17. KAPITEL

Abigail benötigte dringend frische Luft. Sie wollte das Haus durch den Hinterausgang verlassen, wobei sie durch Vorarats- und Speisekammer sowie durch Räume gelangte, in denen es nach Melasse und getrockneten Kräutern roch. Der Küchenjunge zeigte ihr schließlich die Tür, durch die man auf eine geschützte Veranda kam. Dahinter befand sich ein Küchengarten, in dem einiges Grünzeug standhaft der Kälte des Herbstwetters trotzte.

Sie folgte einem Pfad, der hügelabwärts durch einen rosenumrankten Durchgang führte, und gelangte in einen Garten mit üppigen, gepflegten Rasenflächen, auf denen Herbstlaub lag. Spalierobstbäume fassten den Rasen ein.

Abigail hatte zwar die Feuerprobe mit den Austern überlebt, doch in einer wichtigeren Angelegenheit kamen ihr nun Zweifel. Was als ein harmloser, eher spielerischer Briefflirt begonnen hatte, war jetzt außer Kontrolle geraten. Ihr Schriftwechsel mit Leutnant Butler war so zu einer Romanze der Täuschung eskaliert.

Ihre Aufrichtigkeit hatte Abigail stets mit Stolz erfüllt, doch nun übte sie Tag für Tag Betrug aus. Für eine Person, die nie gut hatte lügen können, lernte sie das recht schnell von ihrem Lehrmeister Jamie Calhoun.

Er gab vor, ein Mensch mit schlichten Bedürfnissen zu sein, der ausschließlich den Wunsch hegte, seinem Land zu dienen, doch sie erkannte, dass er eine verborgene Vielschichtigkeit aufwies, die sie sich nur schwer auszumalen vermochte. Und weshalb sollte sie auch? Er bedeutete ihr doch nichts, war nur ein Mittel zum Zweck, jemand, der ihr die verwirrenden Rituale des Werbens nahe brachte, wie es auch ein Lexikon oder ein Orakel gekonnt hätte. Vermutlich würde es ihm sogar Spaß machen, als ein Orakel betrachtet zu werden.

Am Ende des Gartens, kurz vor der windzerzausten Küstenlinie, entdeckte sie einen niedrigen, schmiedeeisernen Zaun, der die rechteckige Begrenzung um einen kleinen Friedhof bildete.

Trockene gelbe Gräser schwankten im kalten Seewind, Dornenbüsche wucherten den Zaun entlang, und rote Hagebutten leuchteten durch das vertrocknende Blattwerk. Die meisten der Grabsteine trugen keine Verzierung, wenn man von einem Kreuz oder einem kurzen, in den Stein gemeißelten Vers absah.

Von Neugier getrieben betrat sie das eingezäunte Areal und wanderte zwischen den düsteren Gedenksteinen umher, die die salzige Luft angefressen und befleckt hatte. In die Grabsteine eingemeißelt waren über die Jahre hinweg die Namen der Calhouns; die älteste Inschrift datierte Bristol, England, 1684 und stand auf dem Grabmal eines Samuel Calhoun. „Er fuhr sieben Jahre lang als Kapitän zur See und zeugte sieben Söhne und sieben Töchter ..." Kein Wunder, dass der Friedhof so groß war.

Abigail fürchtete sich ein wenig davor, sich die frischer aussehenden Gräber anzuschauen, denn sie wollte sich Albion nicht als eine Stätte der Tragödien vorstellen. Ich bin töricht, schalt sie sich sofort. Menschen sterben nun einmal; das gehört eben zum Wunder des Lebens.

Unwillkürlich blickte sie zum Himmel empor, doch für die Sterne war es noch zu früh. Mrs. Calhoun hatte ihr gesagt, auf Albion würde das Abendessen früh aufgetragen, damit man sich anschließend bis spät in die Nacht hinein unterhalten konnte.

„Ist alles in Ordnung, Miss?“

Abigail fuhr herum und musste sich am Eisenzaun festhalten, um nicht umzufallen. „Oh, Julius! Du hast mich vielleicht erschreckt!“

Ohne sich zu entschuldigen, kam der Junge durch die eiserne Pforte in den Friedhof.

„Das Reiten hat mir sehr viel Spaß gemacht, und ich schulde dir großen Dank dafür. Du bist ein ausgezeichneter Lehrer für eine blutige Anfängerin, Julius.“

Mit seinem verschämten Lächeln wirkte der Bursche noch liebenswürdiger. „Freut mich, das zu hören, Ma’am.“

Abigail wandte sich zu den Reihen der Grabmäler. „Ich nehme an, du findest es recht seltsam, dass ich hier zwischen den Gedenksteinen umherwandere.“

Julius hakte die Daumen in seine Hosentaschen. „Schon.“ Er schlenderte zu einem der weniger alten Gräber. „Lady Beaumont Calhoun“, sagte er und nahm ein Bund violetter Astern auf. „Sie bekommt jeden Sonntag frische Blumen, sogar im Winter.“

„Geliebte Mutter, hoch geschätzte Gattin ..." Abigail las, dass die Frau 1852 im Alter von sechsundzwanzig Jahren gestorben war, und dennoch wirkte ihr Grab noch nach so vielen Jahren wie ein Heiligtum.

„Es muss jemanden geben, dem sie sehr fehlt“, meinte sie. „Schätze, ja.“

Abigail spürte, dass mehr dahinter steckte, und fragte: „Wer könnte das wohl sein? Weißt du das, Julius?“

„Ein paar von den Alten tuscheln darüber. Man sagt, mein Großvater pflegt das Grab, weil er sie liebte, sie aber nicht haben durfte. Weil sie nämlich mit seinem Vetter verheiratet war.“

Für Abigail deutete das auf eine Tragödie hin, und sie erinnerte sich an eine Oper von Richard Wagner, die sie im vergangenen Sommer im Ford’s Theater gesehen hatte; unerwiderte Liebe, wahnsinniges Begehren, junges Sterben - das alles hatte sich in der Familie Calhoun abgespielt.

Möglicherweise lag hierin ja der Grund dafür, weshalb Jamie vor emotionalen Bindungen zurückschreckte, der Liebe nur mit Zynismus begegnete und Albion gegenüber so gleichgültig war. „Und wer ist dein Großvater?“ fragte sie verwirrt.

„Mr. Charles Calhoun“, antwortete Julius ganz sachlich.

Verblüfft sah Abigail ihn an. Charles Calhoun - Jamies Vater - war der Großvater dieses Jungen!

Julius ging weiter zu dem neuesten der Grabmäler, einem flachen Feldstein mit einer blanken Messingplatte zwischen den heruntergefallenen Blättern.

„Und der hier ist für meinen Daddy“, flüstert der Junge, hockte sich nieder und entfernte das Laub von dem Grab. „Jedenfalls sollte er hier liegen, doch das tut er nicht. Der Grabstein soll nur an ihn erinnern.“ Julius zog ein kleines handgeschnitztes Rennpferd aus der Hosentasche und stellte es auf den Stein. „Hallo, Daddy.“

Mit Tränen in den Augen las Abigail die Inschrift auf der Messingplatte: „Noah Calhoun, Sohn des Charles Calhoun. Reitchampion, geliebter Ehemann und Vater.“

Julius ist also Jamies Neffe, erkannte sie plötzlich. „Dein Vater muss dir sehr fehlen“, murmelte sie, und der Junge nickte.

„Heute lernte ich deine Mutter kennen“, erzählte sie ihm. „Dein Onkel Jamie nahm mich mit zu dem Haus am King’s Creek.“

„Sobald ich sechzehn bin, werde ich selbst auf diesem Land arbeiten.“

Abigail sah mit einem Mal die Zukunft vor sich: Das Tiefland um den King’s Creek würde verschwinden, falls die Vorlage zur Erweiterung der Eisenbahn durchkäme; die Menschen hier würden von ihrem Land vertrieben werden ...

„Mein Daddy war dabei, eine eigene Pferdezucht zu gründen“, erzählte der Junge weiter. „Das wäre bestimmt die beste des ganzen Staates geworden. Mama schickte mich nach Albion, weil..." Verstohlen warf er Abigail einen Blick zu. „Auf jeden Fall sorgt man auf Albion sehr gut für mich.“

Man sorgt für ihn! dachte sie wütend. Als wäre er ein Stück Eigentum, wie es seine Vorfahren zweifellos auch gewesen waren.

„Was geschah mit deinem Vater, Julius?“ erkundigte sich Abigail.

„Er reiste nach Übersee, um dort Pferde anzukaufen. Er und Onkel Jamie kauften Pferde in Irland, Spanien, Marokko, Tunesien.“ Julius’ Augen strahlten. „Sie schickten uns immer die großartigsten Geschenke - einen Seidenschal für meine Mama, einen Satz Messingglöckchen für mich. Daddy versprach mir, eines Tages würde ich ihn begleiten dürfen, doch von der letzten Reise kam Onkel Jamie allein zurück. Da war er ganz abgemagert, hatte einen scheußlichen Bart und roch so komisch. Meiner Mama erzählte er, Daddy sei am anderen Ende der Welt gestorben. Er war ein wirklich feiner Kerl, mein Daddy, und ich vermisse ihn ganz fürchterlich.“

Ein starker, nach Marschland riechender Wind blies von Osten her. Abigail sah einen Schwarm Sandpfeifer nach Osten fliegen. In ihren Gedanken war sie jedoch bei dem Jungen, dessen Vater vergessen in einem unbekannten Land begraben lag.

Wenigstens verstand sie nun Jamie Calhoun. Es hieß immer, er habe sich nur in den Kongress wählen lassen, weil er sich langweilte und weil die Männer seines Standes eben auf diese Weise zeigten, dass sie ihre Bürgerpflichten erfüllten.

Jetzt wusste Abigail es besser.