hemd und der dicken Brille, die ihm schief auf der Nase saß, wirkte er noch zerstreuter als üblich.

„Hallo“, grüßte er zurück. „Wir haben Sie gar nicht erwartet.“ Sein getrübter Blick fiel auf Abigail. „Sie sehen komisch aus. Haben Sie einen anderen Haarschnitt?“

„Wunderschön schaut sie aus; das sieht doch jeder Idiot“, gab Helena zurück.

„Und was genau wollen Sie nun hier?“

Herausfordernd stemmte Helena die Hände in die Hüften. „Papa will mich mit Troy Barnes verheiraten“, teilte sie ihm mit. „Regt Sie das auf?“

Er folgte ihr in den Salon. „Sollte es das?“

„Ja!“ fauchte sie.

Er kratzte sich den Kopf. „Ich dachte, dafür sei Leutnant Butler vorgesehen.“

„Das war heute Morgen! Jetzt ist er Abigails Zukünftiger. Mein neuester Freier ist Senator Barnes. Stört Sie das?“

Rowan zuckte zusammen, und zu ihrer Befriedigung sah Helena, dass ihr Pfeil ins Schwarze getroffen hatte.

„Die Frage ist doch, ob es Sie stört“, konterte er. „Sie scheinen ganz glücklich damit, die Wahl Ihres Vaters zu akzeptieren, gleichgültig, wen er für Sie vorgesehen hat.“

Jamie Calhoun erschien, stützte die Hand gegen den Türsturz und schob die Hüfte lässig zur Seite. „Mir war, als hörte ich Stimmen“, sagte er. „Nun, wie geht es denn unseren kleinen benachbarten Pfauenküken?“

Er sah noch ungepflegter aus als der Professor. Für Abigail war dies ein Schock, denn gewöhnlich legte Jamie auf sein Erscheinungsbild ungemein viel Wert. Jetzt jedoch stand sein Hemd offen, das Halstuch fehlte, und die Manschetten waren nicht geschlossen. Er wirkte wie ein Pirat, der zu lange auf See gewesen war. Irgendwie stand ihm allerdings diese Unordnung.

„Wir haben höchst erstaunliche Neuigkeiten.“ Abigail fasste ihn bei der Hand, und sofort flammte zu ihrer Überraschung wie- der die Hitze zwischen ihnen auf. Bei ihrer Aufregung über Boyd Butler hatte sie fast vergessen, wie sehr sie immer auf Jamie Calhoun reagierte.

Dem unerwarteten Anflug von Sehnsucht folgte die Panik. Ich begehre doch Boyd Butler, mahnte sie sich. Er ist alles, was ich mir je erträumte!

Ein scharfer, rätselhafter Geruch ging von Jamie aus. Rasch ließ Abigail seine Hand los, trat zurück und blickte zwischen ihm und Professor Rowan hin und her. „Ihr seid alle beide betrunken wie die Fürsten“, stellte sie vorwurfsvoll fest.

„Da ich noch nie einen Fürsten getroffen habe, vermag ich das weder zu bestätigen noch zu leugnen“, gestand der Professor.

„Aber ich“, erklärte Jamie übertrieben selbstbewusst. „Auf meinen Auslandsreisen lernte ich eine Menge Fürsten kennen, und ich versichere Ihnen, dass die oft ziemlich betrunken sind.“

„So wie Sie?“ erkundigte sich Rowan.

Helena presste die Lippen zusammen. Abigail merkte, dass sie sich das Lachen verbiss.

„Wahrscheinlich nicht.“ Mr. Calhoun torkelte zu der mit allem möglichen Unrat übersäten Anrichte und hob eine Flasche mit farbloser Flüssigkeit hoch. „Ich glaube nämlich nicht, dass es in Europa Tequila gibt.“

„Was gibt es nicht?“ Abigail hielt sich die offene Flasche an die Nase und schnüffelte daran. Sofort tränten ihr die Augen. „Großer Gott - ist das Kerosin?“

„Nicht so voreilig, junge Frau.“ Er goss ein Schlückchen in ein Trinkglas, das er ihr dann hinhielt. „Hervorragendes Zeug! Sie sollten es einmal probieren.“

„Wir kamen her, um eine Nachricht über das Telefon zu versenden.“

„Wozu das?“

„Um die Zeitung von meinen verblüffenden Neuigkeiten ins Bild zu setzen.“

„Was für Neuigkeiten?“

„Ach Jamie!“ Begeistert drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange, und sogleich durchfuhr sie wieder ein Blitz, doch diese Reaktion schrieb sie ihrer Aufregung wegen Boyd Butler zu. „Sie hatten tatsächlich Recht!“

„So?“

„Ja. Es hat geklappt!“

„Geklappt?“

„Als der Leutnant feststellte, dass ich die Briefe verfasst habe, war er überhaupt nicht beleidigt! Dank Helena war er eher fasziniert als verärgert.“

„Ja, so wirkt sich Helena auf die Leute aus“, meinte Rowan. Er betrachtete sie erstaunt und reichte ihr ein Glas Branntwein.

Abigail vermutete, dass er unter dem Eindruck gestanden hatte, Helena würde Butler heiraten. Jetzt befürchtete er das nicht mehr, stand jedoch der neuen Herausforderung Troy Barnes gegenüber, und nun wusste er nicht, was er machen sollte. Er trank seinen Tequila mit einem Schluck aus.

Mit glänzenden Augen folgte Helena seinem Beispiel. Als er ihr noch mehr von dem Branntwein anbot, hielt sie ihr Glas rasch außer Reichweite. „Einer ist schon mehr als genug“, erklärte sie.

„Es geschah alles genau so, wie Sie es gesagt hatten“, erzählte Abigail Jamie. „Er fragte mich, ob ich ihn heiraten will. Ich sagte Ja, worauf er mit Vater redete, und nun wollen wir es in der Zeitung bekannt geben. Ist das zu glauben?“

„Glauben? Schätzchen, das habe ich doch prophezeit.“ Mit überraschender Schärfe fügte er hinzu: „Ich habe sogar darauf bestanden, als Erster die Braut zu küssen.“

Allein bei dem Wort ,Braut“ wurde ihr schon schwindelig. Doch Jamie ließ ihr keine Zeit, über diese Empfindung nachzudenken, sondern fasste sie um die Taille und gab ihr einen langen, heftigen Kuss. Sein Mund war warm und schmeckte nach der geheimnisvollen Flüssigkeit, die er getrunken hatte. Abigail war zu verblüfft, um denken zu können, bis er sie ebenso übergangslos freigab, wie er sie gepackt hatte. Benommen versuchte sie, irgendeinen Sinn in die Gefühle zu bringen, die sie jetzt durchströmten.

Ungeniert drückte Jamie ihr das Glas Tequila in die Hände. „Nun haben Sie etwas, worauf Sie trinken können. Also trinken Sie schon!“

Weder Rowan noch Helena schien Jamies unverschämtes Benehmen aufzufallen. Die beiden waren vollkommen mit sich beschäftigt.

„Nun, worauf warten Sie noch?“ drängte Jamie Abigail. „Hoch die Tassen! Prost und ein langes Leben der künftigen Braut und so weiter.“

„Und so weiter.“ Mit zitternder Hand hob sie das Glas und nahm einen kräftigen Schluck.

Sie hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Es dröhnte in ihren Ohren. Sie wollte aufschreien und machte den Mund auf, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Ohne sich zu bewegen, schien sie sich in den Himmel zu erheben - ein berauschendes, wenn auch beängstigendes Gefühl. Das ganze Zimmer schien sich zu drehen, und dann fühlte sie Jamies Hände, während er sie zu einem Sessel führte. Wenigstens das Dröhnen hatte nachgelassen, so dass sie wieder hören konnte.

„Besser?“ erkundigte er sich ruchlos lächelnd.

„Was ist das? Das sollte verboten werden.“

Rowan hielt die Flasche in die Höhe, in der noch ein Rest von der klaren Flüssigkeit verblieben war. „Tequila ist etwas Heiliges und geeignet für Könige und Götter“, erläuterte er und sprach dabei überdeutlich. „Schon in der prähispanischen Ära stellten Indianer aus dem Hochland von Jalisco, Mexico, das alkoholische Getränk aus der Agave her.“

„Mein Vetter Blue, der ein Doktor in San Francisco ist, schickt mir einige Flaschen“, fügte Jamie hinzu.

„Möchte er Sie um die Ecke bringen?“ erkundigte sich Abigail.

Helena nahm einen Schluck gleich aus der Flasche. Dann hielt sie sie ans Licht und runzelte die Stirn. „Irgendetwas kollert darin herum. Etwas Kleines, Dickes, Bräunliches.“

„Das wird wahrscheinlich der Wurm sein“, meinte Professor Rowan.

„Der Agaven-Wurm“, fügte Jamie hinzu. „Den findet man gewöhnlich nur in Mezcal-Flaschen, doch dies hier ist ein sehr hochklassiger Tequila.“

„Ein Wurm?“ Helena hielt sich die Flasche so dicht vors Gesicht, dass sie beinahe schielen musste, um den Wurm angeekelt betrachten zu können.

„Diese Sitte stammt von den Priestern der Azteken“, erläuterte Rowan. „Auf diese Weise erhält das Getränk einen wirklichen Lebensgeist.“

Jamie holte sich die Tequilaflasche zurück und füllte Abigails Glas noch einmal auf, bevor sie ihn davon abzuhalten vermochte. Zu ihrem Entsetzen rutschte dabei der Wurm in ihr Trinkglas. ,„El gusano“ wird als Aphrodisiakum gepriesen“, führte er aus. „Er muss gegessen werden, meine Liebe.“

Abigail schaute das Ding an, das da blass und geschwollen wie eine dicke Made auf dem Boden ihres Glases lag. „Wieso sollte irgendjemand so etwas essen?“

„In diesem Wurm liegt der Schlüssel.“

„Der Schlüssel wozu?“

„Zur Freiheit, zum Entzücken, zu einer neuen Welt wunderbarer Erfahrungen.“

„Das ist doch nur ein Wurm und nicht der Heilige Gral.“

„Es gibt nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob ich Recht habe“, meinte Jamie. „Sie müssen ihn kosten.“

Abigail fiel wieder ein, dass er auch derjenige gewesen war, der sie veranlasst hatte, eine rohe Auster zu verspeisen. „Niemals!“ erklärte sie und gab ihm das Glas zurück.

„Sie wissen ja nicht, was Ihnen entgeht.“ Er trank den Branntwein mitsamt Inhalt aus und gab mächtig damit an, dass er den Wurm mit übertriebenem Genuss zerkaute.

Die beiden Schwestern warfen einander einen Blick zu. Abigail schloss die Augen und atmete frische Luft durch die Nase ein; Helena suchte den nächsten Spucknapf.

„Sie wünschen also die ,Washington Post“ anzurufen.“ Professor Rowan, der den Ekel der Schwestern nicht zur Kenntnis nahm, setzte sich vor den großen Holzkasten an der Wand und machte sich daran, das Telefongerät zu betätigen. Jemand am anderen Ende stellte die Verbindung zu dem Telefon der Zeitung her. Eine schwache Stimme war zu hören.

„Ja? Hier spricht Timothy Doyle von der ,Post‘.“

„Hören Sie mich? Hier spricht Michael Rowan in Georgetown.“

„Ja, Professor, ich höre Sie klar und deutlich.“

„Gut. Ich habe Neuigkeiten, die Sie drucken können: Der Sohn des Vizepräsidenten wird Senator Cabots Tochter heiraten.“

„Was Sie nicht sagen - Boyd Butler und Helena Cabot?“ „Nein“, sagte Rowan eilig. „Boyd Butler und Miss Abigail Cabot.“

„Was denn, die Kleine, etwas Merkwürdige? Sehr komisch, Professor. Das kann ich ja wohl kaum drucken. Man würde das für einen Witz halten, und ich schreibe keine Satiren.“

Jamie legte einen Hebel um und unterbrach damit rasch die Verbindung. Abigail fühlte sich so kalt und leer wie eine verlassene

Höhle. Rowans Gesicht war blass geworden. Er murmelte irgendeine Entschuldigung und verzog sich, um nach Helena zu sehen. „Abby, es tut mir wirklich Leid“, versicherte Jamie.

Ein Witz! Der Reporter hatte vermutlich Recht. „Es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssten“, sagte sie zu Jamie. „Ich bin eine Schwindlerin, und das wird bald jeder wissen.“

Böse Gedanken gingen ihr im Kopf herum. „Ich sollte Boyd die Chance geben, einen Rückzieher zu machen. Er war heute ein wenig durcheinander, ein bisschen zu gefühlsbetont. Ich hätte seinem Antrag nicht so schnell zustimmen sollen.“ Sie stand kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Jamie nahm ihre Hände, die sich feucht und kalt anfühlten. „Schauen Sie, die Leute haben die neue Abigail Cabot doch noch gar nicht gesehen. Und wenn sie Sie erst einmal zu Gesicht bekommen haben, werden leichtfertige Reporter ihre eigenen Worte essen wie die Agaven-Würmer.“

Abigail blickte ihn an, sah dieses verteufelt schöne Gesicht und diese fröhlichen Augen. Er war sich seiner so sicher; er war sich ihrer so sicher. Zuvor war sich noch nie jemand ihrer sicher gewesen. Jamie glaubte an sie auf eine Weise wie noch niemand zuvor in ihrem Leben. Er machte den Eindruck, als läge ihm wirklich etwas an ihr. Doch das wusste sie natürlich besser.

„Ich werde Zusehen, dass mein Vater Ihre Rolle bei dieser Sache versteht. Schließlich muss ich Ehre erweisen, wem Ehre gebührt.“

„Abby..."

„Ich will auf keinen Fall, dass Sie mich für undankbar halten. Das bin ich nämlich wirklich nicht.“ Sie erhob sich ein wenig schwankend, was an den Nachwirkungen des Tequilas lag.

„Fein.“ Jamie nickte. „Die dumme Bemerkung, die Sie eben am Telefon gehört haben, ist nur der Anfang. Sie werden sehr stark sein müssen.“

„Das kann ich.“

„Die Gesellschaft kann in ihrem Urteil sehr hart sein, Abby.“ „Das ist die Einsamkeit ebenfalls“, erwiderte sie leise.