Kapitel 32

 

Daisys Freund hatte sich bereits um fast eine halbe Stunde verspätet. Hoffentlich war er Gavin nicht begegnet und hatte die Flucht ergriffen, überlegte Alex, während sie am Schreibtisch weiterarbeitete.

Die Schritte waren so leise, dass sie den Ankömmling nicht bemerkte. Sie blickte erst von ihrem Schreibtisch auf, als die Bürotür aufgestoßen wurde. Mit grauenvoller Gewissheit wurde ihr klar, dass Gavins Ängste gerechtfertigt waren. Vier Männer traten nacheinander in das Büro. Von einem entflohenen schwarzen Sklaven keine Spur. Die ersten beiden waren rohe, hartgesottene Seeleute. Der dritte, ein drahtiger Mann des gleichen Typs, war der Angreifer, den sie in der Nacht zuvor kräftig in die Leisten getreten hatte.

Der vierte war Barton Pierce.

Obwohl er ihr nur einmal auf dem Ball der Ashburtons begegnet war, hatte sie sich den Namen und das Gesicht des Mannes gemerkt, weil Gavin nicht gut über ihn gesprochen hatte. Geschickt benutzte sie die am Schreibtisch liegenden Papiere als Deckung, schob die Pistole zu sich heran und verbarg sie in den Falten ihres Schals. Dann stand sie auf, um ihren Besuch zu begrüßen.

»Was für eine Überraschung. Mein Mann ist leider nicht hier, falls Sie ihn sprechen wollten, Sir Barton.« Sie überlegte, ob sie sagen sollte, dass sie Gavin und ein, zwei Dienstboten in Kürze erwartete, entschied sich aber dagegen, da Pierce und seine Kumpanen ihnen aus dem Hinterhalt auflauern könnten.

»Das ist mir bekannt. Ich habe ihn vor wenigen Minuten fortgehen sehen.« Pierce betrachtete sie prüfend. »Sie sehen nicht halb so gut aus wie meine Frederica, aber dank Ihrer vornehmen Verwandten waren Sie vermutlich eine begehrte Heiratskandidatin. Ihre Sippschaft wird schon dafür sorgen, dass Ihr Mann sich nicht wieder verheiratet, nachdem seine Frau verschwunden ist. Schade, dann hat er keine Erben für seinen kostbaren Grafentitel.«

Es war, als legte sich ihr eine eiskalte Hand auf die Schulter. »Ich habe nicht vor, zu verschwinden.«

Pierce lachte, als ob sie eine normale Unterhaltung führten. »Das liegt nicht bei Ihnen. Aber keine Angst, es wird Ihnen nichts geschehen. Kommen Sie mit.«

»In London gibt es immer ein wachsames Auge.« Sie blickte verächtlich auf seine widerlichen Spießgesellen. »Man hat Sie und Ihre Leute ins Haus gehen sehen, und man wird auch beobachten, wie Sie mich gegen meinen Willen hinausbringen.«

»Wir sind nicht zur Vordertür hereingekommen«, sagte Pierce aalglatt. »Ich habe das Lagerhaus nebenan unter falschem Namen gemietet. Die Gebäude sind miteinander verbunden und waren nur von einer alten vernagelten Holztür getrennt. Es war also ein Leichtes, in dieses Lagerhaus zu gelangen. Keiner hat uns kommen sehen, und keiner wird uns gehen sehen.« Seine Stimme wurde metallisch hart. »Und jetzt kommen Sie hierher und lassen sich freiwillig knebeln und an den Handgelenken fesseln. Wenn Sie Schwierigkeiten machen, dürfen meine Männer sich dabei ein wenig verlustieren.«

Der drahtige Mann knurrte. »Mit dieser Schlampe hab ich noch'n Hühnchen zu rupfen.« Auch wenn er nicht größer war als Alex, lief es ihr bei seinem heimtückischen Blick kalt den Rücken hinunter. Ein Jammer, dass sie statt wing chun nicht pentjak silat gelernt hatte, dann hätte sie ihm in der vergangenen Nacht möglicherweise das Genick gebrochen.

»Vielleicht später, Webb, jetzt haben wir keine Zeit dafür.« Pierce blickte sich im Büro um. »Wo hebt er das Bargeld auf? Wär' schade, wenn es verbrennt.«

Verbrennt? Jetzt bemerkte Alex, dass der Brandgeruch den des Tees überdeckte. Pierces Handlanger mussten im Lager unten Feuer gelegt haben. Alles, was Gavin hier mit viel Arbeit aufgebaut hatte, würde in Flammen aufgehen.

Der Griff um die Pistole wurde fester, während sie versuchte, ihrer wachsenden Panik Herr zu werden. Sie hatte zwei Schuss, aber das war nicht genug gegen vier kampferfahrene Männer.

Einen von ihnen musste sie weglocken. »In Lord Seabournes Schreibtisch befindet sich ein Safe.« Sie hatte den Titel absichtlich benutzt und weidete sich an Pierces grimmigem Gesicht, als er auf Gavins Büro zusteuerte. Da sie ihn in Bezug auf den Safe angelogen hatte, würde er einige Minuten mit Suchen beschäftigt sein.

Webb ging auf Alex zu. »Sly, Ned, helft mir beim Fesseln. Dieses Weib kennt nen Haufen schmutziger Tricks.«

Drei zu eins. Die Chancen standen auch nicht besser. Alex hob die Pistole und feuerte auf Sly ab, der ihr am nächsten stand. Als er ihre Waffe sah, schrie er überrascht auf und wich zur Seite aus. Dann drückte sie ab. Der Knall war ohrenbetäubend.

Es blieb noch eine Kugel. Sie richtete die Pistole auf Webb und drückte ein zweites Mal ab, als er auf sie zusprang. Er japste nach Luft und blickte sie erschrocken an. Blut breitete sich auf seinem Hemd aus. Er schwankte einen Augenblick, bevor er sich auf ihre Waffe stürzte.

Er bekam die Doppelläufige zu fassen. Da die leere Waffe für sie wertlos war, überließ Alex sie ihm. Dann rannte sie um den Schreibtisch und um den verwundeten Webb herum auf die Tür zu. Wenn sie es bis zum Treppenhaus schaffte, hatte sie eine Chance ...

»Metze!« Ned erwischte sie am Arm und schleuderte sie herum.

Bevor er zuschlagen konnte, landete sie einen Schlag mit der Handkante auf seine Kehle, dann machte sie eine blitzschnelle Wende und versetzte Sly, der sich ihr mit blutüberströmtem Oberarm von der Seite näherte, einen gezielten Fußtritt. Sly strauchelte. Der Schlag hatte seine Kniescheibe zerschmettert. Aber es gelang ihm trotzdem, sich auf den Beinen zu halten und sie am anderen Arm zu packen.

Durch den Tumult aufgeschreckt, kehrte Pierce zurück. »Zum Donnerwetter, könnt ihr denn nichts richtig machen?«, brüllte er seine Männer an. »Los, kommt, das Feuer breitet sich schnell aus, und wir müssen raus, solange das Treppenhaus noch sicher ist. Passt auf dieses verdammte Weib auf!«

Ein Schlag traf Alex' Hinterkopf. Im letzten klaren Bruchteil einer Sekunde dachte sie beruhigt, dass sie im Kampf sterben würde.

Katie. Gavin.

Dunkelheit...

Gavin ging unruhig vor dem Mietstall auf und ab, während ihm der jüngere Stallknecht der Seabournes verdrossen zusah. Gavin hatte es sich verkniffen, den jungen Burschen anzufahren, da der Arme keinen Grund hatte, sich Alex' Anordnungen zu widersetzen.

Aber sogar ein Blinder hätte Gavins Verärgerung gespürt.

Er zog die Uhr hervor. Nur noch fünfzehn Minuten bis zur verabredeten Zeit. »Ist die Kutsche bereit?«

»Ich werde nachsehen, Mylord.« Der junge Mann war froh, dass er einen Grund hatte, sich von seinem Herrn zu entfernen, und eilte in den rückwärtigen Teil des Stalls.

Vierzehn Minuten. Dreizehn. Sollte er jetzt abfahren? Noch nicht. Die Entfernung bis zum Lagerhaus betrug nur fünf Minuten, und Alexandra würde es nicht gerne sehen, wenn er ihren Informanten vertrieb.

Er versuchte seine wachsende Beklommenheit zu unterdrücken. Vielleicht rührte seine Unrast von den schweren, dunklen Wolken her, die am Himmel aufzogen und ein drohendes Unwetter ankündigten. Wahrscheinlich hatte Alex Recht, als sie ihm einmal vorgeworfen hatte, er müsse alles immer unter Kontrolle haben, was er von der jetzigen Situation nicht behaupten konnte.

Oder vielleicht war wirklich etwas faul.

Der Junge, der vorhin auf Gavins Pferd aufgepasst hatte, steckte seinen Kopf durch das Tor, das den Hof des Stalls von der Straße trennte. »Mister, war das Ihr Lagerhaus, in dem Sie vorhin waren?«

Gavin starrte ihn an. Dann wurde es ihm eiskalt. »Ja. Stimmt etwas nicht?«

»Es brennt«, sagte der Junge vergnügt.

Gavins Vorahnungen wurden grauenvolle Wirklichkeit. Er schwang sich in den Sattel seines wartenden Pferdes und brüllte Fitzgerald, dem Stallbesitzer zu: »Ruf die Feuerwehr!«

Wie ein Wahnsinniger galoppierte er den Ratclill Highway entlang. An der Kreuzung bog er in eine Straße ein, die zum Fluss führte. Am Himmel vor ihm war rechts eine Rauchsäule sichtbar. Als er die Straße mit den Lagerhäusern erreichte, sah er, dass die dichten Rauchschwaden vom Elliott House aufstiegen. Er betete zu Gott, dass Alex sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, und ritt auf das Feuer zu. Er zügelte das Pferd erst im letzten Augenblick, damit die Neugierigen, die das Unglück angelockt hatte, nicht unter die Hufe kamen.

Er sprang vom Pferd und bahnte sich einen Weg durch die immer dichter werdende Menschenmenge. »Meine Frau ist im Haus!«, schrie er. »Hat sie jemand gesehen?«

Ein verhutzelter Mann schüttelte den Kopf. »Keiner ist hier rausgekommen, seitdem Sie weggegangen sind.«

Nein! Nein! Er starrte auf die Flammen. Die furchtbare Gewalt des Feuers lähmte ihn, seitdem er damals als junger Matrose einen verheerenden Brand an Bord eines Schiffes erlebt hatte.

Aber Alex war im Haud. Er bezwang seine Panik und brach durch die Menge, die in respektvoller Entfernung vor den lodernden Flammen stand. Dann rannte er auf die Lagerhaustür zu. Da Alex die Tür nicht abgeschlossen hatte, würde er in Sekunden oben sein. Vielleicht lag sie bewusstlos am Boden. Er konnte es tun. Er misste es tun.

»Nee, mein Guter.« Ein hünenhafter Hafenarbeiter packte ihn und drückte ihn beinahe zu Boden. »Wenn sie da drin ist, dann ist sie weg.«

»Verdammt noch mal, lass mich gehen!« Bebend vor Furcht befreite sich Gavin aus dem Griff des Hünen. »Sie ist meine Frau. Ich muss sie da rausholen.«

Der Hafenarbeiter packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Sie kommen zu spät, Mann!«

Gavin wollte gerade einen pentjak—Griff anwenden, als ein donnerndes Krachen die Straße erschütterte. Er riss den Kopf herum und sah, wie das Dach des Lagerhauses zusammenbrach. Flammen und sich aufblähende Rauchwolken stiegen zum Nachthimmel empor, begleitet von einem metallisch harten Knallen und lauten Prasseln. Dann wurden die Fenster explosionsartig aus den Rahmen geschleudert und übersäten die Straße mit glutheißen Splittern, die Gavin und den Hafenarbeiter beinahe getroffen hätten.

Ein unkontrollierbares Zittern bemächtigte sich Gavin. Er weigerte sich, das, was er sah, zu akzeptieren. Alex durfte nicht tot sein. Sie war vollkommen gesund, als er von ihr weggegangen war. Sie hätte rechtzeitig fliehen können. »Vielleicht ist sie auf der Flussseite aus dem Fenster gesprungen, bevor das Gebäude eingestürzt ist.«

Der hünenhafte Mann sah ihn mitleidig an. Ohne sich um ihn zu scheren, arbeitete sich Gavin durch die Menge bis zum Ende des Lagerhauses vor, zu einer Seitenstraße, die zum Fluss führte. Sein Vorhaben wurde aber durch die Ankunft eines Löschfahrzeuges gestört. Die Londoner Feuerwehr wurde von Versicherungsgesellschaften finanziert, und es war daher ihre erste Aufgabe zu verhindern, dass die Flammen auf benachbarte Gebäude übergriffen.

Der Feuerwehrhauptmann rief seinen Leuten knappe Kommandos zu, als sie den Lederschlauch herauszogen und an einen Hydranten anschlössen. »Dieses und das angrenzende Gebäude sind verloren, aber es bleibt noch genügend Zeit, um den Rest des Blocks zu retten.« Mit lauter Stimme rief er: »Freibier für jeden, der beim Pumpen mithilft!«

Unter lauten Beifallsrufen drängte sich innerhalb weniger Sekunden eine Schar von Freiwilligen an den Pumpen. »Bier-O! Bier-O!«, riefen sie im Chor, während sie abwechselnd die Pumpe betätigten. Durch den kräftigen Druck schoss das Wasser aus den Schläuchen und ließ zischende Dampfwolken aufsteigen.

Ein weiteres Pumpenfahrzeug traf ein, als Gavin sich in der Seitenstraße befand, die zum Fluss führte. Nach Atem ringend rannte er zum Ufer und suchte die zur Themse gewandten Fassaden der Lagerhäuser ab. Das Elliott House war teilweise zusammengefallen und spuckte glühende Backsteinbrocken auf die Ladedocks und das Wasser. Er starrte auf das Inferno, das in seinem Lagerhaus ausgebrochen war. Groteskerweise erinnerte er sich, dass herrenlos gewordener Tee nicht im Brennofen der Zollbehörde verbrannt wurde, weil er explosionsartig abbrennt und bei dem kleinsten Versuch den Schornstein in Flammen aufgehen ließe.

Aber möglicherweise war Alex auf dieser Seite entkommen, bevor das Feuer weiter um sich griff. Vielleicht wartete sie beim Mietstall auf ihn. Er machte kehrt, suchte sie in der Menge, in den Ställen und fragte immer wieder, ob sie jemand gesehen hatte.

Nicht eine Spur.

Als er aus dem Stall zurückkehrte, brach das drohende Unwetter mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag aus. Der Himmel öffnete die Schleusen. Der Regen ergoss sich auf das Feuer und war weit wirkungsvoller als die vier Löschwagen, die sich mittlerweile eingefunden hatten. Die erste Gruppe der

Freiwilligen hatte sich erschöpft zurückgezogen und erfreute sich jetzt am Freibier. Gavin arbeitete an einer der Pumpen weiter, bis ihm der Rücken schmerzte und die Hände Blasen bekamen, und wehrte angebotene Hilfe barsch ab.

Das Gewitter verzog sich. Ein kalter, gleichmäßiger Regen ging nieder und vertrieb den größten Teil der Zuschauer. Als die letzten Flammen zischend verlöschten, berührte ein Mann Gavins Arm. »Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, Mylord.«

Gavin drehte sich um und blickte in ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Nach einigem Überlegen erinnerte er sich an den Konstabler, der ihnen in der vergangenen Nacht zu Hilfe gekommen war. War das erst gestern Nacht? »Das kann ich nicht, Konstabler Mayne. Meine Frau ist im Haus. Ich ... ich ... kann sie nicht zurücklassen.«

»Sie ist nicht mehr dort, Sir«, war die ruhige Antwort.

Jede Faser seines Körpers zitterte, als Gavin auf die verkohlten Ruinen blickte. Er konnte nicht mehr verleugnen, was geschehen war. »Sie ist tot, und es ist meine Schuld«, flüsterte er heiser.

Da eine Person als vermisst gemeldet worden war, durchsuchten die Mitglieder der Brigade das abgebrannte Gebäude, nachdem der Regen die Trümmer durchnässt hatte und keine Brandgefahr mehr bestand. Gavin wollte freiwillig mitsuchen, aber der Feuerwehrhauptmann lehnte entschieden ab. »Sie sind dafür weder ausgerüstet noch geschult, Mylord. Es könnte mich meinen Job kosten, wenn ich es Ihnen erlaube.«

Also wartete er den Rest der endlosen Nacht vor dem Gebäude ab. Der Morgen zog im Osten auf, als der Feuerwehrhauptmann auf ihn zukam. »Wir haben eine Leiche gefunden, Sir.«

»Ich will sie sehen.« Gavin wollte auf die geschwärzten Mauerreste des Gebäudes zueilen.

»Nein.« Der Hauptmann stellte sich ihm in den Weg. Konstabier Mayne tat es ihm nach. »Da ... gibt es nicht viel zu sehen. Nur so viel, um die Überreste als die eines menschlichen Körpers zu identifizieren. War Ihre Frau groß?«

Ihr Scheitel reichte ihm bis zu den Wangenknochen. Alex, verdammt noch mal, warum hadt du nicht auf mich gehört? Schaudernd atmete er tief ein. »Ja, sie ist ... sie war ... groß.«

Ein weiteres Mitglied der Brigade kam mit einem rußgeschwärzten Metallgegenstand auf sie zu.

Gavin erkannte die schwarzen Reste. Sie stammten von Alex' eleganter Taschenpistole. Das Feuer hatte den hölzernen Griff verbrannt und nur den verbogenen Doppellauf übrig gelassen. Damit erstarb der letzte Funken Hoffnung.

»Ja.« Die Hand zuckte, als er nach dem Metall griff. »Ja, er gehörte ihr.« Möge Gott ihrer unbezwingbaren Seele gnädig dein.

 

Gavin nahm kaum wahr, als der Diener ihn in die Kutsche verfrachtete, das Reitpferd festband und nach Hause fuhr. London erwachte unter einem sonnig blauen, rein gewaschenem Himmel, als sie am Berkeley Square ankamen. Müde torkelte Gavin aus der Kutsche. Ein Dienstmädchen, das gerade die Treppen schrubbte, blickte bei seinem Anblick entsetzt auf.

Den Grund dafür fand er sofort heraus, als er in das Haus ging und im Spiegel einen hohläugigen

Fremden erblickte. Sein Anzug war noch vom Regen durchnässt und an manchen Stellen von der heißen Asche verkohlt. Er selbst war mit Ruß verschmiert und sah aus wie ... wie ein Mann, der soeben die Frau seines Lebens verloren hatte.

Bard näherte sich geräuschlos und sah nicht ganz so untadelig aus wie gewohnt. Offensichtlich war die Unglücksnachricht eingetroffen. »Wie lauten Ihre Anordnungen, Lord Seabourne?«

Gavin riss sich zusammen und überlegte, was als Erstes getan werden musste. »Schicken Sie einen Lakaien zum Ashburton House mit der Nachricht vom ... vom Tod Ihrer Ladyschaft, damit ihre Eltern und die Ashburtons Bescheid wissen.« Andere Personen mussten es auch erfahren, aber viele hielten sich zurzeit nicht mehr in London auf. Das würde er später erledigen, im Augenblick war er zu erschöpft, um darüber nachzudenken.

Der Butler nickte ernst. »Soll ich Ihnen ein Bad zubereiten lassen?«

»Ich muss Miss Katie sprechen.«

Der Butler sah krank aus. Aber es war kein Vergleich zu Gavin, der sich sterbenselend fühlte, als er die Treppen zum Kinderzimmer hinaufstieg. Katie saß mit Miss Hailey beim Frühstück, als Gavin eintrat. Das Lächeln erstarb ihr auf den Lippen, als sie seinen Zustand sah. »Captain?«, fragte sie unsicher.

Der Anblick des kleinen Gesichtchens - Alex in Miniatur mit sonnenblondem Haar - brach ihm das Herz. »Ich habe ... sehr schlechte Nachrichten. Ein Feuer im Lager des Elliott Houses. Deine Mutter hatte dort gearbeitet, und ... und sie konnte nicht rechtzeitig entkommen.«

»Nein!«, schrie Katie, als sie vom Stuhl rutschte.

Die wasserblauen Augen waren weit aufgerissen. »Nein, Mama kann nicht auch tot sein. Sie kann nicht tot sein!«

»Es tut mir Leid, Katie.« Wäre er doch nur an Alex' Stelle umgekommen! Alles wäre ihm recht gewesen, wenn er ihrer Tochter jetzt nur nicht von dem Unglück berichten musste.

Katie brach in ein tiefes Schluchzen aus. Er kniete sich hin und umarmte sie. Gegen seine eigenen Tränen kämpfend sagte er ihr, dass sie in Sicherheit sei, dass sie geliebt werde und dass er immer für sie da sein würde, und dass ihre Mutter wie eine Heldin gestorben sei.

Sie blieben zusammen, bis sich ihm eine Hand leicht auf die Schulter legte. Er blickte auf. Es war seine Tante, Lady Jane Holland. »Mr. Suryo hat mir die entsetzliche Nachricht überbracht«, sagte sie leise. »Du brauchst jetzt Ruhe, Gavin. Miss Hailey und ich kümmern uns um Katie.«

Benommen stand er auf und überließ Katie den mütterlichen Armen Lady Janes. Einen Stock tiefer machte er einen Bogen um Alex' Zimmer, um die quälenden Erinnerungen an Freude, Lust und Glück zu vermeiden, und ging in sein Zimmer. Ohne auf seine verschmutzte Kleidung zu achten, sank er auf das Bett und schlief den traumlosen Schlaf eines Erschöpften.

 

Als er aufwachte, war es wieder Abend geworden. Er lag auf dem Rücken und starrte mit leeren Augen an die Decke. Nach Helenas Tod dachte er, er könne niemals wieder diese Verzweiflung und diesen Schmerz spüren, aber er hatte sich geirrt. Anscheinend behielt man die Fähigkeit zu leiden sein Leben lang.

Er zwang sich, seine Gedanken zu ordnen und an all die Dinge zu denken, die jetzt getan werden mussten. Er musste der Versicherung den Schaden melden, er musste neue Büroräume finden und sicherstellen, dass man sich um seine Angestellten kümmerte.

Und die Beerdigung? Er konnte nichts entscheiden, bevor ihre Eltern aus Wales eingetroffen waren, was mindestens drei oder vier Tage dauern würde. Es war denkbar, dass sie Alex mitnehmen würden, damit sie im Frieden der walisischen Hügel ruhen konnte.

Er fürchtete die Begegnung mit den Kenyons. Er hatte gelobt, sich um Alex zu sorgen, und er hatte versagt. Als er die Beine aus dem Bett schwang, fiel ihm ein, dass ihre Eltern darauf bestehen könnten, Katie zu sich zu nehmen. Er hätte sie gerne bei sich gehabt, wusste aber nicht, ob er gesetzlich dazu berechtigt war. Und vielleicht würde sie mit ihren Großeltern und der kleinen Nichte, die wie eine Schwester für sie war, glücklicher sein.

Er rieb sich die Stirn und verschmierte den Ruß. Gestern noch war Alex quicklebendig gewesen. Wenn er seinem Instinkt gefolgt wäre und ihr verboten hätte, diesen Fremden allein zu treffen, würde sie jetzt noch leben.

Zum ersten Mal fragte er sich, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte. Weder das Feuer noch Alex Tod waren Zufall. Hatte der Besucher sie ausrauben wollen und sie getötet, weil sie Widerstand leistete? Und hatte er dann das Lagerhaus angezündet, um sein Verbrechen zu vertuschen? Hatte dieser Mann Komplizen gehabt?

Er musste unbedingt mit der Frau sprechen, die diese tödliche Begegnung in die Wege geleitet hatte.

Er läutete nach einem Bad und verlangte Daisy zu sprechen. Während er sich wusch, rasierte und ankleidete, wurde das Haus von oben bis unten durchsucht.

Daisy Adams war verschwunden.

 

Gavin zwang sich, so spät am Abend noch etwas zu essen. Als Bard eintrat, spülte er den letzten Bissen mit einem Schluck Wein hinunter. »Zwei Herren sind da. Sie sagen, Sie müssten unbedingt mit Ihnen reden.«

»Ich bin für niemanden zu sprechen.«

Verlegen fuhr der Butler fort: »Sie sind von der Londoner Polizei, Mylord.«

Vielleicht hatten sie Informationen über die Ursache des Brandes, fragte er sich und stand auf. Im Empfangssalon wartete Konstabler Mayne mit ausdruckslosem Gesicht und ein weiterer Mann, der wie ein hochrangiger Polizeibeamter aussah. Letzterer sagte: »Ich bin Kommissar Blake von der Londoner Polizei. Sind Sie Gavin Elliott, der siebente Earl of Seabourne?«

»Ja, der bin ich. Wissen Sie Näheres über die Brandursache? Ich glaube nicht, dass es ein Zufall war.«

Er wollte ihm von Alex' Verabredung berichten, als Blakes Blick ihn davon abhielt. »Mylord, es ist meine Pflicht, Sie wegen Mordes an Ihrer Frau, Alexandra Elliott, der Countess of Seabourne, zu verhaften.«