6. KAPITEL

P

rofessor Michael Rowans Gesicht wurde vor Anstrengung rot, während er ein Ende des Schiffskoffers hochhob. „Was haben Sie denn da drinnen, Calhoun? In Stein gemeißelte Gesetzesvorlagen?“

Jamie hielt das andere Ende des großen Koffers hoch und trat rückwärts gehend in sein Zimmer. Er stützte den Koffer an seiner Brust ab und stellte ihn dann hochkant gegen die Wand. „Nur den üblichen Krimskrams“, beantwortete er die Frage seines Hauswirts. „Man sagte mir, ich solle mich in diesem Herbst auf eine längere Sitzungsperiode einrichten, und darauf habe ich mich eben vorbereitet.“ Er öffnete die Schlösser des Schiffskoffers oben und an der Seite und klappte die beiden Hälften auseinander. Ein Bücherstapel fiel ihm vor die Füße. „Ich musste in Eile packen.“

„Sie sind ein Gentleman aus dem Süden, ein Calhoun.“ Rowan zog einen reifen Apfel aus seiner Hosentasche, biss kräftig davon ab und sprach mit vollem Mund weiter. „Sollten Sie da nicht eigentlich Diener für so etwas haben?“

Die leicht missbilligende Tonlage des Professors behagte Jamie nicht. „Oh, natürlich“, meinte er. „Doch heute habe ich meine Schwarzen so hart geprügelt, dass sie nicht mehr arbeiten konnten.“

Rowan hörte zu kauen auf und lächelte verlegen. „Ich vermute, Sie sind es langsam leid, immer als der faule, privilegierte Sohn eines Plantagenbesitzers angesehen zu werden, der nichts Besseres zu tun hat, als auf der Veranda zu sitzen, Eisgetränke zu schlürfen und reich zu werden.“

„Lieber Freund, wäre ich ein fauler, privilegierter Sohn eines Plantagenbesitzers, weshalb hätte ich dann in die Hauptstadt kommen und mit einem verschrobenen, voreingenommenen Nordstaatler zusammenziehen sollen, der seine Jacke verkehrt herum trägt und meint, ein südlicher Akzent stehe für eine niedere Lebensform?“

Rowan machte ein ratloses Gesicht, blickte dann an seiner Jacke hinunter, legte den Apfelgriebs zur Seite, nahm die drahtgerahmte Brille vom Kopf und betrachtete die Nähte. Er wendete die Jacke, griff in eine der Taschen und zog eine goldene Uhr an einer Kette heraus. „Nach der habe ich schon überall gesucht“, erläuterte er und lachte kurz. „Lieber Himmel, ist es wirklich schon nach drei Uhr? Und ich habe noch nichts gegessen.“

Jamie verzichtete darauf, ihn an den Apfel zu erinnern.

Der Professor legte die Uhr aus der Hand. „Ich bitte ehrlich um Entschuldigung, Calhoun.“

„Entschuldigung angenommen.“

„Gut. Ich bin eigentlich ein toleranter Mensch“, erklärte Rowan. „Und ich habe selbst so ein paar Eigenheiten.“

Jamie dachte an das unaufgeräumte Haus, an die nicht zu identifizierenden Erfindungen, welche jeden Fußboden und jeden Tisch bedeckten, an die Speisekammer mit der Eiskiste voller Experimente und die Toilette mit den zahlreichen Glasröhrchen und -bechern. Er hatte sogar eine fette weiße Maus entdeckt, die in einem Schauglas auf der Kamineinfassung lebte. „Das habe ich bemerkt“, bestätigte er.

„Das ist der Türklopfer“, stellte Rowan fest, als er das entsprechende Geräusch vernahm. „Ich sehe eben nach, wer gekommen ist.“ Als er hinausging, ließ er einen Wäschezettel fallen, der das Datum von vor zwei Jahren trug. Zusammen mit dem Apfelgriebs warf Jamie ihn in den Abfalleimer und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. Zu seinen Eigenheiten gehörten beispielsweise Reinlichkeit und Ordnung, doch damit würde er sich auf sein eigenes Zimmer beschränken und im Übrigen einfach die Augen schließen müssen.

Als er Stimmen im Salon unten hörte, ging er auf den Flur und schaute übers Geländer hinab, um festzustellen, wer geklopft hatte. Abigail Cabot war die Besucherin.

Sie trug noch dasselbe schlichte braune Kittelkleid wie heute Morgen, war ansonsten jedoch wie verwandelt. Als sie und ihre Schwester ihn mit Rowan bekannt gemacht hatten, war sie heiter, beinahe übermütig gewesen, und als der Brief von Leutnant Butler eintraf, hatte sie gestrahlt wie die helle Sonne am Mittag. Jetzt hingegen sah sie aus wie ein verschrecktes Vögelchen, und als sie dem Professor irgendetwas zuflüsterte, ging ihr Blick verstohlen hin und her. Jamie überlegte, was das bedeuten könnte.

„Hallo, Miss Abigail“, rief er, setzte sein bestes Lächeln auf und stieg die Treppe zu ihr hinunter. „Ich bin gerade beim Auspacken.“ Sie warf ihm einen Blick zu, versuchte jedoch, sich den Kummer, der sich in ihren beeindruckenden Augen spiegelte, nicht anmerken zu lassen. „Wie schön, Mr. Calhoun. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen.“

„Kommen Sie. Helfen Sie mir beim Auspacken.“

„Ich werde nicht...“

„Gewiss werden Sie.“ Ohne auf Schicklichkeit zu achten, fasste er ihre Hand und zog Abigail die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Sie sträubte sich und stolperte ein wenig auf den Stufen, doch er ging etwas langsamer und zog sie mit sich. „Rowan war zwar sehr hilfreich, doch ich vertraue seinem Organisationstalent nicht recht.“

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. „Sie haben ja nicht lange gebraucht, um das festzustellen.“ Sie bückte sich, hob einen Stapel Bücher auf und trug sie zu den an der Wand befindlichen Regalen. Während sie die Bücher einräumte, ordnete sie sie nach Themen und Autoren. Plötzlich hielt sie inne. „Platos Politeia! Schon seit Jahren habe ich davon keine Ausgabe mehr gesehen.“

„Die meisten Leute, die ich kenne, haben davon überhaupt noch keine gesehen.“

„Die Schriften des Epiktet, Maß für Maß, der Heilige Thomas von Aquin, Rousseau, Francis Bacons ,Novum Organum“ Sie sortierte weitere Bücher ein und las dabei die Titel mit einer derartigen Verblüffung, dass Jamie es schon fast als beleidigend empfand.

„Weshalb sind Sie so überrascht? Ist es so erstaunlich, dass jemand aus den Niederungen der Chesapeake Bay lesen kann?“

„Nicht dass er es kann, sondern dass er es auch tut“, berichtigte sie. „Entschuldigen Sie meine Offenheit, doch die meisten der Abgeordneten aus der Plantagengesellschaft, die mir begegnet sind, haben sich nie die Mühe gemacht, sich eingehend mit den Gesetzesvorlagen zu beschäftigen.“

„Nein?“

„Sie waren mehr daran interessiert, Gesetze auf den Weg zu bringen, welche es ihnen ermöglichten, so weiterzumachen, als hätten die Südstaaten niemals den Krieg verloren.“

Jamies Beweggrund, in den Kongress zu gehen, war ein völlig anderer, doch er musste aufpassen, dass er sich nicht verriet. „Sagen Sie mir, vertritt jeder in der Hauptstadt Ihre Meinung? Auch Ihr Vater?“

Mit steigender Erregung nahm sie ihre Arbeit wieder auf. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen - mein Vater und ich teilen nur wenige politische Ansichten. Ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen um seine Unterstützung für die Chesapeake-Eisenbahn geht, richtig?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Solange ich lebe, ist mein Vater Senator. Ich verstehe auch ein, zwei Dinge von der Politik. Den Kongressabgeordneten aus den Südstaaten geht es um verbesserte und erweiterte Eisenbahnstrecken, welche größeres Wachstum versprechen. Und wie bequem es doch wäre, wenn die Regierung das bezahlen müsste statt der Eisenbahngesellschaften, der Landeigentümer und jener, die diesen Dienst nutzen!“

„Miss Cabot, ich kam nicht her, weil ich es bequem haben wollte.“ Jamie setzte seine eigene Arbeit fort, indem er Papiere und Korrespondenzen auf dem Schreibtisch in der Ecke ordnete. In die Politik zu gehen, das ist keine gute Idee, dachte er. Doch für Reue war es jetzt zu spät. Für ihn war es lächerlich einfach gewesen, gewählt zu werden. Er war ein Calhoun, und seit der Ratifizierung der Verfassung hatte stets ein Calhoun dem Kongress angehört. Wenn allerdings seine Abgeordnetenkollegen ihn so betrachten würden, wie es die allwissende Miss Cabot gerade tat, dann standen ihm mehr Schwierigkeiten bevor, als er angenommen hatte.

„Weshalb kamen Sie denn dann her?“ wollte sie wissen.

Um etwas gutzumachen, dachte er; um etwas in Ordnung zu bringen, dass sich nicht mehr in Ordnung bringen ließ. Er blickte Miss Cabot an, die noch auf eine Antwort wartete.

„Um meinen Distrikt zu repräsentieren“, behauptete er.

Sie lachte laut auf. „Falls Ihr Distrikt aus reichen, weißen männlichen Landeignern besteht, will ich das gern glauben. Oh, der Koran!“ sagte sie und bewunderte den ledergebundenen, schweren Band. Es schien, als hätte sie alles andere vergessen. „Einige der begnadetsten Astronomen der Geschichte waren Muslime. Und was ist dies hier?“

Jamie schwieg und beobachtete nur, wie sie das große illustrierte Buch aufschlug. Ihre Wangen röteten sich, und für einen winzigen Moment blitzte die pure Faszination in ihren Augen auf. Dann schlug sie den Band zu und stellte ihn in das Regal.

„Das ist das Kamasutra des Watsjajana“, erläuterte Jamie. Ihre Reaktion entzückte ihn. „Ein Hindu-Text aus dem vierten Jahrhundert. Kamasutra ist sanskrit und bedeutet ,Leitfaden der Liebe'.“ Er zog das Buch wieder aus dem Regal und blätterte es durch. Wie wäre es wohl, überlegte er, Abigail Cabot die Freuden zu zeigen, welche in den Holzschnittillustrationen dargestellt werden? Ihre Oberschenkel auseinander zu drücken, sie zu streicheln und dabei zu sehen, wie ihre Mitternachtsaugen sich in der Ekstase verschleierten ...?

Er lächelte über seine eigene Fantasie, stellte das Buch zurück und holte ein anderes heraus. „Ich besitze ebenfalls den ,Garten der Düfte“, eine Anleitung der arabischen Erotologie. Ich leihe es Ihnen gern einmal aus, Miss Cabot.“

„Sie sind abscheulich.“

„Und Sie wären keine Wissenschaftlerin, wenn Sie einen klassischen Text...“

„Ich sagte, Sie seien abscheulich, nicht der Text.“

„Sagen Sie mir, sind Sie immer so charmant zu Ihren Nachbarn?“

„Ich bin zu niemandem charmant.“ Sie nahm ihre Arbeit wieder auf. „Doch das werden Sie wohl bereits bemerkt haben.“ Eines der schweren Bücher fiel ihr aus der Hand, und als es auf ihrem rechten Fuß landete, schrie sie leise auf.

Jamie beeilte sich, es wieder aufzuheben. „Ist Ihnen etwas passiert? Ist der Fuß ...?“

„Es ist nichts geschehen!“ stieß sie mit solcher Heftigkeit hervor, dass er erstaunt zu ihr hochblickte. Das Blut war ihr in die Wangen geschossen, und sie senkte den Kopf.

Jamie verspürte den dringenden Wunsch, sie zu berühren; vorsichtig strich er ihr über den Arm. Sie war standhaft und robust, doch seltsam verletzlich. „Sie dürfen mich nicht so vertraulich behandeln. Das schickt sich nicht.“

„Ich richte mich selten nach Schicklichkeiten.“ Er stellte fest, dass ihre Lippen verlockend waren, solange sie diese nicht missbilligend schürzte.

Wahrscheinlich hatte sie seine Gedanken erraten, denn sie wich zurück und zeigte nun großes Interesse an dem Buch. „Dies ist in Altgriechisch", bemerkte sie in dem offensichtlichen Versuch, seine Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

„Ach, deshalb diese lustigen Zeichen?“ Jamie gab vor, verblüfft zu sein. „Und ich hielt es für einen algebraischen Text.“

Das Rot auf ihren Wangen wurde noch intensiver. „Ich habe mich unentschuldbar scheußlich verhalten, nicht?“

„Scheußlich ja, aber nicht unentschuldbar.“

„Ich verdiene Ihre Verachtung.“

„Sie verdienen eine Tracht Prügel.“ Er lachte über ihre entsetzte Miene. „Und ich würde mich freuen, diese Strafe ausführen zu dürfen. Andererseits ordnen Sie meine Bücher so gut, dass ich Ihnen Strafaufschub gewähren will. Und versuchen Sie doch, von weiteren Bemerkungen über meinen armseligen, umnachteten Intellekt Abstand zu nehmen.“

Eine vergilbte Karte rutschte aus den Seiten von Xenophons „Über die Reitkunst“ heraus. Abigail nahm sie von der Tischplatte auf und schaute sie an. „Eine Fotografie“, stellte sie fest. „Gehört sie Ihnen?“

Er nahm sie ihr aus der Hand und fühlte sofort, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Es widerstrebte ihm, vor dieser Frau einen Teil seines privaten Lebens zu offenbaren. „Ja“, antwortete er knapp.

„Wer ist das?“ Sie beugte sich zu ihm und betrachtete das kleine Bild. Das Porträt zeigte einen überraschend hellhäutigen Neger afrikanischer Abstammung in mittleren Jahren. Er war klein von Statur und sah gelassen und ruhig aus. Er trug die Seidenbluse und -kappe eines Berufsjockeys, und in seinen schlanken Händen hielt er einen Siegerpokal.

„Der beste Vollblutjockey des Landes. Das Bild wurde in Sara- toga Springs aufgenommen.“ Mit bitter-süßem Stolz stellte er das Foto in Augenhöhe auf das Regal. „Er heißt - hieß - Noah Cal- houn. Er war mein Halbbruder.“

Jamie war froh, dass sie nicht sofort nach ihrem Riechfläschchen griff, sondern ihn verständnisvoll anblickte. Er war überrascht, aber auch ein wenig erfreut darüber. „Verstehe. Was geschah mit ihm, Mr. Calhoun?“

Wie viel sollte er ihr erzählen? Dass er von Noah, der siebzehn Jahre älter war als er, aufgezogen wurde? Er war ihm mehr ein Vater gewesen als sein eigener. Und Noah war der Grund dafür, dass er, Jamie, in den öffentlichen Dienst getreten war.

Er und Noah hatten eine Abenteuerreise in den Nahen Osten unternommen, um die Welt zu sehen und um Pferde für Albions Zuchtprogramm anzukaufen. Oh, wie er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen. Dann hätte er Noah bei dessen Ehefrau Patsy auf ihrer Farm am King’s Creek zurückgelassen. Doch Jamie hatte ja darauf bestanden, ihn mitzunehmen. Was Noah auf dieser Reise geschah, die unter einem bösen Stern stand, würde Jamie für den Rest seines Lebens verfolgen.

„Er starb in Übersee“, antwortete er, weil er es nicht näher ausführen mochte; er wollte die schmerzlichen Vorgänge nicht mit jemandem teilen, schon gar nicht mit dieser eigenartigen kleinen Frau, deren prüfende Augen schon viel zu viel von ihm gesehen zu haben schienen.

„Das tut mir furchtbar Leid. Er muss Ihnen sehr fehlen.“

„Das stimmt.“ Er wollte das Thema wechseln. „Wenden wir uns Angenehmerem zu. Was hatte Ihnen Ihr Leutnant zu sagen?“ Sie ließ den Kopf hängen, und er merkte, dass diese Angelegenheit wohl doch nicht so angenehm für sie war. „Er möchte einen Briefwechsel aufnehmen.“

„Das ist es doch, was Sie ...“

„Mit meiner Schwester.“ Sie richtete die Bücher auf dem Regal mit äußerster Präzision aus. „Wie ich Ihnen bereits gestern Abend sagte, überrascht mich das nicht, nur ...“

„Was bereitet Ihnen denn Sorgen?“

„Sie bat mich, die Antwort für sie aufzusetzen. Meine Schwester schreibt nicht so gern.“

Nun war ihm alles klar. Er verstand, weshalb sie so verärgert und geistesabwesend war. Möglicherweise grollte sie ihrer Schwester ja auch ein wenig. „Ich wette, darin sind Sie ganz großartig.“

Abigail zuckte die Schultern. „Es wäre nicht das erste Mal, dass ich etwas für sie schreibe.“

„Sie könnten es doch ablehnen.“

„Ja, schon ...“ Sie biss sich auf die Lippe.

„Also, weshalb lehnen Sie es nicht einfach ab?“

„Ich will nicht, dass die Gefühle des Leutnants verletzt werden. Er ist ein anständiger, aufrechter Mensch.“

Jamie widerstand dem Drang, sie anzufahren und ihr zu sagen, sie solle aufhören, einen Dummkopf zu vergöttern, der Schönheit über Substanz stellte. Doch er entschied sich für Geduld. Einen potenziellen Verbündeten musste er ihr nicht noch abspenstig machen. „Ich finde nichts Schlimmes daran, wenn Sie sich um die Korrespondenz Ihrer Schwester kümmern. Sie sollten nur die Risiken kennen, die Sie damit eingehen.“

„Was für Risiken?“

„Verbitterung und Schmerz, um nur zwei zu nennen.“ Jamie lächelte bei diesen Worten, doch seiner Stimme war eine gewisse Strenge anzuhören.

„Das weiß ich.“ Trotzdem schien sie ein wenig verunsichert. „Die Risiken sind mir klar. Ich weiß, dass man niemanden zwingen kann, jemand anders zu lieben. Und glauben Sie mir, Mr. Calhoun, ich bin mir meiner Grenzen durchaus bewusst.“

Am liebsten hätte er ihr auf die Schulter geklopft. „Gehen Sie doch hinunter ins Studierzimmer, und arbeiten Sie an dem Brief. Ich mache inzwischen hier oben weiter.“

„Nun gut. Ohnehin versprach ich Professor Rowan, einige Berechnungen für ihn durchzuführen.“ Sie schaute noch einmal auf die perfekt ausgerichteten Bücher, wobei ihr Blick kurz an dem exotischen „Kamasutra“ und dem „Garten der Düfte“ hängen blieb. Aufs Neue errötete sie.

Jamie konnte nicht widerstehen, sie ein wenig aufzuziehen. Sanft strich er über ihren Hals. „Wahrhaftigkeit und Liebe widersprechen einander nicht, wissen Sie. Manchmal führt sogar das eine zum anderen.“

Sie schlug seine Hand fort. „Ich habe zu arbeiten.“

Als sie den Raum verließ, lachte er lauthals. Er hatte nicht erwartet, sich während seines Aufenthaltes in der Hauptstadt so hervorragend zu amüsieren, und nur der Gedanke an Noah hielt seinen Blick auf das Ziel gerichtet. Jamie beabsichtigte, ein Gesetz einzubringen, welches Noahs Erbe schützte, und dafür zu sorgen, dass seine Vorlage durchkam, ehe er wieder zu seinem unbeschwerten Leben zurückkehrte.

Allerdings stellten Franklin Cabots Töchter eine überraschende Ablenkung dar. Helena war so liebreizend wie eine Sommerblume, interessierte ihn indes nicht halb so viel wie ihre Schwester. Stachelig, übellaunig und geradeheraus, wie sie war, würde sie niemals eine Ballkönigin werden. Dennoch vereinigte sie in sich die aufregendste Kombination aus Idealismus und Reizbarkeit, die ihm je begegnet war.

Jamie packte seinen Rasierkasten, die Toilettenartikel, seine Uhr und einige weitere persönliche Dinge aus, merkte jedoch, dass er in Gedanken bei Abigail war, die jetzt unten in Rowans Studierzimmer saß und vermutlich weit Interessanteres tat, als Hemdkragen einzusortieren.

 

Der Arbeitsplatz des Professors umfasste den Salon sowie den größten Teil des im Erdgeschoss befindlichen Esszimmers. Bücher, Magazine und Manuskripte lagen auf jeder verfügbaren Oberfläche herum und stapelten sich in den bis an die Decke reichenden Regalen. Wie im ganzen übrigen Haus standen auch hier Geräte und

Maschinen aller Art herum: mechanische Vergrößerungsapparate, eine „Royal“-Schreibmaschine und ein paar seltsame Erfindungen, die Jamie nicht zu deuten vermochte. Er vermutete, dass einige dieser Erfindungen nur in der Theorie funktionierten. Alles in allem wirkte der Arbeitsraum des Professors wie ein großes, unaufgeräumtes Kinderzimmer voller Spielzeug, das einen wissbegierigen Geist zu amüsieren vermochte.

Mit einem verzierten Füllfederhalter in der Hand saß Abigail an dem unordentlichen Schreibtisch und sah völlig verzweifelt aus. Da sie Jamie nicht kommen hörte, konnte er sie ungeniert für einen Augenblick beobachten. Auf einmal war sie für ihn nicht nur ein netter Zeitvertreib und ein notwendiges Bindeglied zu einem mächtigen Senator, sondern eine Frau mit Gefühlen, Geheimnissen und Träumen.

Zwar gingen ihn diese Geheimnisse und Träume nichts an, doch er wurde mit jeder Sekunde neugieriger auf sie. Alles an ihr interessierte ihn, von dem nachlässig geschlungenen Haarknoten bis zum Saum ihres unmodischen braunen Kleides. Ihm schien, als beobachtete er ein eifriges Vögelchen beim Nestbau, das um jedes Zweiglein und jedes Fädchen ungeheuer viel Aufhebens machte. Er wünschte, ein Teil ihrer Welt zu sein - nicht, weil ihm diese Welt so einladend erschien, sondern weil diese Frau seinetwegen so außer Fassung geraten war.

Um sie auf sich aufmerksam zu machen, stieg er geräuschvoll die letzten Stufen hinunter und trat dann in den Arbeitsraum. Sie hob den Blick von ihrer Schreibarbeit. „Plagen Sie sich immer noch ab?“ fragte er.

Sie legte die Hand über die Briefseite. „Ich wusste nicht, dass ich einen Termin einhalten muss.“

„Das müssen Sie auch nicht. Ich langweilte mich nur beim Auspacken, und deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht mit mir einen Spaziergang machen möchten.“

„Nein, danke.“ Ihre Antwort kam ebenso schnell und entschieden wie ihr Federstrich auf dem Briefpapier.

„Bin ich Ihnen wirklich so zuwider?“ Er setzte ein gekränktes Gesicht auf und drehte sich zu dem verzierten Tisch beim Fenster um. In der Glasscheibe beobachtete er ihr Spiegelbild und sah zu seinem Erstaunen, wie sie ein paar Seiten unter die Löschmatte auf dem Schreibtisch schob. Das sind wahrscheinlich geheime Aufzeichnungen über Rowans Erfindungen, dachte er. Na und? Sollte sie doch ihre Geheimnisse haben. Er hatte schließlich auch welche, und außerdem musste er sich ihren Vater zum Verbündeten machen.

„Wohin ist der Professor gegangen?“ erkundigte er sich, ohne sich umzudrehen.

„Ins Labor, um an seiner Bogenlampe zu arbeiten.“

Jamie tat, als verstünde er, nickte klug und gab ihr dabei die Möglichkeit, die Löschunterlage wieder an ihre Stelle zu legen. „Ich bat Sie übrigens nur um einen Spaziergang, und nicht um eine Fahrt in der geschlossenen Kutsche.“ Solche Kutschfahrten zogen in der Stadt endlose Skandale nach sich. Der gute Ruf so mancher jungen Dame war auf diese Weise schon beschmutzt worden.

„Ich gehe nicht gern spazieren“, erklärte sie. „Und ich schätze auch keine Gesellschaft.“

„Warum nicht?“

„Ich habe nicht viel zu sagen.“

Jamie dachte an die Briefseiten unter der Löschmatte. Er erwähnte sie jedoch nicht, sondern ging zu Abigail hinüber, wobei er ein Lächeln aufsetzte, das bei den meisten Frauen Wunder wirkte. „Dann brauchen Sie auch kein einziges Wort zu äußern. Ich werde das Reden übernehmen.“

Sie blickte ihn nur erstaunt an; offenbar hatte sein Lächeln bei ihr keine Wirkung gezeigt. „Na großartig.“

Erneut streichelte er ihre Wange und ließ seine Hand dann zu ihrem Nacken gleiten. „Ich kann ungemein unterhaltsam sein, wenn Sie mir nur eine Chance gäben.“

Wie erwartet, zog sie ihren Kopf fort. „Und weshalb sollte ich das tun? Weshalb sollte ich Ihnen eine Chance geben?“

Er setzte sich auf die Schreibtischecke und wusste, dass seine Nähe Abigail außer Fassung bringen würde. „Weil Sie noch nie jemanden kennen gelernt haben, der die ägyptischen Pyramiden gesehen hat.“

„Ach, und das haben Sie?“ Sie schob ihren Stuhl zurück, um mehr Abstand zwischen sich und diesen Mann zu bringen.

Doch Jamie rückte ein kleines Stück näher an sie heran. „Und das Tadsch Mahal ebenfalls.“ Er rutschte noch ein wenig näher. „Ebenso den Vatikan und Versailles.“

Sie hob die Augenbrauen. „Den Vatikan habe ich schon immer einmal besuchen...“

Eine Tür fiel im unteren Flur ins Schloss. „Hallo?“ Das war Helenas Stimme.

„... wollen“, beendete Abigail ihren Satz. Sie sprang auf und stolperte ein wenig.

Jamie fluchte leise; er war so nahe daran gewesen, ihre Fassade zu durchbrechen!

Abigail warf ihm einen raschen Blick zu. „Helena würde von einem Spaziergang mit Ihnen vermutlich begeistert sein.“

Er steckte sich den Daumen in den Hosenbund. „Ihre Schwester habe ich nicht eingeladen.“

Versonnen blickte Abigail zu seiner Hand, merkte dann, wohin sie schaute, und wandte schnell die Augen ab. „Sie sollten es aber tun.“

„Weshalb?“

Entnervt seufzte sie. „Weil es eine seltene Gelegenheit ist. Jedermann begehrt sie.“

„Begehrt mich - aus welchem Grund?“ Strahlend trat Helena in den Raum. Sie schlenderte zur Kamineinfassung, holte eine Hand voll Kürbiskerne aus ihrer Schürzentasche und verfütterte sie an die Maus.

„Mr. Calhoun möchte spazieren gehen, und ich sagte ihm, er solle dich bitten mitzukommen.“

„Ich würde ihn sehr gern begleiten, nicht wahr, Mr. Sokrates?“ Die rosa Nase der Maus zuckte. Helena lächelte, und in ihren Wangen zeigten sich kleine Grübchen. „Dann können wir ja auch gleich zusammen den Brief aufgeben.“ Sie warf einen Blick auf den Schreibtisch. „Ist er schon fertig?“

„Fast.“

„Das ist schrecklich lieb von dir.“ Dann wandte sie sich an Ja- mie. „Abigail besitzt nämlich ein brillantes Gespür für Worte“, erläuterte Helena ohne jede Spur von schlechtem Gewissen. „Sie kümmert sich um meinen ganzen Schriftwechsel.“

„Wie schön für Sie. Ihre Schwester ist also ein richtiger Cyrano de Georgetown.“

Ärgerlich schüttete Abigail etwas Löschsand über den Brief. „Papa wird sehr erfreut sein, nicht wahr? Das war eine ausgezeichnete Idee von dir, Abigail.“

„Das war doch gar nicht meine ... Ach, was soll s.“

Bei der Erwähnung des Senators horchte Jamie auf. Ja, es könnte tatsächlich funktionieren. Es lag doch auf der Hand, dass das Oberhaupt von „Railroad and Finance“ vorhatte, eine Allianz mit dem Vizepräsidenten zu bilden. Cabot wollte, dass seine Tochter einen Butler ehelichte, und Jamie bezweifelte nicht, dass es dem Senator einerlei war, welches der Mädchen vor den Altar treten würde.

„Ich muss Zuneigung vorgeben, wo ich gar keine empfinde.“ Helena seufzte gequält wie ein Märtyrer. „Papa erwartet das.“ Faszinierend, dachte Jamie; sie ist völlig desinteressiert - sowohl Butler gegenüber als auch der Tatsache, dass ihre Schwester in ihn verschossen ist.

Abigail schüttete den überschüssigen Löschsand in ein Gefäß auf dem Schreibtisch. „Du kennst doch Leutnant Butler kaum. Woher willst du wissen, ob daraus nicht möglicherweise echte Zuneigung wird?“

„Das ist ein sehr gutes Argument. Ich werde mich jedenfalls sehr anstrengen. Hast du ihm einen recht liebevollen Brief geschrieben?“

Abigail presste die Lippen zusammen und schwieg.

In diesem Augenblick knisterte es in der Eichenholzkiste an der Wand, dann folgte ein Kreischen. Jamie fuhr zusammen, drehte sich zu dem komischen Apparat um, nahm sofort Haltung an und griff nach der Pistole, die nicht vorhanden war. Seit seiner Flucht vor einer Revolution in Andorra trug er keine Handfeuerwaffe mehr, doch jetzt wünschte er, er hätte eine bei sich. Die seltsame Maschine ratterte unheilvoll, und ein kleiner Hammer schlug gegen ein Paar Glocken. Das Geräusch hallte durch den ganzen Raum, als befänden sich wütende Geister in diesem sargähnlichen Kasten, die jetzt Flüche gegen die im Arbeitsraum versammelten Sterblichen ausstießen.

„Ich gehe ran.“ Mit dem Ausdruck reinen Entzückens trat Helena zu dem Gerät. Ihr üppiger Busen streifte den großen, kegelförmigen Aufbau. „Ja, hier Helena Cabot!“ rief sie in den kreischenden Trichter.

Jamie hatte ohnehin schon vermutet, dass sie nur über begrenzte intellektuelle Fähigkeiten verfügte, doch nun hielt er sie für komplett verrückt. Abigail blieb jedoch völlig unbeeindruckt von dem Verhalten ihrer Schwester. Sie stand sogar auf, trat neben sie und ließ den Brief unbeachtet auf dem Schreibtisch liegen. Eine schwache Stimme, die klang, als käme sie von einem anderen Stern, meldete etwas von einer „Verbindung“.

„Fassen Sie in meinem Arbeitsraum bloß nichts an!“ Aus der Maschine drang nun eine männliche Stimme. „Und füttern Sie Sokrates nicht! Der ist auf Spezialdiät.“

„Was, zum Teufel, ist das?“ verlangte Jamie zu wissen.

Abigail lachte. „Das ist Professor Rowan. Erkennen Sie seine Stimme nicht?“

„Ich wollte nur sagen, dass ich zum Abendessen nicht zurück sein werde“, kam es aus dem schwarzen Trichter. Tatsächlich, die körperlose Stimme gehörte Rowan.

„Wo befindet er sich?“ Jamie bewegte sich zu der großen Holzkiste und schaute in den Trichter. „Sie sagten doch, er sei im Labor.“

„Richtig“, bestätigte Abigail. „Professor Rowan befindet sich drüben in der Universität, etwa eine halbe Meile von hier entfernt. Seine Stimme schickt er uns durch diese Vorrichtung.“

Beide Frauen brachen in Gelächter aus. „Ich gestehe, als ich das Telefon zum ersten Mal in Funktion erlebte, dachte ich dasselbe wie Sie jetzt vermutlich“, gab Helena zu.

„Das ist ein Telefon?“

„In der Tat.“ Abigail deutete auf den Apparat an der Wand.

„Davon habe ich schon gehört.“ Jamie war überwältigt. Rowan war weit fort, und seine Stimme hörte man in diesem Arbeitsraum! „Ich hatte nur noch keinen dieser Apparate gesehen. Ist es denn von Nutzen?“

Abigail verblüffte ihn mit einem Lächeln, das ansteckenden Enthusiasmus versprühte. „Vergangene Woche telefonierten wir mit dem Weißen Haus. Der Berater des Präsidenten erschrak dermaßen, dass er schwor, ein Poltergeist befinde sich im Oval Office.“

„Aber heute ist doch Mr. Calhouns erster Tag hier“, schrie Helena jetzt ins Sprechrohr. „Sie werden doch Ihren Gast nicht vernachlässigen wollen.“

„Er ist kein Gast, sondern ein Untermieter und außerdem ein erwachsener Mann“, erklärte die Stimme. „Er kann allein essen.“

„Das werde ich ihm ausrichten.“

Während sie in das Sprechrohr rief, war Helenas Gesicht vor

Freude gerötet. Sie ist tatsächlich hingerissen von dem Professor, dachte Jamie; aber würde das ihrem Vater gefallen?

Er bückte sich hinunter und brüllte in das Mundstück: „Nur keine Sorge meinetwegen!“

„Ah, da sind Sie ja, Calhoun. Ich habe mir auch keine Sorgen gemacht. Ich beende diese Übertragung jetzt. Bringen Sie im Arbeitszimmer nichts durcheinander!“

Ein reizender Bursche, dachte Jamie. Da bin ich vielleicht in eine seltsame Gesellschaft geraten - zwei Jungfern und ihr verrückter, heruntergekommener Nachbar!

Abigail schrie etwas Unverständliches über irgendwelche technischen Dinge in den Apparat. Der Professor antwortete ihr dementsprechend, und sie notierte seine Angaben mit Kreide auf einer Schiefertafel.

Die Verbindung endete, und eine Dienstbotin erschien. Sie wirkte ein wenig ängstlich und nestelte an ihrer Schürze herum. „In diesem Ding wohnt der Teufel, das schwöre ich zum Himmel! Ihr Vater schickt mich, um Ihnen auszurichten, dass er Sie zum Nachmittagstee erwartet.“

„Dann mal los“, sagte Helena munter. „Vielen Dank, Dolly.“ Gemeinsam mit der Haushälterin stieg sie die Treppe hinunter. Wie nicht anders zu erwarten, hatte Helena ihr Versprechen, mit Jamie spazieren zu gehen, längst vergessen.

Dieser trat jetzt dicht zu Abigail und versperrte ihr so die Tür. Der einfache, unparfümierte Geruch ihrer Seife konnte ihren zarten, weiblichen Duft nicht überdecken. „Ich hatte meinen Tee auch noch nicht“, sagte er dicht an ihrem Ohr.

„Der Professor bewahrt ihn in einer Dose auf“, erklärte sie kurz und knapp. „Gleich neben dem Arsen. Er hat einen Mann eingestellt, der sich um alles im Haus kümmert. Haben Sie Gerald Meeks schon kennen gelernt?“

„Ich hoffte eigentlich...“

„Ich weiß, was Sie hofften, Sir. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, ich bin keine Närrin.“ Sie drückte sich an ihm vorbei und wandte sich zur Treppe. „Meinen Vater werden Sie zweifellos zu gegebener Zeit kennen lernen. Erwarten Sie nicht von mir, dass ich es Ihnen leicht mache.“

Er lachte leise, hielt ihr das Umschlagtuch hin und legte ihr die Hände für einen Moment auf die Schultern. Erregung durchflutete sie; er merkte es an ihren erschrockenen Augen, ehe sie rasch fortschaute.

„Mit Ihnen, Miss Cabot, dürfte wohl nichts leicht sein.“

Nachdem er sie hinausbegleitet hatte, kehrte er ins Arbeitszimmer zurück und betrachtete das Telefongerät mit einer Mischung aus Bewunderung und Misstrauen; aber er war auch neugierig geworden. Wenn man mit jemandem über eine Entfernung von einer halben Meile hinweg sprechen konnte, warum dann nicht auch über zwei Meilen? Oder zehn oder hundert? Darüber musste er sich einmal mit dem Professor unterhalten. In dieser neumodischen Erfindung lag durchaus Investitionspotenzial.

Als er den Raums verlassen wollte, fiel sein Blick zufällig auf den Schreibtisch, an dem Abigail gearbeitet hatte. Auf einer der Seiten las er: ml = Ho + 5 log (delta) + 2.5n log (r), gefolgt von einer langen Kalkulation. Und das alles in einer Handschrift, die so sauber und ordentlich war, dass sie wie gedruckt aussah. Kein Zweifel, diese Frau war wirklich eigenartig.

Unter der Formel lag der Brief, den sie im Namen ihrer Schwester zu schreiben begonnen hatte, eine kurze, leidenschaftslose Mitteilung an Leutnant Butler:

 

Lieber Leutnant, Ihr Brief war mir hochwillkommen, und ich erwarte Ihre weiteren Schreiben ...

 

Das hörte sich genauso nichtssagend und gleichgültig an wie Helenas Haltung diesem Mann gegenüber. Wie ein Schaf, das man zur Schlachtbank führte, wurde Helena Cabot zwecks Erfüllung der politischen Agenda ihres Vaters angeboten. Beide Schwestern schienen nur darauf bedacht, es ihrem Vater recht zu machen, und beide betrachteten den Sohn des Vizepräsidenten als Mittel zum Zweck.

Jamie beschloss, weiterzulesen. Einst mochte er vielleicht ein ehrenhafter Mensch gewesen sein, doch das war schon lange her. Jetzt jedenfalls quälten ihn keine Bedenken, sich der sauber beschriebenen Seiten zu bedienen, keine Bedenken, sich ein Glas Whiskey einzuschenken und sich eine Zigarre anzuzünden, keine Bedenken, sich ans Fenster zu setzen und Abigail Cabots heimliche Korrespondenz zu lesen.

 

Mein lieber Leutnant Butler...

 

Zunächst war es nur ein wenig boshafte Neugier, die ihn zum Weiterlesen bewegte, doch als er merkte, worum es in dem Brief ging, lehnte er sich zurück, um jedes einzelne Wort auf sich wirken zu lassen.

Dies waren keine heimlichen Notizen über Rowans Erfindungen, wie Jamie vermutet hatte. Was er in der Hand hielt, war viel beeindruckender. Es waren die Geheimnisse ihres Herzens. Ein glühender Liebesbrief an diesen menschlichen Holzklotz Boyd Butler! Abigail hatte sich vermutlich hingesetzt, um den Brief für ihre Schwester zu schreiben, und dabei war die Wahrheit aus ihr herausgebrochen. Kein Wunder, dass sie die Seiten versteckt hatte!

 

Als Ihr Brief eintraf ging für mich die Sonne zum zweiten Mal auf... Einfach zu wissen, dass Sie irgendwo auf der Welt sind, bringt Wärme in den kältesten Herbsttag. Meine Freude, von Ihnen einen Brief zu erhalten, wird nur noch übertroffen von der Ekstase, in Ihren Armen zu tanzen...

 

Neid und Eifersucht brannten heiß in Jamie. So zu lieben, der Gegenstand einer so tiefen Hingabe zu sein - all das musste wie ein Traum sein.

Er rief nach mehr Whiskey, und ein Dienstbote, der fast so schlampig und unangenehm war wie Rowan selbst, brachte das Gewünschte. Jamie erinnerte sich, dass der Mann Meeks hieß. Er war sozusagen das „Mädchen“ für alles und der einzige Angestellte, der dem Professor nicht angewidert den Rücken gekehrt hatte.

„Lassen Sie die Karaffe hier“, wies Jamie ihn an und las dann weiter.

Ihm fiel auf, dass Abigail Cabot so schrieb, wie sie alles andere ebenfalls tat. Deutlich, exakt und mit einer Aufrichtigkeit, die schon ans Dichterische grenzte, ließ sie Butler wissen, welche Auswirkung sein Brief auf sie gehabt hatte, und das war durchaus kein unschuldiges, jungfräuliches Herzflattern.

 

Wenn ich an Sie denke, singt mein Herz ein Liebeslied und ich zähle die Tage, bis wir uns wieder sehen. Ihre Worte haben mein Innerstes berührt und meine schlafende Leidenschaft geweckt. Allein der Gedanke an Sie...

 

Irgendjemand musste ihr doch einmal gesagt haben, dass es sich für eine Frau nicht schickte, die eigentümliche Hitze zu beschreiben, die allein der Gedanke an einen Mann in ihr erwecken konnte. Doch Abigail hatte sich nicht zurückgehalten.

Obgleich Jamie Miss Cabot nicht sehr gut kannte, hatte er von Anfang an eines klar erkannt: Sie war eine talentierte, wenn auch aus Liebe hoffnungslos blinde Frau, und ihr Urteilsvermögen war höchst unzureichend, was Herzensangelegenheiten betraf. Ihre tiefe Aufrichtigkeit rührte ihn, obgleich er angenommen hatte, Gefühle dieser Art längst hinter sich gelassen zu haben.

 

Sie erhellen meine Welt wie der Mond in einer wolkenlosen Nacht. Sie sind mir das Teuerste, ein unbezahlbarer Schatz ...

 

Jamie kippte den Whiskey hinunter und schenkte sich gleich noch einmal nach. Die Wirkung des Alkohols setzte rasch ein, verwirrte die Gedanken und verdüsterte seine Stimmung. Die Frau war ein gottverdammter weiblicher Walt Whitman, zum Teufel. Und sie liebte Boyd Butler, einen Mann, der beinahe auf derselben Evolutionsstufe stand wie das Farnkraut in Boston. Einen Mann, der ihre Schwester zu lieben glaubte, einer, der keine Ahnung hatte, was Abigail mit dem „dunklen Wald meiner Fantasie“ oder dem „verzehrenden, süßen Sehnen im Mittelpunkt meines Seins“ meinte.

Am härtesten traf Jamie die Leidenschaft, die aus den Zeilen sprach. Abigail bot hier keine süßliche Erklärung, sondern ein Geständnis über ihr körperliches Verlangen und eine Herzenssehnsucht, die auch Jamie tief berührte. Zum Teufel, als er zu Ende gelesen hatte, war er selbst halb in sie verliebt! Und dabei glaubte er doch gar nicht an die Liebe.

Dieser Glaube war ihm abhanden gekommen, seit eine betrügerische Frau ihn beinahe das Leben gekostet hatte. Auf jener Reise mit Noah hatte er die hemmungslose Hingabe eines jungen Mannes erfahren. In dem winzigen, altmodischen Fürstentum Khayrat verlor er sein Herz - und seinen Verstand - an eine eingeborene Prinzessin. Sie hieß Layla, ein Name, der tausend Wünsche in ihm geweckt hatte. Selbst jetzt noch roch er ihren Jasminduft und sah den Ausdruck in ihren schwarzen Augen. Er hatte sich in diese Affäre gestürzt, ohne die Folgen zu bedenken - bis es zu spät war. Bis Noah an seiner statt starb. Aus dieser Begebenheit hatte Jamie gelernt, dass Liebe nichts anderes als Schmerz, Gefahr und sogar Tod bedeutete und keine himmelstürmende Freude, wie sie mit solcher naiven Überschwänglichkeit in Abigails Brief beschrieben war.

Betroffen von der eigenen Erinnerung und von dieser so reinen und leidenschaftlichen Liebe, legte er die Briefseiten aus der Hand und schüttete sich noch ein Glas Whiskey ein. Abigail hatte nicht mit ihrem eigenen Namen unterzeichnet, sondern nur mit einem herzlichen „Ihre einzig wahre Liebe“, was eine unerwartete Sehnsucht in ihm hervorrief, die er schon längst überwunden zu haben meinte. Verärgert über seine innere Leere stand er auf, lief im Raum auf und ab und gab Rowans weißer Maus ein paar Hirsekörner. „Was soll das alles, Sokrates?“ fragte er den Nager mit den glänzenden Augen. „Und was sollen wir dabei tun? Können wir diese kluge Eigenbrötlerin für uns gewinnen?“

Der Mäuserich zuckte die Nase und verzog sich in sein Nest.

„Wünschen Sie noch etwas, Sir?“ erkundigte sich Gerald Meeks, der aus der Küche heraufgekommen war.

In den Tiefen seines fünften Glases Whiskey fand Jamie so etwas wie Humor; leider förderte er auch eine Bösartigkeit zu Tage, die aus einem Teil von ihm kam, den er nicht sehr liebte.

„Ehrlich gesagt, ja“, antwortete er.

Wenn man die tiefsten, dunkelsten Geheimnisse einer Person erfahren hatte, dann konnte man nur eines tun: das Erfahrene vorteilhaft nutzen. Er nahm die Seiten, faltete sie, verschloss das kleine Päckchen mit einem Klecks Siegelwachs und schrieb „Leutnant Boyd Butler, U.S. Navy, Annapolis“ darauf. Dann übergab er den Brief dem Dienstboten. „Lassen Sie das so schnell wie möglich zu Leutnant Butler bringen.“