Die Müdigkeit trieb Gavin schließlich doch ins Bett, auch wenn er nicht schlafen konnte. Bilder verfolgten ihn, in denen Alex brutal geschändet wurde. Wie konnte ein Mann einer Frau so etwas antun? Obwohl er genügend gefühllose, gewalttätige Männer kannte, war dieses Verhalten unbegreiflich.
Er war, zu seiner Schande, immer noch schmerzhaft erigiert. Wenn Alex in der Lage gewesen wäre, das zu beenden, was sie begonnen hatten, dann hätten sie das Schlimmste hinter sich gebracht. Aber nun war er nicht sicher, ob er diese körperliche Intimität wieder von sich aus herbeiführen konnte, da ihre Ablehnung seelisch wie körperlich qualvoll gewesen war. Es war an ihr, den nächsten Schritt zu tun, wenn sie bereit war — wenn sie es jemals war. Obwohl er ihr gegenüber Zuversicht gezeigt hatte, wurde ihm bewusst — nachdem er den ganzen Umfang ihrer entsetzlichen Erlebnisse kannte —, dass sie sich vielleicht niemals vollkommen davon erholen würde, um ihm die freudige Geliebte zu sein, nach der er sich sehnte.
Trotz ihrer Probleme, tröstete er sich, hatten sie das Fundament für eine gute Ehe: Verantwortung für ihr gemeinsames Leben, gegenseitiges Begehren und die Fähigkeit, offen miteinander zu reden. Genug, um das, was sie nicht hatten, auszugleichen.
Im Augenblick konnte er seiner schmerzhaften Erektion Linderung verschaffen, auch wenn er dabei keine wirkliche Befriedigung empfand. Zumindest aber kamen seine im Kopf herumwirbelnden Gedanken zum Stillstand, und er schlief ein.
Nachdem er einige Stunden unruhig geschlafen hatte, stand er zeitig auf und kleidete sich an. Dann schrieb er einige Zeilen an seinen Freund Maxwell, nein, verflixt noch mal, jetzt Wrexham, während er mit einem Ohr auf die Geräusche in Alex' Zimmer hörte, die aufstand und sich auf den neuen Tag vorbereitete. Als er meinte, sie müsse fertig sein, klopfte er an ihre Tür.
»Komm rein!«, rief sie.
Er trat ein und erblickte sie in einem modischen Kleid. Diesmal war es ein weiches, kostbares Blau, das ihre helle Haut betonte. Sie sah wie eine elegante Londoner Schönheit aus, bis auf die Schatten unter ihren Augen, die von Dingen sprachen, die einer Dame der feinen Gesellschaft fremd waren. Einen Augenblick lang lähmten ihn verschiedene Bilder von Alex als Sklavin, die sich über die Frau schoben, die vor ihm stand.
Als er ihren forschenden Blick sah, verjagte er die Szenen aus der Vergangenheit und gab ihr wie ein langjähriger Ehemann einen leichten Kuss auf die Wange.
»Wollen wir zum Frühstück hinuntergehen, meine Liebe?«
Sie lächelte erleichtert, als er diesen beiläufigen Ton anschlug, und nahm seinen Arm. »Ich freue mich auf ein reichhaltiges englisches Frühstück. Das Essen auf der Helena war für ein Segelschiff ausgezeichnet, aber trotzdem ...«
»Weit von einem anständigen Frühstück entfernt«, stimmte er zu. Sie plauderten vergnügt beim Hinuntergehen und waren sich der unausgesprochenen Abmachung einig, ihre Probleme für sich zu behalten.
Gavin übergab dem Butler die Nachricht an Wrexham mit dem Auftrag, sie sofort zuzustellen. Dann betrat er an Alex' Seite das sonnige Frühstückszimmer. Die Erwachsenen, einschließlich Katie, bedienten sich mit den verschiedensten Köstlichkeiten, die in Warmhalteschüsseln auf der Anrichte standen. Wieder viele Umarmungen. Noch nie hatte Gavin eine britische Familie erlebt, die so liebevoll miteinander umging. Vielleicht würden die Umarmungen ein Ende haben, wenn die Kenyons sich daran gewöhnt hatten, dass Alex wieder unter ihnen war. Hoffentlich nicht so bald, dachte Gavin, denn er genoss es, wenn Lady Michael ihn mit ihrer natürlichen Herzlichkeit umarmte oder die Herzogin mit ihrem sonnigen, gutmütigen Charme.
Als Gavin und Alex sich mit gefüllten Tellern an den Tisch setzten, fragte Lord Michael: »Reiten Sie, Captain? Catherine und ich möchten nach dem Frühstück im Park ausreiten. Wir dachten, es wäre nett, wenn Sie uns mit Alex Gesellschaft leisten würden.«
»Ich weiß, wo beim Pferd vorne und hinten ist und könnte mich auch darauf halten, wenn das Tier nicht darauf aus ist, seinen Willen durchzusetzen«, sagte Gavin und dachte sich, wenn dies ein Test war, dann bestand er ihn wohl kaum. Segelschiffe boten nur wenig Gelegenheit zum Reiten. »Aber ich würde es versuchen, wenn es Alex möchte.«
»Die Pferde, die wir nach London bringen, sind lammfromm«, versicherte ihm sein Schwiegervater. »Alex, hast du das Reiten verlernt?«
Sie grinste. »Warte ab.«
Katie schluckte einen Mund voll Rührei hinunter, bevor sie lauthals verkündete: »Mama war von den Damen in Sydney die beste Reiterin. Das hat jeder gesagt.«
»Ich war nicht mehr auf einem Pferd seit ... mein Gott, seit über einem Jahr! Verlernt habe ich es bestimmt nicht, aber ich müsste mir ein Reitkostüm ausborgen.« Alex fuhr ihrer Tochter durch das Haar. »Katielein, wir beide müssen uns hier jetzt unbedingt einen Schneider suchen. Wir können uns doch nicht alles ewig von unseren Tanten und Cousinen ausborgen.«
»Ich dachte, wir drei könnten das morgen Vormittag erledigen.« Lady Michael lächelte Gavin zu. »Sie werden sicherlich froh sein, dass Ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist.«
»Ich bin über alle Maßen erleichtert«, antwortete er prompt.
Der restliche Teil des Frühstücks verlief ähnlich. Man neckte sich, machte Pläne für den Tag, begrüßte die anderen beiden Mädchen, die gähnend herunterkamen. Gavin mochte es, dass die jungen Damen nicht bei allen Mahlzeiten in ihr Kinderzimmer verbannt wurden. Die Atmosphäre war locker und entspannt, so dass Gavin sich fragte, ob Ashburton tatsächlich Herzog war. Der Mann erschien ihm viel zu menschlich. Genauso gut könnte er Neuengländer sein, dessen größte Freude es war, die Familie stets um sich zu scharen.
Die weiträumigen Stallungen, in denen sie sich nach dem Umkleiden trafen, waren allerdings sehr herzoglich und die Pferde erstklassig, sogar für Gavins unfachmännische Augen. Alex sah bezaubernd aus in einem roten Reitkostüm mit militärischen Applikationen. Sie freundete sich schnell mit einem dunkelbraunen Wallach an. Gavin beneidete das Pferd, dem sie irgendwelche Nettigkeiten ins Ohr flüsterte. Er war ihr beim Aufsitzen im Damensattel behilflich und genoss ihren Duft und das leise Rascheln der Röcke. Das kastanienbraune Reittier, das er gewählt hatte, erbarmte sich seiner und war friedlich.
Den kurzen Weg zum Park ritt Gavin an Lady Michaels Seite. Alex schloss sich dem Colonel an. Gavin schmunzelte innerlich, als er sich so plötzlich mitten im Leben der Aristokratie wiederfand, die er immer verachtet hatte. Nun, er war ein zu sturer Yankee, um seine Meinung über eine Klasse zu ändern, nur weil er in sie eingeheiratet hatte und seine neuen Verwandten sympathisch fand.
Als sie in den Park gelangten, der um diese Morgenzeit still vor ihnen lag, sagte Lord Michael zu Alex: »Wer ist wohl schneller am Ende von Rotten Row?«
»Das werden wir gleich sehen!« Alex und der Braune stürmten im Galopp davon und ließen die anderen weit zurück.
»Wahrscheinlich kam Alex auf einem Pferd zur Welt«, bemerkte Gavin.
Ihre Mutter lächelte. »Nicht ganz, aber ihre erste Reitstunde bekam sie mit drei Jahren, und Michael hat die Hälfte seines Lebens auf dem Pferderücken verbracht. So sehe ich die beiden gerne. In mancher Beziehung geht sie mehr nach Michael als seine leiblichen Kinder.« Sie blickte Gavin prüfend von der Seite an, als sie in geruhsamem Tempo in den Park ritten. »Sie scheinen sich mit Katie gut zu verstehen.«
Er hatte die unausgesprochene Frage gehört und sagte: »Als Alex und ich beschlossen hatten, dass wir heiraten, hatten Katie und ich bereits Freundschaft geschlossen. Es war also leicht, eine Familie zu werden.« Er lächelte. »Dazu kommt, dass sie gute Anlagen zum Navigieren hat.«
»Das höre ich gern«, sagte seine Schwiegermutter und meinte damit natürlich nicht die Navigation. Mit den Blicken folgte sie ihrem Mann und ihrer Tochter, die weit hinten am Pfad zu sehen waren. »Wenn ein Mann ein anstrengendes und raues Leben geführt hat, dann, glaube ich, weiß er ein kleines Mädchen besonders zu schätzen.«
»Anscheinend sind Sie dafür sehr dankbar gewesen, Lady Michael.«
»Ja. Sie können übrigens, wenn Sie möchten, Catherine zu mir sagen. Ich habe lange in Wales gelebt, wo es nicht so förmlich wie in London zugeht.«
»Also gut, Catherine.« Bewundernd betrachtete er ihr herzförmiges Gesicht und ihre elegante Haltung im Damensattel. »Ich kann nur hoffen, dass Alex weiterhin nach ihrer Mutter schlägt. Wenn dem so ist, werde ich in den kommenden Jahren ein viel beneideter Mann sein.«
»Schmeichler«, sagte Catherine belustigt. »Und zu bescheiden, was Ihre Reitkünste anbelangt. Sie sind ein sehr guter Reiter.«
»Als Junge bin ich mit meinem Pony über die schottischen Hügel galoppiert, als ob ich unsterblich sei«, gab er zu. »Aber seitdem ich zur See fahre, habe ich zum Reiten selten Gelegenheit.«
»Sie werden sich schnell wieder hineinfinden.« Catherine zupfte den Schleier ihres Zylinders zurecht. »Hat man Alexandra misshandelt? Wurde sie vergewaltigt? Gefoltert? Geschlagen?«
Diese unvermittelte Frage brachte Gavin einen Augenblick aus der Fassung. Unwillkürlich packte er die Zügel fester, so dass der Dunkelbraune scheute. »Was bringt Sie auf diese Frage?«
»Seien Sie kein Narr, Gavin.« Catherines wasserblaue Augen waren eiskalt. »Ich bin ihre Mutter. Glauben Sie, ich sehe nicht, wie sehr sie leidet?«
Er wäre am liebsten im Erdboden versunken. »Alex möchte nicht über das Geschehene reden. Gestern Nacht hatte sie mit mir zum ersten Mal darüber gesprochen und mir erzählt, was sie als Sklavin durchmachen musste.«
»Ich bin vielleicht entsetzt, wenn ich die Wahrheit höre, aber sie wird mich nicht zu Boden werfen.« Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Ich habe während des Krieges in verschiedenen Ländern als Krankenschwester gearbeitet. Ich weiß, wie gewalttätig Männer werden können, und wie Frauen benutzt werden, wenn die gesellschaftlichen Regeln zusammenbrechen. Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, werden sich in meiner Phantasie schlimmere Schreckensszenen abspielen als in Wirklichkeit.«
Als er ihren Gesichtsausdruck sah, fragte er: »Sind Sie ...« Er hielt inne. Er hatte nicht das Recht zu fragen.
»Ob ich vergewaltigt worden bin? Nein, obwohl es mehr als einmal beinahe dazu gekommen wäre. Ich wiederhole meine Frage, Captain Elliott. Was hat man meiner Tochter angetan?«
»Sie wurde vergewaltigt. Mehr als einmal«, sagte er knapp. »Keine Folter, aber Schläge, weil sie sich nicht fügen wollte. Keine bleibenden körperlichen Schäden, die seelischen Wunden aber sind noch offen.«
»Ich verstehe. Vielen Dank, dass Sie mir das gesagt haben.« Catherine schluckte schwer. »Wagen Sie es ja nicht, sie zu bemitleiden. Das würde sie verabscheuen.«
Das war ein guter Rat. Stolz hatte Alex vor dem Zusammenbruch bewahrt. Mitleid würde sie nicht ertragen. »Ich sagte vorhin, ich würde es begrüßen, wenn Alex im Alter ganz nach Ihnen käme. Jetzt finde ich den Gedanken erschreckend. Sie sind eine beunruhigend scharfsinnige Frau, Catherine.«
»Ich habe Fehler gemacht und daraus gelernt.« Sie sah ihn forschend an. »Lieben Sie meine Tochter, Gavin?«
Er zögerte, als er nach den passenden Worten suchte. »Ich war vorher bereits verheiratet gewesen. Der Verlust meiner Frau und meines neugeborenen Kindes haben mich so schwer getroffen, dass ich dachte, ich würde mich nie wieder an eine Frau binden können. Mit Alex wurde alles anders. Sie weckt in mir Achtung, Begehren, Freundschaft und den Wunsch, sie zu beschützen. Ich habe eine tiefe Zuneigung zu ihr gefasst. Das ist eine Form von Liebe.«
»Das ist nicht die eindeutige Antwort, die ich hören wollte, aber ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.« Catherine blickte ihn verschmitzt an. »Eines Tages wird es dazu kommen, Gavin. Alex hatte Glück, dass Sie ihr begegnet sind.«
»Das möchte ich auch von mir behaupten.« Mit trockenem Humor fuhr er fort: »Ich wollte immer schon wissen, wie es sich inmitten einer großen Familie lebt, die sich in meine Angelegenheiten einmischt. Anscheinend werde ich das bald herausfinden.«
Alex genoss es, mit dem Colonel in bester Laune da-vonzugaloppieren, und war glücklich, dass sich Gavin und ihre Mutter anfreundeten. Wenn ihr Ehemann und ihre Eltern sich nicht ausstehen konnten, würde sie sich in einer äußerst vertrackten Lage befinden.
Als die Reitgesellschaft zum Haus der Ashburtons zurückkehrte, fiel Alex neben Gavin in einen langsamen Trab. »Das war herrlich. Das Reiten hat mir furchtbar gefehlt.«
»Willst du mir damit durch die Blume sagen, dass wir nach einem Haus mit Stallungen suchen?«
»Wenn wir uns das leisten können, ja«, antwortete sie. »Du reitest doch auch gern? Für einen Seemann reitest du erstaunlich gut.«
»Ich habe Spaß daran, aber morgen wird mir jeder Knochen wehtun.«
Als Gavin ihr zulächelte, kam die Sonne hinter den Wolken hervor und tauchte ihn in ein goldenes Licht. Das blonde Haar, die gebräunte Haut und die breiten Schultern lösten ein prickelndes Begehren in ihr aus.
Im nächsten Augenblick aber wurde es durch ihre Abscheu vor dem Beischlaf erstickt. Und doch hatte sie dieses Gefühl wenigstens einige Herzschläge lang ungetrübt verspürt.
Es war ein Anfang.
Nachdem sie die Pferde in den Stall gebracht hatten und wieder im Ashburton House waren, überreichte der Butler Gavin eine Nachricht. Er brach das Siegel auf. »Wrexham lädt uns heute zum Abendessen mit ihm und seiner Frau ein. Ist es dir recht, Alex, oder hast du etwas anderes vor? Ich glaube, sie werden dir beide gefallen.«
»Selbstverständlich möchte ich deine Freunde kennen lernen.« Sie schnitt ein Gesicht. »Dann muss ich mir schon wieder ein Kleid von meiner Mutter borgen. Ich wusste nicht mehr, wie mühsam es ist, ständig die Garderobe zu wechseln. Es spricht wirklich einiges für einen schlichten Sarong mit kebaya.«
»Allmählich wächst in mir der Verdacht, dass die noblen Damen und Herren einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, sich für die verschiedensten Anlässe passend zu kleiden«, stimmte er ihr zu. »Wie du und Katie werde auch ich meine Garderobe aufstocken müssen. Was ich habe, wurde weder für die Londoner Gesellschaft noch für das Londoner Wetter gemacht.«
Ihre Blicke trafen sich mit einem belustigten verständnisvollen Lächeln, bevor sie sich umwandte und die Treppen hinaufstieg. Wer hätte gedacht, dass sie sich einmal nach der Kleidung Ostindiens zurücksehen würde? Die Monate dort hatten sie auf gute wie auf schlechte Weise geformt.
Aber im Augenblick hieß es, sich ein weiteres Kleid zu borgen.
Eine herzogliche Karosse brachte sie zum Haus der Wrexhams. Unterwegs fragte Alex: »Woher kennst du Lord Wrexham? Und wie hast du deine Abneigung für seinen Titel überwunden?«
»Ich wollte mich unbedingt in einer drittklassigen Schenke in Kalkutta betrinken. Anscheinend sah man mir meine grimmige Entschlossenheit so deutlich an, dass Maxwell mich fragte, ob er sich zu mir an den Tisch setzen könne.« Gavin musste lachen bei der Erinnerung daran. »Ich dachte, Maxwell sei sein Familienname, oder vielleicht habe ich auch nein gesagt, jedenfalls kamen wir ins Gespräch, und als er mich fragte, wo mich der Schuh drücke, erzählte ich ihm, dass Elliott House am Rande des Bankrotts stünde.«
»Wie ist es dazu gekommen? Elliott House ist doch jetzt erfolgreich?«
»Nach Helenas Tod war ich einige Monate lang zu nichts zu gebrauchen. Zur gleichen Zeit geriet Elliott House in eine Pechsträhne: Der Verlust eines Schiffes, ein Prozess in einem südamerikanischen Hafen, Fehlkalkulationen in größerem Umfang. Die Firma war geschwächt, aber sie hätte die Krise überwunden. Leider wollte mich ein englischer Kaufmann aus dem Geschäft drängen. Dann kam Maxwell ins Bild. Der Gedanke, Teilhaber einer Handelsgesellschaft zu werden, sagte ihm zu. Also habe ich ihm ein Viertel von Elliott House verkauft, für eine ausreichend große Summe, um aus meinem finanziellen Engpass herauszukommen.«
»Hat sich die Investition für ihn gelohnt?«
»Für uns beide. Er war lange Zeit in Macao und Kanton und kennt das Geschäft von der Pike auf, und damit ist er hier in London für mich unentbehrlich geworden.« Gavin grinste. »Ich glaube, er findet Spaß daran, sich aktiv als Kaufmann zu betätigen. Sehr unaristokratisch.«
»Kein Wunder, dass du so gut mit ihm zurechtkommst.« Alex' Brauen zogen sich zusammen. »Der Kaufmann, der dir die Steine in den Weg gelegt hat ... ist er der Mann, vor dem du Sultan Kasan gewarnt hast? Pierce, glaube ich, war sein Name?«
Sie war bereits so scharfsinnig wie ihre Mutter. »Genau das ist er. Es überrascht mich, dass du dir unter den damaligen Umständen den Namen gemerkt hast.«
»Es passte so ganz und gar nicht zu dir, jemanden schlecht zu machen. Vermutlich ist dieser Mann ein übler Genosse.«
»Ganz richtig.« Gavin zögerte. Er wusste nicht, wie viel er sagen sollte. Aber Alex gehörte jetzt zu seinem Leben. Sie sollte alles wissen. Vor allem war sie vorbereitet, falls sie diesem Mann in London begegnete.
»Barton Pierce ist ein Schurke von der schlimmsten Sorte. Von jener Sorte, die angenehm und ehrlich erscheint. Er kann sehr charmant sein, ist aber rücksichtslos, wenn er seine Interessen bedroht sieht — und dieser Mann fühlt sich ständig bedroht.«
»Inwiefern hat er dir denn Schwierigkeiten gemacht?«
»Er hatte angeboten, eine große Lieferung Tee von mir zu einem Preis zu kaufen, der die Firma wieder auf die Beine gebracht hätte. Der Handel wurde per Handschlag beschlossen. Dadurch war es ihm später ein Leichtes, die Abmachung nicht einzuhalten. Ich blieb auf einem Berg Tee kurz vor Ende der Saison sitzen und hatte nicht mehr die Möglichkeit, einen guten Preis zu erzielen.«
»Eine hässliche, aber erfolgreiche Taktik. Dein Wort gegen seines, und wenn du dich bei einer Behörde beschwert hättest, dann wärest du der Dumme gewesen, dazu noch in der schwächeren Position.«
»Genau. Später habe ich nachgeforscht und festgestellt, dass er einen ähnlichen Trick auch bei anderen versucht hatte und auf diese Art mindestens ein bis zwei Firmen in den Ruin getrieben hatte.« Gavin dachte daran, wie verzweifelt er in jener Nacht gewesen war, als er Maxwell kennen lernte. Er hatte seine Familie verloren und würde jetzt noch sein Unternehmen einbüßen. Es wäre ihm nicht schwer gefallen, auch sein Leben hinterherzuwerfen. »Pierce hatte keinen Grund, mich zu ruinieren ... für uns beide sprang genügend Gewinn heraus. Ich glaube, er hat Spaß daran, etwas zu zerstören.«
»Ein entsetzlicher Mensch. Wo lebt er normalerweise ... in Macao?«
»Zuletzt habe ich gehört, dass er vorhabe, sich in London niederzulassen und hier seinen Reichtum zu genießen.«
Alex' Augen verengten sich. »Besteht zwischen seiner Rückkehr nach England und deinem Entschluss, hier zu leben, eine Verbindung?«
»Ja, das ist richtig«, gestand er, »aber ich schmiede keine phantasievollen Rachepläne. Ich will nur ... Gerechtigkeit.«
Alex biss sich auf die Lippen. »Es bringt nichts Gutes, Schlangen den Kampf anzusagen, Gavin. Sie können ihr Gift besser verspritzen als du. Was hast du vor?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Wenn ich Gelegenheit habe, gegen Pierce auf legale Art vorzugehen, werde ich es tun. Keine Sorge, ich denke nicht daran, ihn zu einem Duell aufzufordern.« Gavin lächelte. »Das ist wieder so ein aristokratischer Brauch, dem ich nichts abgewinnen kann.«
»Warum empfinde ich deine Erklärung nicht gerade als beruhigend?«
Weil seine Frau zu scharfsinnig war.