Kapitel 1

 

Ostindien, Frühling 1834

Die Stille weckte sie auf. Kein heulender Wind, kein ächzendes Holz, keine rollenden Wogen, die die Rippen des Schiffes zu zermalmen drohten. Alexandra Warren konnte es kaum glauben, dass die Amstel den Sturm heil überstanden hatte. Vorsichtig löste sie sich von ihrer schlafenden achtjährigen Tochter, knotete die Stricke auf, mit denen sie sich beide am Bett festgebunden hatten, und stand auf. Ihr schien, als hätten die unentwegt gegen das Schiff schlagenden Wellen jeden Zentimeter ihres Körpers erschüttert. Sie war zwei Tage und Nächte wach geblieben. Schließlich war sie dann mit Katie in den Armen vor Erschöpfung eingeschlafen.

Die Luke über der schmalen Kajüte zeigte einen heller werdenden Himmel. Ein neuer Tag brach an. Anscheinend hatte das Schiff in einer weiten, ruhigen Felsenbucht geankert. Hastig öffnete sie die Luke, um frische Luft in die stickige Kajüte zu lassen.

Der warme, würzige Lufthauch strich ihr über das Gesicht. Ein Segen des Himmels, dachte Alex und sprach ein Dankgebet. Sie hatten überlebt. Auch wenn sie Katie ihre Angst nicht gezeigt hatte, war sie überzeugt gewesen, dass die Amstel untergehen und sie England niemals wiedersehen würden.

Mit zwanzig hatte sie Major Edmund Warrens Heiratsantrag freudig angenommen. Ihr Vater, Stiefvater und Großvater waren Offiziere der Armee gewesen. Schon als Kind war sie während der Kriege auf der Pyrenäenhalbinsel unter den wachsamen Augen ihrer Mutter den Trommeln gefolgt. War es für beide dann nicht nur natürlich, dass sie ihn heiratete und an seiner Seite ein abenteuerliches Leben führen würde?

Obwohl Edmund ein guter Ehemann war, hatte der neue, raue australische Kontinent ihr statt Abenteuer erstickenden Snobismus geboten. Alex hatten ihre Heimat und ihre Familie mehr gefehlt als erwartet. Seitdem sie ein Kind hatte, verstärkte sich dieses Gefühl, denn es machte sie traurig, dass Katie weder ihre Großeltern, Onkel und Tanten, noch ihre Cousins und Cousinen kennen gelernt hatte.

» Mama?«

Alex blickte hinunter und sah, wie sich der Mund in dem blassen Gesichtchen ihrer Tochter zu einem ausgiebigen Gähnen öffnete. »Ich bin hier, Katielein.«

»Ist der Sturm vorbei?«

»Ja. Möchtest du hinausschauen?«

Katie kroch unter den Decken hervor und stellte sich auf das Bett, damit sie durch die Luke blicken konnte. »Wo sind wir?«

»Ich bin mir nicht sicher. Ich würde sagen, wir waren ungefähr zwei Tage südöstlich von Batavia, als der Taifun kam.« Sie strich die blonden Haare ihrer Tochter glatt, die sich während des Schlafes aus dem Zopf gelöst hatten. »Es gibt tausende und abertausende Inseln im Malaiischen Archipel — mehr als Sterne am Himmel. Manche Inseln sind zivilisiert, andere werden von Wilden bewohnt, und viele wurden noch nie von einem Europäer betreten. Aber Kapitän Verhoeven weiß bestimmt, wo wir sind. Er ist ein tüchtiger Seemann und hat uns wohlbehalten durch den Sturm gebracht.«

Jedenfalls hoffte sie, der Kapitän würde wissen, wo sie sich befanden. Er schien ein fähiger Mann zu sein. Als die erste Benommenheit nach Edmunds Fiebertod gewichen war, wollte Alex so schnell wie möglich nach Hause fahren. Sie buchte eine Passage auf der holländischen Amstel und wartete nicht auf eines der unregelmäßig fahrenden britischen Schiffe. Das Handelsschiff fuhr nach Kalkutta über Batavia und Singapur. In Indien würde es nicht schwierig sein, eine Passage zurück nach England zu finden. Obwohl die Mannschaft viel kleiner war als auf dem Marineschiff, das sie und Edmund nach Neu Süd Wales gebracht hatte, fehlte es Alex und Katie an nichts, und die Reise war angenehm gewesen, bis sie in den Taifun geraten waren.

»Ich hab Hunger«, sagte Katie weinerlich. »Können wir jetzt essen?«

Alex war auch hungrig. Das Feuer in der Kombüse war während des Sturms aus Sicherheitsgründen gelöscht worden. Auch wenn es einen Imbiss gegeben hätte, vor Übelkeit hätten sie nichts zu sich nehmen können. »Ich werde mal sehen, was ich in der Kombüse finde. Vielleicht ist der Koch schon auf den Beinen und macht uns Frühstück.«

Da Alex in ihren Kleidern geschlafen hatte, brauchte sie vor dem Verlassen der Kabine nur die Schuhe anzuziehen. Das Schiff war ruhig, bis auf das ständige Knarren des Holzes und Schaben der Taue. Wahrscheinlich hatte der Kapitän seiner erschöpften Mannschaft eine Verschnaufpause gegönnt, bevor die Schäden am Schiff begutachtet wurden.

Die Insel war immer deutlicher zu sehen, auch wenn über dem Wasser stellenweise noch dichte Nebelschwaden hingen. In der Nähe des Ruders entdeckte sie die dunklen Umrisse des wachhabenden Offiziers. Der großen, schlanken Gestalt nach zu schließen, schien es der junge holländische Zweite Maat zu sein. Auf ihre grüßend erhobene Hand antwortete er mit einer respektvollen Verbeugung.

Als Alex in Richtung Kombüse ging, hörte sie nicht weit vom Schiff entfernt ein gedämpftes Platschen. Sie zog die Stirn kraus. Ein springender Fisch?

Das Geräusch wiederholte sich. Angestrengt blickte sie durch den Nebel und hielt den Atem an, als die Schatten langsam erkennbar wurden. Es waren zwei Prauslange, schmale Boote, wie sie die Eingeborenen der Inseln benutzten. Mehrere Male waren Praus zur Amstel hinausgepaddelt, wenn sie dicht an einer Insel vorbeisegelte, um den Passagieren und der Mannschaft Früchte, Fisch und Geflügel anzubieten, und Alex hatte einer Frau eine Puppe für Katie abgekauft.

Aber sie wusste, dies waren keine friedlichen Händler. Nicht so früh am Morgen und so bemüht, kein Geräusch zu machen. Sie wusste, dass es auf diesen Inseln Piraten gab. Ein Stoßgebet zum Himmel schickend, dass sie sich getäuscht hatte, rannte sie zum Maat. »Sehen Sie! Da!«

Mit dem Blick folgte er ihrem ausgestreckten Arm und stieß einen kehligen Fluch aus. Eine kurze Warnung brüllend, stürzte er zur Hauptausstiegsluke, um die übrige Mannschaft zu wecken. Im ersten Prau erhob sich ein Malaie und schleuderte einen Speer. Er schoss über das Wasser und grub sich in die Kehle des jungen Maats. Wie gelähmt japste Alex nach Luft. Wie schnell war dem Frieden das Grauen gefolgt!

Die Praus gaben ihre Deckung auf und bewegten sich mit voller Kraft rudernd auf die Amstel zu. Furcht erregendes, dumpfes Kriegsgetrommel begleitete sie. Als sie sich dem Schiff näherten, teilten sie sich und kreisten die Amstel ein. Innerhalb weniger Minuten nachdem Alex sie zum ersten Mal gesehen hatte, schlugen Schiffsrümpfe gegen das Handelsschiff, Enterhaken flogen über die Reling, Piraten stürmten von allen Seiten an Bord. Sie schätzte, dass sich in jedem Prau ungefähr vierzig bis fünfzig Männer befanden — bei weitem mehr als die Mannschaft der Amstel.

Alarmiert durch die Rufe des Maats und die Kriegstrommeln, bewaffneten sich die Matrosen mit Messern und Spießen und machten die Geschütze in den Luken schussbereit, um das Schiff zu verteidigen. Die breitschultrige, mächtige Gestalt Kapitän Verhoevens eilte mit einer Pistole in jeder Hand an Alex vorbei. »Jetzt aber runter!«, brüllte er auf Englisch mit seinem starken holländischen Akzent. Ohne stehen zu bleiben, feuerte er eine Pistole ab. Ein tätowierter Pirat in einem Lendenschurz schrie auf und fiel über die Reling.

Nachdem sich Alex wieder gefasst hatte, raste sie unter Deck. Auf halbem Weg sah sie Katie bereits in der Kabinentür mit weit geöffneten Augen stehen. »Was ist los, Mama?«

»Wir werden von Piraten angegriffen, aber die Matrosen setzen sich kräftig zur Wehr. Der Kapitän sagt, wir sollen hier bleiben, bis alles vorbei ist und wir wieder in Sicherheit sind.« Während sie betete, dass die Angreifer in die Flucht geschlagen würden, schob sie ihre Tochter in die Kabine und verriegelte die Tür. Mit zitternden Händen zog sie ihren Überseekoffer unter dem Bett hervor und fuhr tastend unter die Kleidungsstücke, bis sie ein Kistchen gefunden hatte, das Edmunds Pistole enthielt. Gott sei Dank hatte sie bereits als junges Mädchen schießen gelernt. Nachdem sie die Waffe geladen hatte, setzte sie sich auf die Bettkante und legte den Arm um ihre Tochter.

»Was wird mit uns geschehen?«, fragte Katie und versuchte die Angst in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Fadenscheinige Lügen waren jetzt fehl am Platz. »Ich weiß es nicht, Liebling. Wir müssen auf ... auf alles vorbereitet sein.«

Drohende Schüsse und Schreie waren über ihnen zu hören, dann ein lautes Platschen. Alex stand auf und blickte aus der Luke. Eines der Rettungsboote der Anutel war zu Wasser gelassen worden. Mitglieder der Mannschaft ruderten wie wild in Richtung der Insel. Ein Matrose sprang ins Wasser und schwamm dem Boot unbeholfen nach.

Mit Schrecken stellte sie fest, dass die Schlacht verloren war. Wahrscheinlich würden die Piraten die Männer nicht weiter verfolgen, da sie mehr am Plündern als am Morden interessiert waren. Aber sie und Katie waren in einer Kabine gefangen, deren Luke zu klein war, um zu entfliehen. Ihr blieb bestenfalls die Hoffnung, dass man sie gefangen nahm und sie ihren Landsleuten gegen ein Lösegeld übergab. Und der schlimmste Fall — sie blickte zu Katie und schauderte — war nicht auszudenken.

Sie setzte sich wieder neben ihre Tochter. »Habe ich dir schon einmal erzählt, wie herrlich es ist, an einem verwunschenen, nebligen Morgen durch die grünen Hügel Englands zu streifen?«

»Erzähl es mir noch einmal, Mama«, flüsterte Katie.

Alex erzählte von ihren liebsten Erinnerungen, bis eine ungeduldige Hand an der Tür rüttelte. Ein heiserer malaiischer Fluch folgte bei der Entdeckung, dass sie verschlossen war. Weitere Stimmen. Dann krachte ein improvisierter Rammbock auf die Tür. Als das Holz unter den wiederholten Stößen zersplitterte, spannte Alex den Hahn der Pistole und zielte auf die Tür, dabei zwang sie sich, gleichmäßig zu atmen. »Ganz gleich, was passiert, Katielein, vergiss nie, wie sehr ich dich lieb habe.«

»Ich habe dich auch lieb, Mama.« Katie schmiegte sich so dicht an Alex, dass sie den Herzschlag des Kindes fühlte.

Die Tür wurde zertrümmert. Holzteile flogen in die Kabine. Ein riesiger, halb nackter Malaie mit einem wüsten schwarzen Bart und einem bunten Turban trat in geduckter Haltung ein. Er trug einen dieser gefährlichen Kris-Dolche mit gewellter Klinge. Kunstvolle Tätowierungen bedeckten den größten Teil seiner sichtbaren Haut. Aus seinem Gehabe und den reichen Ornamenten schloss sie, dass er der Anführer der Piraten war.

»Keinen Schritt weiter«, versuchte sie im Befehlston zu sagen.

»Pistole fallen lassen«, sagte er mit starkem, kaum verständlichem Akzent.

Verzweifelt erkannte sie ihre Hilflosigkeit, denn eine Kugel reichte nicht, um sie beide zu retten.

Der Anführer tat einen Schritt nach vorn, und hinter ihm rückten seine Männer nach. Sie hob die Waffe, den Lauf in Herzhöhe auf ihn gerichtet. Aus dieser Entfernung konnte sie ihn nicht verfehlen. »Noch einen Schritt, und ich bringe dich um.«

Er lächelte und entblößte vom Betelnusskauen braun gefleckte Zähne, die spitz zugeteilt worden waren. »Ergebe dich — leben. Schießen — beide sterben.«

Der Pistolenlauf zitterte. Mit ihrer einzigen Kugel konnte sie Katie vor Tätlichkeiten oder Sklaverei retten. Aber allmächtiger Gott im Himmel, sie konnte doch nicht ihr eigenes Kind töten!

Der Pirat nutzte das kurze Zögern und entriss ihr die Waffe.

Mit einer geübten Bewegung sicherte er die Pistole und steckte sie in den gebundenen Gürtel seines Sarongs. Aus zusammengekniffenen Augen begutachtete er seine Gefangenen. Der Blick des Wilden war heimtückisch und verschlagen. Er musterte Alexandras Gesicht und Figur wie ein Bauer ein Stück Vieh.

Sie zuckte zurück, als eine schwielige Hand ihr über die Wange strich. Solange es Leben gab, war Hoffnung. Sie würde verlangen, dass man sie gegen ein Lösegeld freigab. Ihre Familie hatte gute Verbindungen, also waren sie und Katie viel wertvoller als Sklaven.

Die Hand des Piratenhäuptlings wanderte weiter zu Katies Haar, das im frühen Morgenlicht golden aufleuchtete. »Schön.« Er streckte die Arme aus, um das Mädchen aus dem Bett zu heben.

»Nein!« Alexandra umklammerte ihre Tochter mit beiden Armen und trat nach ihrem Widersacher.

Fluchend wich er aus, so dass ihr Fuß nur seinen Schenkel traf. Auf seinen Wink hin traten zwei Männer vor und drückten Alexandra gewaltsam auf das Bett, während der Häuptling Katie aus den Händen der Mutter riss.

Von Angst gepackt, schlug Katie mit den kleinen Fäusten auf ihn ein. »Mama! Mama!«

»Katie!« Wie eine Wahnsinnige versuchte Alexandra sich freizukämpfen, um ihrer Tochter zu helfen. Mit verächtlicher Gelassenheit drehte der Häuptling seinen Kris um und versetzte ihr mit dem Griff einen Schlag auf den Kopf.

Sie war bereits bewusstlos, bevor ihre schreiende Tochter fortgetragen wurde.