Kapitel 11

 

Alex griff nach der Decke und versuchte ihr verzweifeltes Schluchzen zu ersticken. Das war die letzte Erniedrigung gewesen, die sie ertragen musste. Gavin hatte sich als rücksichtsvoller, großartiger Liebhaber erwiesen — und das hatte die Sache noch schlimmer gemacht. Sie war geschändet worden, und ihr fehlte die Genugtuung, den Mann zu hassen, der ihr das angetan hatte.

Als Gavin sich vom Bett erhob, öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Einen Sekundenbruchteil lang trafen sich ihre Blicke wie elektrisiert, bevor sie die Augen senkte. Er sah aus, als hätte man ihn moralisch gehäutet. Klar erkannte sie, dass sie durch eine gemeinsam erlittene Demütigung auf unfassbare Weise aneinander gefesselt waren.

»Zuerst dachte ich, der Mann hat Glück, dass er die Göttin gewürfelt hat, Captain«, sagte der Sultan nachdenklich, »aber dann war es doch kein Glück. Sie beide werden die Inseln mit dem Wissen verlassen, dass Ihre Seelen Schaden genommen haben.«

Alexandra beobachtete, wie sich die beiden Männer mit Blicken maßen. Sie waren wie die Gegenseiten einer Münze. Der eine war hellhäutig, der andere dunkel; der eine ernst und beherrscht, der andere hämisch und selbstgefällig. Der Sultan weidete sich an Gavins Not, während Alexandras Schmerz ihm so unwichtig war wie eine Fliege, die im Schlafgemach herumsurrte.

Auch wenn sie Gavin nicht hassen konnte, fiel ihr dies bei Kasan nicht schwer. Wenn sie Meister im pentjak silat wäre, würde sie ihn mit bloßen Händen töten. Waren ihr Vater und Stiefvater so hasserfüllt wie sie gewesen, als sie gegen die Franzosen kämpften? Nein, ihr Stiefvater hatte von seinen französischen Gegnern stets voller Achtung gesprochen. Im Gegensatz dazu war der Sultan verabscheuungswürdig. Er war ein Mann, der seine Macht leichtfertig und ungezügelt missbrauchte. Sie verachtete ihn aus tiefstem Herzen.

In Gavin stauten sich die Gefühle zum Ersticken an, so dass sie befürchtete, sie würden sich in einer Gewalttat entladen. Glücklicherweise aber behielt er seine Beherrschung. Es wäre sehr unklug gewesen, einen so mächtigen Sultan wie Kasan zu erzürnen, da er sie auf der Stelle hinrichten lassen konnte. »Ich habe Eure Bedingungen erfüllt, Eure Hoheit ...« Gavin trat in den Gang hinaus und ließ sich vom Hauptmann der Wache den Schlüssel zu Alexandras Fesseln überreichen. Stumm sah sie zu, wie er ihr die Ketten aufschloss und es dabei mühsam vermied, sie mit den Fingerspitzen zu berühren.

Er nahm ihr die Ketten ab und schleuderte sie wütend durch die offenen Arkaden, die zur Terrasse führten. In der Sonne glitzernd, flogen sie über das Geländer und schlugen mit einem disharmonischen Klirren auf dem Steinfußboden auf. Sie rieb sich die schmerzenden Handgelenke und konnte es kaum fassen, dass sie endlich frei war.

Mit unheimlicher Ruhe wandte sich Gavin an den Sultan. »Es war eine ... interessante Erfahrung, Gast Eurer Hoheit zu sein. Ich wünsche Euch viel Erfolg auf der Suche nach dem geeigneten Mann.«

»Ich habe ihn bereits gefunden«, sagte Kasan spöttisch. »Schade, dass Sie meinem Vorschlag nicht zugestimmt haben.«

»Ein Mann, den man gegen seinen Willen festhält, wird niemals der richtige sein«, erwiderte Gavin ebenso spöttisch. »Ich darf Euch aber einen Rat geben. Wenn Ihr Eure Liste der in Frage kommenden Agenten durchgeht, meidet den Engländer Barton Pierce. Er ist kein Ehrenmann. Der Holländer Vandervelt ist weitaus der bessere. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten.«

Die Augen des Sultans verengten sich. »Kann ich Ihren Worten trauen? Schließlich sind Sie mir im Augenblick nicht wohl gesonnen.«

»Das liegt ganz bei Euch, Eure Hoheit, aber ich schwöre, ich wünsche weder Euch noch Maduri Böses. Pierce ist ein Mann, der Böses tut.« Gavin verneigte sich leicht. »Mit Eurer Erlaubnis werden wir uns jetzt verabschieden.«

Alex brannte darauf endlich an Bord der Helena zu gehen. Kasan zog die Stirn in Falten. »Ich habe die Absicht, Ihnen heute Abend ein Abschiedsessen zu geben.«

»Damit, Eure Hoheit, würdet ihr mich bezwingen.« Gavins charmantes Lächeln war dem des Sultans ebenbürtig. »Mir fehlt die Kraft, die Gastfreundschaft Maduris weiter in Anspruch zu nehmen, Eure Hoheit. Ich habe mich immer noch nicht von meinem letzten Arak-Erlebnis erholt.«

Kasan lachte, und die Atmosphäre entspannte sich. »Ich wünsche Ihnen eine sichere Reise, Captain, und sollte Sie Ihr Weg wieder in diese Gewässer führen, dann besuchen Sie mich wieder.«

»Danke. Ich werde daran denken.« Gavin blickte zu Alexandra. »Aber jetzt müssen wir nach Sukau aufbrechen.«

Der Gedanke an Katie gab Alexandra Kraft. Sie streckte den erschöpften Körper und hielt sich aufrecht, wie es sich für die Tochter eines Soldaten geziemt.

Kasans Blick schweifte mit beleidigender Gründlichkeit über ihren Körper. »Kehren Sie Ihrer Sklavin nicht den Rücken zu, Captain. Sie sieht gefährlich aus. Ein Jammer, dass Sie nicht so viel Freude an ihr haben, wie Sie es verdienen.«

»Mrs. Warren gehört keinem außer sich selbst«, entgegnete Gavin, als er sie zur Tür hinaus führte. »Sie ist und war immer eine freie Frau.«

Um dieser Worte willen könnte sie ihn beinahe lieben.

 

Nach einer knappen Stunde befanden sie sich auf der Helena. Die Fahrt zum Hafen hinunter hatte Alex wie in Trance erlebt. Von Gavin und Suryo flankiert, hielt sie sich eisern aufrecht. Die beiden ernst blickenden Männer hatten es beinahe ebenso eilig wie sie, an Bord der Helena zu kommen.

Die Helena war ein schnittiges, sorgfältig gewartetes Schiff, dem man zutraute, jeden Konkurrenten auf hoher See zu überholen. Kaum war die kleine Gruppe von der Jolle an Deck gestiegen, entschuldigte sich Gavin und rief der Mannschaft Befehle zum Ablegen zu. Alex vermutete, dass sie bald Ebbe haben würden. Wenn sie den Hafen nicht sofort verließen, müssten sie wieder Stunden auf die Flut warten.

»Bitte, hier entlang zu Ihrer Kabine, Puan.« Suryos mitfühlender Blick sagte ihr, dass er über das Geschehene Bescheid wusste und niemals ein Wort darüber verlieren würde.

Seelisch wie körperlich kurz vor dem Zusammenbruch stehend, folgte sie ihm hinunter den langen Gang entlang zum rückwärtigen Teil des Schiffes. Er öffnete eine Tür und fragte: »Haben Mylady noch einen Wunsch ? «

»Ich ... ich möchte nur allein sein.«

»Wie Mylady wünschen. Wenn Sie etwas essen oder trinken möchten, läuten Sie nach mir.«

Dankbar erkannte sie, dass es ihr gestattet war, allein zu bleiben. Sie nahm kaum die Umgebung wahr, trat in die Kabine ein und sank auf das ordentlich gemachte Bett. Als sie sich um ein Kissen kringelte, begann sie jämmerlich zu zittern.

In den vergangenen Monaten hatte sie geweint und getobt, die Piraten und die Inseln verdammt, die sanftmütigen Sklavinnen gesegnet, deren Mitgefühl sie bei Verstand gehalten hatte. Sie hatte sich langsame, grausame Todesarten für ihre Peiniger ausgemalt. Und immer wieder hatte sie verzweifelt gehofft, sich so bald wie möglich auf die Suche nach ihrer Tochter machen zu können. Wilde Gefühle, Gedankenblitze und Erinnerungen jagten durch ihren Kopf. Wie sollte sie das alles jemals verarbeiten?

Sie konnte Gavin nicht hassen. Er hatte sein Leben für sie riskiert, aus dem Impuls heraus, dass er das Richtige tat. Aber wie konnte sie ihm jemals wieder ins Gesicht blicken, ohne daran zu denken, dass sie seinen Körper in sich aufgenommen hatte? Ihre stummen Schreie hallten ihr noch im Kopf. Aber irgendwie musste sie ihre Gefühle ihm gegenüber in den Griff bekommen. Seine monatelange Nähe in dem begrenzten Raum des Schiffes würde sonst nicht zu ertragen sein.

Wieder sah sie seinen Gesichtsausdruck vor sich, als er sich aus ihr zurückzog. Schaudernd drückte sie das Gesicht in das Kopfkissen. Die Begegnung war schrecklich für sie gewesen, auch wenn sie Schlimmeres erdulden musste, ohne die tröstliche Hoffnung, ihrem Schicksal irgendwann einmal entrinnen zu können. Das vermaledeite Löwenspiel war die letzte Marter auf ihrem qualvollen Weg. Sie würde es überleben, so wie sie alles andere überlebt hatte.

Für ihn jedoch war ihre erzwungene Intimität niederschmetternd. Es war ein Verstoß gegen die heiligsten Prinzipien seines Lebens. Als anständiger Mann hatte er eine schwere Gewissenslast auf sich genommen. Sie musste ihm verzeihen, damit er selbst sich vergeben konnte.

Nachdem sie das Geschehene einigermaßen verarbeitet hatte, hörte sie auf zu zittern und schlummerte erschöpft ein. Als sie am späten Nachmittag erwachte, blinzelte die Sonne durch die Fenster am anderen Ende der Kabine. Das gleichmäßige Rollen des Schiffs und das gelegentliche Geräusch eines schlagenden Segels über ihr sagte, dass sie auf offener See waren.

Sie stand auf, hielt sich an der Kante eines eingebauten Schranks fest und verspürte dabei ein unangenehmes Gefühl im Magen. Dann nahm sie ihre Umgebung näher in Augenschein. Anscheinend befand sie sich in Gavins eigener Kabine. Sie war geräumig und mit einem breiten Bett ausgestattet. Farbenprächtige chinesische Teppiche lagen auf dem polierten Eichenboden. Tisch und Stühle waren unauffällig mit Klammern gesichert. Kleine Schränke aus Teakholz waren in die Wände eingebaut worden sowie eine Reihe von Bücherregalen, die mit Querstangen versehen waren, damit die Bände bei hohem Seegang an Ort und Stelle blieben. Die Kabine war warm und einladend und eher gemütlich als prunkvoll.

Auch wenn es ihr unangenehm war, dass sie Gavin aus seinem Quartier vertrieben hatte, war sie dankbar, dass er einer Dame in Nöten das Beste auf seinem Schiff angeboten hatte. Ein weiteres Geschenk, das sie zu würdigen wusste.

Schwankend ging sie zu einem der Fenster hinüber. Obwohl sie stets eine gute Seefahrerin gewesen war, fühlte sie sich immer noch unwohl. In der Sonne draußen glänzte das Meer wie flüssiges Gold. Ein dunkel zerklüfteter Landrücken trennte das Wasser vom Himmel. Maduri oder eine andere Insel? Aber das war unwichtig. Sie hatte es überstanden.

Sie konnte das Wunder, dass sie wahrhaftig frei war, nur schwer begreifen. Gefangenschaft und Erniedrigung lagen hinter ihr.

Freude perlte aus dem tiefen Inneren hervor. Frei. Frei. Frei. Fast ihr ganzes Leben lang hatte sie die Freiheit für etwas Selbstverständliches genommen. Jetzt nicht mehr. Das Wissen darum verschaffte ihr einen Einblick in Gavins Wahlheimat Amerika. Hier hatte man die Freiheit mit dem Blut der Söhne des Landes erkauft.

Plötzlich konnte es ihr nicht schnell genug gehen, sämtliche Spuren der Sklaverei zu entfernen, und sie läutete nach Suryo. Als er erschien, fragte sie: »Könnte ich warmes Wasser zum Waschen haben?«

»Selbstverständlich.« Mit einem Matrosen kehrte er mit Kanistern warmen Wassers zurück. Es ging so schnell, dass das Wasser wahrscheinlich schon für sie bereitgestanden hatte. Eigentlich hatte sie erwartet, sich mit einem Waschlappen an einem Waschbecken zu waschen, aber Suryo zog eine Zinkwanne aus einem der Schränke hervor.

»Eine Sitzbadewanne!«, rief sie. »Das habe ich noch nie auf einem Schiff gesehen.«

»Man kann sie nur bei ruhiger See benutzen, wie heute Abend«, sagte Suryo. Der Matrose goss Wasser in die Wanne. Suryo verließ die Kabine für einen Augenblick und kehrte mit einem Imbiss auf einem Tablett und zusammengefalteten Kleidern zurück, die er auf dem Tisch ablegte.

Kaum hatten die Männer die Türe hinter sich geschlossen, streifte Alexandra die Kleider ab und stieg in die Wanne. Beinahe kamen ihr die Tränen, als sich der vertraute Duft englischen Lavendels auf der Haut verbreitete. Düfte tropischer Blumen konnten berauschen, Lavendel aber gehörte zu ihrer Kindheit wie die getrockneten Blüten, die in ihrem Kleiderschrank verstreut waren, und das Öl, das Mutter im Winter gegen trockene Hände zubereitet hatte.

Die Sitzbadewanne war mit hohen Seitenteilen versehen, damit das Wasser bei unruhiger See nicht überschwappte, und war groß genug, um einem Mann von Gavins Statur Platz zu bieten. Wie oft hatte er nackt genau an der Stelle gesessen wie sie jetzt? Die bei diesem Gedanken aufkeimende Verlegenheit wurde sofort durch die Erinnerung an größere Intimitäten abgelöst.

Energisch schrubbte sie die Haut mit einem groben Tuch und einem Schwamm, als ob sie das rohe Fleisch bloßlegen wollte, um die Beschmutzung durch die Sklaverei zu entfernen.

Das Wasser war nahezu kühl, als sie aus der Wanne stieg und sich abtrocknete. Ein Großteil der Blutergüsse auf der Haut, die bei ihrem Transport in den Palast entstanden waren, hatten hässliche grüngelbe Schattierungen angenommen. Bald würden die äußeren Zeichen der Brutalität vergangen sein. Aber die inneren Male ... nun, sie hatte sich lange genug dem

Selbstmitleid hingegeben. Es war Zeit, dass sie ihr Leben wieder in den Griff bekam.

Suryo hatte ihr einen langen Rock und ein Überkleid aus indischer Baumwolle in zarten blassblauen Tönen mitgebracht. Obwohl sie der Kleidung auf den Inseln sehr ähnelten, waren Größe und Schnitt westlich. Als sie beides angezogen hatte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit dem Piratenüberfall auf der Amsel wieder als sie selbst.

Um sich wieder an den bewährten Seemannsgang zu gewöhnen, ging sie in der Kabine auf und ab und knabberte an einem Stückchen Brot, das Suiyo auf dem Tablett gebracht hatte. Das war nicht nur Gavins Kabine; sie war auch für seine Frau gebaut worden. Darum gab es hier eine Sitzbadewanne, ein zweischläfriges Bett und kostbare chinesische Teppiche. Seine Liebe zu Helena zeigte sich in jedem Detail.

Ihr Blick fiel auf ein kleines Bild, das zwischen einem Bücherregal und einem eingebauten Schränkchen steckte. Sie ging näher heran und sah das Portrait einer jungen blonden Frau in einem chinesischen Seidengewand, die den Betrachter strahlend anlächelte. Das war also Helena. Zart und voller Liebreiz. Es war eine Frau, die liebte und wusste, dass sie geliebt wurde.

Unwillkürlich blickte Alexandra auf das Bett. Gavin und Helena hatten dieses Bett geteilt. Höchstwahrscheinlich war Helena Elliott hier gestorben. Doch hatte sie nicht das Gefühl, dass traurige Geister herumspukten. Geister entstanden aus Leid und Versäumnissen, nicht aber in einer glücklichen Ehe.

Da es Gavins Entscheidung gewesen war, sie in dieser Kabine unterzubringen, wollte sie als Erstes die zwischen ihnen entstandene Verlegenheit beheben. Er würde sie sonst für den Rest der Reise meiden und sich mit Selbstvorwürfen quälen. Das durfte nicht sein. Es war an ihr, den ersten Schritt zu tun.

Der Gedanke daran belastete ihren labilen Seelenzustand, aber je länger sie zögerte, desto mehr würde es sie bedrücken. Sie band das Haar mit einer Schleife zusammen — Suiyo hatte an alles gedacht — und verließ die Kabine, um an Deck zu gehen. Der Steuermann und der Wachoffizier befanden sich wieder am Achterdeck. Es war zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können, trotzdem glaubte sie, der Offizier sei der junge Erste Maat, der ihr vorgestellt wurde, als sie an Bord kam. Achtungsvoll neigte er bei ihrem Erscheinen den Kopf.

Sie wollte ihn gerade nach dem Kapitän fragen, als sie eine vertraute Gestalt am Schiffsbug ausmachte. Gavins Hände stützten sich auf die Reling. Das helle Haar wehte im Wind, während er reglos wie eine Marmorstatue in den dunkler werdenden Himmel starrte.

Unwillkürlich wischte sie sich die feuchten Handflächen am Rock ab und ging auf ihn zu. Ungefähr zwei Meter von der Reling entfernt hielt sie inne. Beunruhigende Erinnerungen an seine körperlichen Kräfte überkamen sie. Sie hatte erlebt, wie er die steile Felswand erklomm, gegen die Riesenechse kämpfte und den Meister des waffenlosen Zweikampfes besiegte — und sie hatte das Gewicht des starken männlichen Körpers auf sich gespürt.

Der Herzschlag beschleunigte sich aus einer unerklärlichen Furcht. Früher wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, einen Mann zu fürchten. Als Kind hatte sie vor nichts Angst und schon gar nicht vor den Männern in ihrem Leben.

Sie hasste es, Angst zu haben.

Die Kiefernmuskeln spannten sich. Von allen Männern dieser Erde war Gavin der letzte, den sie fürchten musste. Sie zwang sich zur Reling weiterzugehen, bevor sie die Nerven verlor. Er richtete sich steif auf, als er ihre Anwesenheit bemerkte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er fortgegangen wäre, aber er blieb stehen. Irgendwann würden sie vielleicht ihre Befangenheit belächeln, aber nicht heute Abend.

Sie hob das Gesicht der frischen Brise entgegen. Das rhythmische Steigen und Fallen des Bugs beruhigte ihre angegriffenen Nerven und erinnerte sie wieder an den Grund ihres Kommens.

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Gavin. Machen Sie sich keine Vorwürfe für das, was getan werden musste. Sie haben mich und sich gerettet. Das ist keine Sünde.«

»Vielleicht nicht. Aber eine Tugend ist es gewiss nicht.« Nach langem Schweigen sagte er: »Wir können in Batavia heiraten. Dort gibt es christliche Kirchen.«

»Heiraten?« Sie zuckte zusammen und starrte ihn fassungslos an. »Wie meinen Sie das?«

»Da wir uns wie ein Ehepaar verhalten haben, sollten wir das auch besiegeln«, sagte er knochentrocken und ohne Umschweife.

Sie hätte sich denken können, dass er auf diese Art reagieren würde. Er war ein Gentleman. Er hatte sie kompromittiert, und als Ehrenmann bot er ihr die Heirat an. Wieso beunruhigte sie diese Vorstellung so sehr?

Weil sie nie wieder in ihrem Leben eine Ehe eingehen würde. Weil sie sich nicht als Ehefrau eines anständigen Mannes eignete. Vor allem nicht als Gavins Frau.

Sie verwarf diesen Gedanken. Später würde sie sich ausführlich damit befassen. »Sie haben so viel für mich getan, aber das wäre des Guten zu viel. Sie haben mir gegenüber großen Edelmut bewiesen und um meinetwillen genügend Opfer gebracht. Auf keinen Fall sollten Sie jetzt auch noch eine Fremde heiraten.«

»Wir sind uns kaum mehr fremd, Alexandra.« Die tiefe Stimme klang kühl und emotionslos.

»Ich sehe keinen Grund, sich für ein Leben wegen eines Erlebnisses zu binden, das sich auf der anderen Seite der Welt abgespielt hat. Im Grunde wollen Sie mich nicht heiraten, und ich will mich weder an Sie noch einen anderen Mann binden. Damit ist das Thema beendet.«

Er lächelte schwach. »Jetzt verstehe ich, warum es Ihnen so schwer fiel, gehorsam zu sein.«

Die Röte stieg ihr in die Wangen. »Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich war. Halten Sie mich nicht für undankbar, Gavin. Ich schulde Ihnen mehr, als ich Ihnen in meinem Leben zurückzahlen kann. Es besteht kein Grund, meine Schuld noch zu vergrößern.«

»Sie zu heiraten betrachte ich nicht als Strafe, Alexandra. Ich glaube, wir würden ganz gut miteinander auskommen. Aber ...« Er zögerte und suchte nach den passenden Worten, »aber vielleicht steht zu viel zwischen uns, um jemals unbefangen miteinander umzugehen.«

»Ich möchte, dass wir Freunde sind. Ist das möglich?«

Sie spürte, wie seine Spannung nachließ. »Das möchte ich auch«, sagte er. »Die Reise nach England ist lang. Es ist besser, unbeschwert miteinander umzugehen, als täglich einen Eiertanz zu vollführen.«

»Einverstanden ... wir werden Freunde sein, so als ob ... als ob es die letzte Aufgabe des Löwenspiels niemals gegeben hätte.« Vergessen würde nicht so einfach sein, aber das gemeinsame Einverständnis, den Vorfall zu verdrängen, war ein Anfang. »Wenn Sie jemals wieder heiraten möchten, dann eine junge Braut, die das Leben nicht befleckt hat.«

»Das habe ich einmal getan. Ich werde eine unschuldige junge Frau nicht ein zweites Mal ins Verderben reißen.«

»Ins Verderben reißen?« Sie zog die Stirn in Falten und spürte, dass er unbeabsichtigt mehr gesagt hatte, als er wollte. »Aus allem, was ich gesehen und gehört habe, war Helena eine verehrte und geliebte Frau. Das hat wohl nichts mit Verderben zu tun.«

Er zögerte, bevor er stockend weitersprach. »Helenas Gesundheit war angegriffen. Ich war besorgt, dass das Leben an Bord für sie zu anstrengend sei, aber weder sie noch ich wollte, dass wir uns trennten. Hätte ich sie im sicheren Boston zurückgelassen, dann wäre sie jetzt vielleicht noch am Leben.«

Es zerriss ihr das Herz, als sie ihn anblickte. Wenn er glaubte, für den Tod seiner geliebten Frau verantwortlich zu sein, dann musste seine Schuld ins Bodenlose ausgeufert sein. Verständlich, dass er eine verzweifelte Sklavin retten musste. Um seinen tiefen Schmerz zu lindern, sagte sie: »Ich habe das Portrait von Helena gesehen. Sie haben ihr Jahre des Glücks geschenkt. Viele Frauen erleben dies in ihrem ganzen Leben nicht.«

»Wir waren glücklich«, stimmte er zu, »aber ihr Arzt in Boston hatte uns gewarnt. Es wäre gefährlich für sie, ein Kind zur Welt zu bringen. Hätte ich nicht ...« Er schwieg plötzlich.

Sie wusste, dass sie sich jetzt auf Glatteis befand. »Hatte Helena sich nicht dringend ein Kind gewünscht?«

Er sah sie an. »Woher wissen Sie das?«

»Ich bin eine Frau. Es ist natürlich, dass man sich von dem Mann, den man liebt, ein Kind wünscht.« Auch wenn die Ehe nicht so glücklich war, aber das sagte sie nicht. »Helena ist das Risiko freiwillig eingegangen. Und jetzt sind ... nun, jetzt ist sie mit Anna vereint.«

»Das würde ich gerne glauben«, flüsterte er heiser.

»Das können Sie.« Alex war sich einer Sache nie sicherer gewesen. »Wussten Sie, dass Achilles zwischen einem kurzen, ruhmreichen und einem langen, ereignislosen Leben wählen konnte? Er entschied sich für den Ruhm und starb jung, aber er ist unvergessen geblieben. Wenn Helena für Krankheiten anfällig war, dann haben Sie ihr das große Geschenk gemacht, sie zwischen Liebe und Abenteuer wählen zu lassen. Wir alle sterben. Und sie starb wenigstens dort, wo sie sterben wollte, und hatte mit dem Mann, den sie liebte, das getan, was sie sich wünschte. Und in Ihrem Herzen wird sie weiterleben. Sie haben sie nicht in den Tod getrieben, Sie haben ihr Leben erfüllt.«

Gavin stieß hörbar die Luft aus. »Vom Standpunkt einer Frau hatte ich das nie betrachtet.«

Sie sah wieder dieses feenhafte Wesen mit dem schimmernden Lächeln. Helena war zur Liebe geboren worden und hatte sich ihr aus freien Stücken hingegeben. Und sie hatte eine gute Wahl getroffen.

Alex wünschte, dass Edmund sie so innig geliebt hätte wie Gavin seine Helena und dass er seinem Ehegelöbnis treu geblieben wäre.

Sie zitterte ein wenig. Wahrscheinlich kühlte der Wind ab. »Ihr Großvater, der schottische Vikar, hat sich um seine Schäfchen verdient gemacht. Sie aber sind nicht für die Übel dieser Welt verantwortlich, Gavin.«

»Der Kapitän eines Schiffes ist für alles verantwortlich, was an Bord geschieht. Ein Grundsatz, den man schwer übergehen kann, aber ... ich werde es versuchen.«

»Denken Sie an die glückliche Helena. Das war der Kernpunkt Ihrer Ehe.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Das Schiff hob und senkte sich. Ab und zu spritzte das Wasser zu ihnen hinauf. Dann sagte er ruhig: »Danke, Alexandra. Sind Sie immer so weise?«

Sie war froh, dass sie helfen konnte, antwortete aber der Wahrheit entsprechend: »Wenn ich an Katie denke, bin ich überhaupt nicht weise. Glauben Sie, dass wir sie finden werden?«

»Das ist schwer zu sagen. Kasan meinte, sie sei in den Harem des Radscha von Sukau gebracht worden. Wenn sie noch dort ist, haben wir Glück. Suryo hat Erkundigungen eingezogen. Der Radscha ist ein älterer, hoch geachteter Mann.« Gavin blickte sie an. »Radscha Fahad ist der Vater von Kasans Hauptfrau.«

»Sie meinen, Katie wäre vielleicht als Geschenk zu Kasans Schwiegervater geschickt worden?«, fragte Alexandra erschrocken.

»Wahrscheinlich. Das besagt, dass Kasan mehr mit den Piraten verstrickt ist, als er zugeben möchte.«

Sie fluchte leise. »Der Mann ist ein Ungeheuer. Ich wünschte, Sie hätten ihm das Genick gebrochen.«

»Gewiss, er hat uns das Leben schwer gemacht, aber im Gegensatz zu anderen orientalischen Herrschern ist Kasan ziemlich fortschrittlich. Es gibt schauerliche Geschichten über sein Privatleben, von denen einige sicherlich wahr sind. Auch hat sein Volk nicht die Rechte der Engländer oder Amerikaner, aber trotzdem schlachtet er seine eigenen Leute nicht ab und treibt keine überhöhten Steuern ein, die seine Untertanen in den Hungertod treiben würden. Maduri ist stark und unabhängig und wird es aller Voraussicht nach auch bleiben.«

Sie dachte an die seltsame Verbundenheit dieser beiden Männer. »Sie bewundern ihn.«

»Ein wenig«, gab Gavin zu. »Aber auf keinen Fall möchte ich für ihn arbeiten. Er hat zu viel Macht, und das ist gefährlich. Er kommt mir vor wie ein verrückter englischer Herzog.«

Alexandra dachte an die englischen Herzöge ihres Bekanntenkreises, die eigentlich sehr kultiviert waren, gestand Gavin aber trotzdem seine republikanischen Prinzipien zu. Macht konnte tatsächlich verderben. »Hoffen wir, dass der Radscha von Sukau weder verrückt noch grausam ist. Wie weit ist es noch bis Java?«

»Drei oder vier Tage, wenn der Wind so bleibt.«

»Und was ist dann? Wie stellt man es an, bei einem orientalischen Herrscher eine Audienz zu bekommen und ihn um einen Gefallen zu bitten?«

»Nachdem wir vom Zoll in Sukau abgefertigt sind, werde ich Suryo mit einem ausgefallenen Geschenk in den Palast schicken. Ich habe eine französische Uhr, die aus Versailles stammen könnte. Sehr beeindruckend. Sie wird zeigen, dass wir reich genug sind, um die Aufmerksamkeit des Radschas zu erregen. Suryo wird um eine Audienz bitten. Dann warten wir ab.«

»Warten ist nicht meine Stärke, aber es ist das kleinere Übel.« Sie schloss die Augen und betete. Ein Wunder hatte sie aus der Sklaverei befreit. Jetzt brauchte sie ein zweites.