Kapitel 2

 

Im Hafen von Maduri, Ostindien, Herbst 1854

Gefährliche Sandbänke und zerklüftetes Vulkangestein umgaben die Insel Maduri wie ein Schutzwall, so dass der einzige Hafen mehr als willkommen war. Als der Schoner Helena vor Anker ging, meinte der junge Erste Maat Gavin Elliotts: »Es ist eine schöne Stadt, Kapitän. Ich hatte gedacht, Maduri würde übler aussehen.«

Gavin grinste. Benjamin Long war ein braver Yankee, der auf den Meeren der Welt weit herumgekommen war. Die Fahrt zum Malaiischen Archipel hatte er zum ersten Mal angetreten. »Die Inseln sind gefährlich, weil sie so widersprüchlich sind. Auf Gottes Erde gibt es keinen schöneren Ort und keinen so trügerischen. Hier leben die nettesten Menschen, die du dir vorstellen kannst, aber auch die brutalsten. Inseln, die wie Maduri zivilisiert erscheinen, bringen unvorsichtige Besucher leicht auf den Gedanken, dass ihre Bewohner wie wir sind. Das sind sie aber nicht.«

Benjamin schirmte die Augen mit der Hand ab, um den gleißend weißen Palast zu betrachten, der auf der höchsten Erhebung der zerklüfteten Felsen von Maduri thronte. »Die Männer kommen nur ungern hierher. Der portugiesische Zimmermann behauptet, Sultan Kasan sei ein Seelenfresser.«

»Wohl eher ein Foltermeister des Fleisches, aber er ist ein kluger Herrscher, der den Handel zu schätzen weiß. Ich habe noch nie gehört, dass hier ein westliches Schiff in Schwierigkeiten geraten sei.« Maduri war bisher sicher, weil jeder, der das Gesetz des Sultans brach, damit rechnen musste, bei lebendigem Leibe gehäutet zu werden. Es kam auch vor, dass der Betreffende über einem Feuer geröstet wurde, aber das erwähnte Gavin nicht. Seeleute waren abergläubisch, und er wollte Benjamin Long nicht unnötig beunruhigen.

Die entlegene Insel war im Osten beinahe legendär geworden. Denn die reichen und mächtigen Sultane Maduris weigerten sich, den Vorherrschaftsanspruch der Holländer über das Malaiische Archipel zu akzeptieren, und die Holländer waren klug genug, ihrer Forderung nicht gewaltsam Nachdruck zu verleihen. Wilde Geschichten kursierten über das Volk, die Insel und vor allem über den Sultan. Die Tatsache, dass Ausländer nur einen schmalen Streifen am Hafen betreten durften, an dem sich die Werften und Kneipen befanden, verlieh den Geschichten einen abenteuerlichen Reiz. Wie in China wollten die Sultane von Maduri nicht, dass ihr Volk durch westliche Ideen verdorben wurde, durch eine — in ihren Augen — zu fortschrittliche Einstellung zum freien Handel oder die Forderung nach Gleichstellung des einfachen Mannes in Bezug auf Bildung und Rechtssprechung.

Gavin persönlich stand für diese subversiven Ideale des Westens ein. Sein Blick wanderte zu der amerikanischen Flagge, die hoch oben am Mast flatterte. Die Helena, nach der Frau benannt, die er geheiratet und viel zu früh verloren hatte, war das schnellste und schnittigste Schiff seiner Flotte. Sie war die vergrößerte Version der schlanken Baltimore Klipper und bestens für den Chinahandel geeignet. Ausreichende Frachtraumkapazität verbunden mit Schnelligkeit und Seetüchtigkeit verliehen dem Schiff die Eigenschaft, einem Piratenangriff oder drohendem Taifun zu entkommen. An Bord befanden sich mehrere größere Geschütze. Nur ein Tor segelte wehrlos in diesen Gewässern.

Er würde es bedauern, nicht mehr Kapitän der Helena zu sein. Obwohl er als Matrose angefangen hatte, verlangte sein ständig wachsendes Unternehmen, dass er immer mehr Zeit an Land verbrachte. Nach dem kurzen Aufenthalt in Maduri würde er nach England segeln, wo Benjamin das Kommando über die Helena übernehmen würde, während Gavin eine Zweigstelle des Elliott House in London gründete.

Seine Geschäfte in Macao und Kanton waren in zuverlässiger Hand, wie auch sein Hauptsitz in Boston. London, als die Hauptstadt des europäischen Handels, war seine letzte große Herausforderung. Ein Ziel, das er sich vor Jahrzehnten gesetzt hatte. Er würde sich dort niederlassen und der polternde, amerikanische Emporkömmling sein, der die Londoner Kaufleute mit ihren eigenen Waffen schlagen und zusätzlich Punkte für sich machen würde. Niemals würde es eine zweite Helena geben, aber vielleicht begegnete ihm eine liebenswerte Frau, die er in sein Herz schließen konnte. Und wenn sich jemand an seinen Vater erinnerte, oder daran, dass Gavin Elliott in England geboren wurde und aufwuchs, bevor er nach Amerika gebracht wurde, würde dies seinen Triumph nur noch mehr versüßen.

Jahre würden vergehen, bevor er wieder in den Osten zurückkehrte. Diese Reise war sein persönliches Abschiednehmen. Obwohl England und Amerika in seinem Herzen wohnten, würde er den Glanz der ostindischen Inseln vermissen, die verstreut in den blausten Meeren der Erde lagen, wie Juwelen, von eines Riesen Hand sorglos ausgeworfen. Er würde sich auch nach China sehnen, wo er in den vergangenen Jahren die meiste Zeit verbracht hatte, nach seinem luftigen Haus in Macao, oder nach der geschäftigen Enge des ausländischen Viertels in Kanton, das ihm einen Großteil seines Reichtums einbrachte.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als der Zweite Maat zu ihm hinaufkam. »Captain, die Maduris möchten Ihnen eine persönliche Nachricht überbringen.«

Er vermutete, dass sie über die Sonderlieferung an den Sultan benachrichtigt wurden, und ging auf die drei Männer zu, die von der Prau an Bord gestiegen waren. Zwei von ihnen sahen wie normale Hafenbeamte aus, der dritte aber war Chinese und kein Malaie. Das dunkle Haar war silbern gestreift, die Kleidung aus Seide; zweifellos ein Mann, der etwas zu sagen hatte.

Gavin senkte achtungsvoll den Kopf. »Willkommen an Bord der Helena, meine Herren «, sagte er in dem einfachen Basarmalaiisch, das überall auf den Inseln gesprochen wurde. »Eure Anwesenheit ehrt mein unwürdiges Schiff.«

Zu seiner Überraschung antwortete der Chinese in fehlerfreiem Englisch. »Ihr erweist uns die Ehre, Captain Elliott. Ich bin Sheng Yu, Erster Minister von Maduri, und überbringe Euch eine Einladung Seiner Hoheit Sultan Kasan.«

Langjährige Übung ermöglichte es Gavin, seine Überraschung zu verbergen. Woher kannte Sheng seinen Namen, wenn er und sein Schiff niemals in diesem Hafen gewesen waren? Zugegeben, Gavin war ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein Taipan, wie der Kopf eines großen Handelsunternehmens genannt wurde. Aber diese Einladung passte nicht zu den Gepflogenheiten der Einheimischen, soweit sie ihm bekannt waren. Vielleicht war der Sultan nur um seine kostbare Fracht besorgt. »Es wird mir ein Vergnügen sein, die Kisten des Sultans persönlich zum Palast zu begleiten.«

»Das ist unnötig — ich werde mich um die Ladung kümmern. Seine Hoheit wünschen, dass Ihr mir zum Weißen Palast folgt, um mit dem Sultan zu speisen und über Nacht sein Gast zu sein.«

Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten? Unmöglich, diese Einladung abzulehnen, es sei denn, Gavin würde auf der Stelle abreisen. Doch er fühlte sich nicht bedroht, und da er schon immer sehr neugierig war, entgegnete er: »Ich bin überwältigt von der Ehre, die einem unwürdigen Kapitän erwiesen wird. Darf ich Euch bitten, eine Erfrischung zu Euch zu nehmen, während ich mich umziehe.«

Gavin überließ die Maduris Benjamins Obhut und Gastfreundschaft und ging in seine Kabine. In diesem Teil der Welt legte man größten Wert auf ein prunkvolles Äußeres. Aus diesem Grund hatte er einen makanesischen Schneider beauftragt, eine normale Marineuniform mit dicken Goldtressen und prächtigen Orden zu verzieren. Der flache Zweispitz war sogar mit zwei Federn ausstaffiert. Er hatte Mühe, in diesem Aufzug ein ernstes Gesicht zu machen, aber damit hatte er stets Eindruck gemacht.

Vor dem Umkleiden läutete er nach Suryo Indarto, einem Malaien, dessen Pflichten nicht so einfach abzugrenzen waren, obwohl er der Bequemlichkeit halber als Steward bezeichnet wurde. Suiyo war schon mehr als ein Dutzend Jahre bei Gavin. Er war eine ständig sprudelnde Quelle kostenloser Informationen über den Osten, war ihm ein erfahrener Lehrer in der östlichen Kunst des Nahkampfes, und er war ihm vor allem ein Freund.

Auf leisen Sohlen wie eine Katze betrat der Malaie die Kabine. Auf See trug er gewöhnlich den Sarong der Inseln, aber im Hafen eine tadellose Tunika mit weißen Baumwollhosen. »Captain?«

»Ich bin für eine Nacht im Weißen Palast eingeladen und möchte, dass du mitkommst«, erklärte Gavin. »Was muss ich über Sultan Kasan wissen?«

Suryo zog die Stirn in Falten. »Seien Sie vorsichtig, Captain. Kasan würde Sie nicht zu sich bitten, wenn er nicht etwas von Ihnen will. Er wird >Leopard von Maduri« genannt und spielt gern mit Menschen wie eine Katze mit der Maus.«

»Was habe ich, das ihn interessieren könnte?«

»Vielleicht will er das Schiff. Es gibt kein besseres in diesen Gewässern.«

Gavin band sich einen Schmuckdegen um, die gelungene Kombination eines ziselierten, mit Juwelen verzierten Griffes und einer äußerst wirksamen Klinge. »Die Helena ist nicht zu verkaufen.«

»Es ist nicht leicht, einem Sultan etwas abzuschlagen.«

»Hältst du es für gefährlich, seine Einladung anzunehmen?«

Suryo überlegte. »Nein. Einen ausländischen Kapitän umzubringen würde Kasans Geschäften schaden. Lassen Sie sich aber keinesfalls auf einen Handel mit ihm ein. Ein Leopard ist ein trügerischer Partner.«

»Verstanden.« Gavin öffnete einen Schrank, in dem er wertvolle europäische Kunstgegenstände aufbewahrte, um für Gelegenheiten wie die heutige Einladung ein passendes Geschenk zu haben. Er entschied sich für eine kunstvoll gearbeitete Spieldose, die ein Menuett von Mozart spielte, während eine weibliche und männliche Emaillefigur aus dem achtzehnten Jahrhundert sich im Tanze drehte. »Pack das ein und bring es mit Kleidern zum Wechseln in den Palast.«

Zu einer Verabredung mit einem Sultan ging man nicht mit leeren Händen.

 

Auf dem Weg zum Audienzsaal des Sultans war Gavin der Reichtum Maduris nicht entgangen. Seit seinem Besuch bei dem Maharadscha von Mysore in Indien hatte er nicht wieder so viele glänzende marmorne und vergoldete Statuen gesehen. Die Zimmer, die man ihm zugewiesen hatte, waren eines Prinzen würdig. Mit einem zynischen Lächeln sagte er sich, dass der Sultan wohl etwas Besonderes von ihm wollte.

Ein Gong erscholl, worauf die Stimmen der zahlreichen Höflinge verstummten, die sich an den Wänden des Audienzsaals gruppierten. In die Stille hinein verkündete Sheng Yu: »Hoheit, erlaubt mir, Euch Kapitän Gavin Elliott, Taipan von Elliott House und Besitzer des Schiffes Helena vorzustellen.«

»Willkommen auf Maduri, Captain Elliott.« Wie Sheng sprach Sultan Kasan ausgezeichnet Englisch. Der Sultan war ein hoch gewachsener, kräftig gebauter Mann Anfang vierzig, auf dessen Seidengewand kostbare Juwelen glänzten. Der mächtige Thron war wie das Schwanzrad eines Pfaus gestaltet und mit blauen, grünen und roten Edelsteinen besetzt.

Gavin wandte den Blick von diesen Kostbarkeiten und antwortete: »Danke, Euer Hoheit. Ich habe viel über die Wunder von Maduri gehört, aber niemals geglaubt, dass mir das Glück beschieden sein würde, sie selbst in Augenschein zu nehmen.« Er winkte Suryo, der mit dem polierten Walnussholzkästchen hervortrat, in dem sich das Geschenk befand. »Bitte nehmt diese Kleinigkeit als Zeichen meiner Dankbarkeit für die Ehre, die Ihr mir erweist.«

Suiyo hob die Spieldose aus dem Kästchen und reichte sie einem Diener, der die Stufen zum Thron hinaufstieg und niederkniete, um dem Sultan das Geschenk zu reichen. Kasan nahm die Spieldose entgegen und betrachtete sie anerkennend. Gavin war im Begriff, ihm den Schlüssel zu zeigen, mit dem man den Mechanismus in Gang setzte, aber der Sultan hatte es bereits selbst herausgefunden.

Die fein geformten Figuren des Paares begannen zu tanzen, während die Klänge Mozarts im Schein der Nachmittagssonne ertönten. Die Höflinge an den Wänden des Saals blickten entzückt auf die Spieldose, sogar der Sultan lächelte. »Ein schönes Geschenk, Captain. Danke.«

Er zog die Spieldose noch zwei weitere Male mit dem Schlüssel auf, bevor er sie dem Diener zurückgab, der immer noch zu seinen Füßen kniete. Durch ein Missgeschick glitt die Dose dem Diener aus der Hand und fiel auf den Marmorboden. Die Höflinge hielten den Atem an, als die zierlichen Figuren zerbrachen und davonschlitterten.

Mit einem wütenden Knurren zog der Sultan eine kurze Reitpeitsche aus seiner goldenen Schärpe und schlug dem Diener quer über das Gesicht. Der Diener schrie auf, senkte unterwürfig den Kopf, während ihm das Blut von der linken Wange rann. Zwei

Zentimeter höher, und der Peitschenschlag hätte sein Auge zerschnitten.

Gavin erschreckte diese Brutalität, und er schloss daraus, dass es in diesem Palast nur Sklaven statt Dienstboten gab. Kein Mann, der gegen Entlohnung arbeitete, würde sich von seinem Herrn eine solche Behandlung gefallen lassen.

Kasan steckte die Peitsche wieder in die Schärpe, erhob sich von seinem Thron und schritt die Stufen zu Gavin hinab. Aus dieser Nähe hatten die dunklen Augen das drohende Glitzern einer Schlange. »Begleiten Sie mich hinaus, Captain.«

Gavin folgte Kasan durch einen der Bögen, der zu einem großflächigen Patio führte, in dem mehrere Bänke im Schatten von Palmen und Blumenstauden standen. Voller Bewunderung über die traumhafte Aussicht auf die Stadt und den Hafen, meinte Gavin: »Eure Hoheit sprechen ein fehlerfreies Englisch.«

»Holländisch und Französisch spreche ich ebenso gut. Mein Vater brachte Lehrer aus Europa mit, damit ich Sprache und Sitten unserer Feinde lernte.«

»Betrachtet Ihr mich als Euren Feind, Hoheit?«

»Sie sind Amerikaner, kein Engländer. Ihre Leute haben zwei Kriege gegen England geführt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund.« An der rechten Seite der Veranda war ein bewegliches Fernglas auf einem Pfosten montiert, das man beliebig in jede Richtung schwenken konnte. Der Sultan ging zum Okular und richtete das Instrument auf den Hafen. Nachdem er es eingestellt hatte, bedeutete er Gavin hindurchzusehen. »Ihr Schiff ist sehr schön.«

Die Helena stand plötzlich vor Gavins Augen, so deutlich, dass er Benjamin Long auf dem Achterdeck erkennen konnte und einen Seemann in der Takelage.

Ja, er konnte sogar die geschnitzten goldenen Haarwellen auf dem Haupt der Galionsfigur sehen, einem engelähnlichen Frauentorso, bei der die echte Helena als Modell gedient hatte. In der Annahme, dass Su ryos Vermutung richtig war, wandte sich Gavin von dem Fernglas ab. »Danke, Eure Hoheit. The. Helena ist das Juwel meiner Flotte.« Er hoffte, damit zum Ausdruck gebracht zu haben, dass das Schiff nicht verkäuflich war.

Offensichtlich hatte Kasan das Unausgesprochene gehört, als er mit belustigtem Spott antwortete: »Sie sind ein Mann, der das offene Wort bevorzugt, Captain. Warum sagen Sie nicht frei heraus, was Sie denken?«

»Sehr wohl, Eure Hoheit. Warum bin ich hier an diesem Ort, zu dem kein oder nur wenige Abendländer eingeladen wurden? Gewiss nicht aus einem rein gesellschaftlichen Anlass.«

»Sie haben Recht. Ich will Ihre Helena nicht, Captain Elliott.« Der Sultan lächelte mit einem raubtierhaften, lauernden Ausdruck in den Augen. »Ich möchte Ihre gesamte Flotte.«