Epilog

 

Normalerweise war die Verabschiedung eines neuen Mitglieds im House of Lords keine Aufsehen erregende Angelegenheit. Aber noch nie zuvor hatte die illustre Kammer einen Mann aufgenommen, den sie zuvor zum Tode verurteilt hatte. Diese Tatsache machte die Atmosphäre recht interessant, könnte man sagen.

Gavin kam alles sehr unwirklich vor, als er mit seinen zwei Bürgen den großen Saal betrat. Er fand die Staatsrobe völlig unpassend — wie viele Hermeline hatten für den Ruhm der Seabournes ihr Leben lassen müssen? Zu viele. Und noch nie zuvor hatte er etwas aus Samt getragen.

Inmitten dieses Irrsinns sehnte er sich nach Vernunft und blickte auf zu Alex. Sie saß auf einem kleinen Balkon zwischen ihrer Tochter und ihrer Mutter, die wiederum inmitten einer größeren Gruppe von Freunden und Verwandten saßen. Troth war gekommen, Lady Jane Holland und die Duchess of Ashburton. Alle sahen sehr feierlich aus. Der Anblick entspannte ihn. In den letzten Monaten waren sie seine Freunde geworden und nicht mehr nur Frauen von Rang und Namen.

Alex trug eine Halskette, an der die Perle vom Hals des Komodowaran hing, die er ihr gegeben hatte. Als er sie anblickte, berührte sie die Perle. Die Geste sollte ihn daran erinnern, dass er schon sehr viel gefährlichere Drachen besiegt hatte als die Drachen im House of Lords.

Er lächelte und vergaß für einen Augenblick den Ernst des Tages. Seit der Geburt ihres Sohnes James Michael Elliott war ein Monat vergangen. Alex' Figur war die einer Madonna, sie war weich und üppig. Sie warf ihm eine Kusshand zu. Vielleicht dachte sie an vergangene Nacht, als sie ihn wissen ließ, für ihre ehelichen Pflichten wieder bereit zu sein ...

In Gedanken riss er sich von den Liebkosungen der vergangenen Nacht los und betrachtete die Gesichter von Großbritanniens Aristokraten, die da vor ihm saßen. Heute waren sie nicht seine Richter, sondern seinesgleichen, seine Peers. Viele Mienen waren unbeweglich. Wahrscheinlich wollten sie ihre Beschämung verbergen - schließlich hätten sie beinahe einen unschuldigen Mann hinrichten lassen. Und in einigen Fällen hatte das Urteil nicht auf den vorliegenden Tatsachen beruht, sondern auf einer gewissen Abscheu seiner Fremdartigkeit gegenüber. Andere Gesichter waren freundlicher, vor allem die Gesichter derjenigen, die ein ruhiges Gewissen hatten, was Gavin anging.

Gemäß der Tradition führten zwei Bürgen gleichen Ranges einen neuen Lord ein. Gavin wurde von Kyle und seinem Bruder, Lord Grahame, begleitet. Es war erstaunlich, die gleich gekleideten Zwillinge nebeneinander zu sehen. Kyle begegnete Gavins Blick und zwinkerte ihm zu. Zumindest hielt Gavin ihn für Kyle.

Zuerst sprach Kyle, dann Dominic. Sie beschrieben den siebten Lord Seabourne auf sehr schmeichelhafte Art und Weise. Heute sollte Gavin zunächst einen Eid auf die Krone und das Land schwören, sich wieder hinsetzen und schweigen. Später, an einem anderen Tag, würde er dann zu einem wenig umstrittenen Thema seine Einführungsrede halten. Alle würden ihn für seine Rede loben, alles würde sehr geordnet zugehen.

Doch als er aufstand, kam ihm alles so unwirklich vor. Wie konnte es sein, dass ein Kerl, der barfuß in Aberdeen aufgewachsen war, Mitglied im House of Lords wurde? Wieso hatte ein einfacher, amerikanischer Seemann in England ein neues Zuhause gefunden? Wieder schweifte sein Blick zu seiner Frau. Und wie war es möglich, dass ein Mann, der geglaubt hatte, nie mehr lieben zu können, eine Frau wie Alexandra gefunden hatte?

Gavin wurde plötzlich klar, dass er diese Zeremonie dazu nutzen musste, um zu erklären, wer er war, bevor er den nächsten Schritt tun konnte, bevor er dieses neue, erstaunliche Leben beginnen konnte. In Zukunft würde er sich wie ein pflichtbewusster, wohlerzogener Earl benehmen, aber heute musste er sagen, was ihm auf der Seele lag.

»Edle Lords, dies ist eine unerwartete Ehre«, sagte er mit der Stimme eines Mannes, der die offene See kannte. »Ich bin in Schottland geboren und in Amerika aufgewachsen. Mein Geist und mein Herz wurden deshalb von freiheitlichen und demokratischen Idealen geprägt. Ich war davon überzeugt, dass alle Menschen vor Gott gleich sind, und verachtete die Vorstellung einer dekadenten Aristokratie.«

Er ließ den Blick durch den Saal schweifen. »Ich war entsetzt, als ich erfuhr, dass ich eine Grafschaft geerbt hatte. Aber sie war genauso ein Teil von mir wie ich selbst, ich konnte sie nicht einfach verleugnen. Dann richtete mich diese illustre Kammer und verurteilte mich zum Tode.«

Einige runzelten ob dieser Geschmacklosigkeit die Stirn. Wie konnte er nur so unverblümt seine Meinung sagen! Es war ihm gleich. Er besaß nicht die Wortgewandtheit eines gelernten Redners und musste sich auf seine direkte amerikanische Art zu reden besinnen.

»An jenem Tag lernte ich diese Kammer und die Männer, die hier sitzen, wirklich zu respektieren. Nicht wegen des Fehlurteils. Sondern weil mir bewiesen wurde, dass sich selbst ein Peer des Königreichs nicht über das britische Recht hinwegsetzen kann. Zum ersten Mal erkannte ich, dass das, was ich am meisten an Amerika liebe, tief im britischen Gewohnheitsrecht verwurzelt ist. Und ich hoffe und bete, dass diese gemeinsamen Ideale unsere beiden Nationen für immer in Freundschaft verbinden werden. »Das britische Recht und die Freiheitsliebe haben zusammen mit tiefem Mitgefühl eine Gesellschaft gegründet, die beispielhaft für die Welt ist. Es war Großbritannien, das den Kampf gegen die Sklaverei angeführt hat. Damit wurde einem der abscheulichsten Verbrechen auf Gottes Erden der Garaus gemacht.« Sein Blick ruhte wieder auf seiner Frau. Eine gewöhnlichere Frau wäre schockiert gewesen, ihn so reden zu hören. Alex aber nickte zustimmend.

»In den letzten zehn Jahren hat die Mutter aller Parlamente viele Reformen verabschiedet, die das Los unzähliger Männer, Frauen und Kinder in diesem wunderbaren Land verbessern werden. Aber wir stehen erst am Anfang dieser Aufgabe. Ich möchte mich all diesen guten Männern anschließen und mithelfen, das Großbritannien der Zukunft mitzugestalten - ein Land, in dem Gerechtigkeit, Ehre und Mitgefühl regieren werden.«

Die Traditionalisten unter den Lords saßen mit angewiderten Gesichtern da, aber die Reformer nickten zustimmend. Lord Markland, ein Peer, der ebenfalls gebürtiger Amerikaner war, saß auf der anderen Seite des Saals und grinste breit. Heute hatte Gavin seine Ideale verteidigt, und in Zukunft würde er mit Gleichgesinnten zusammenarbeiten, um eine bessere Welt zu schaffen. Kein schlechtes Lebensziel für einen Mann.

Mit ernster Miene legte Gavin den Treueschwur ab und wurde so für den Rest seines Lebens auf Erden ein Mitglied im House of Lords. Die restliche Sitzung ging schnell vorüber, und am Ende stand Gavin inmitten einer Gruppe von Peers, die seiner Meinung waren, ihm gratulierten und ihn in der Kammer willkommen hießen. Der Duke of Ashburton sagte mit einem Augenzwinkern: »Einige der edlen Lords bereuen es bereits, dass Sie dem Henker entwischt sind.«

Gavin lachte. »Dazu werden sie noch oft Gelegenheit haben.«

Er wollte sich gerade Lord Markland zuwenden, als Alex zwischen den umstehenden Männern auf ihn zukam. Sie nahm seine Hand ganz fest in die ihre und sagte leise: »Ich bin ja so stolz auf dich, Liebster.«

Er blickte in ihre wasserblauen Augen. Welch ein Wunder, dass sie sich gefunden hatten. Darüber vergaß er völlig seine Umgebung. »Die schönste Belohnung ist die hart erkämpfte«, flüsterte er. Und dann — er hatte heute ohnehin schon genug Regeln gebrochen, da konnte er ebenso gut eine weitere brechen — küsste er sie.