Kapitel 16

 

In Alexandras Augen war Gavin ein angenehmer Ehemann, der keine Forderungen stellte. Seitdem sie sich an Bord des Schiffes befanden, hatten sie und Katie die Mahlzeiten mit dem Ersten und Zweiten Maat eingenommen. Auch wenn sie beim Frühstück und Mittagessen diese. Gewohnheit beibehielten, aßen sie als Familie in der Kabine des Kapitäns zu Abend.

Das Abendessen entwickelte sich rasch zu einem gemeinsam verbrachten Abend, bis es für Katie Zeit zum Schlafengehen war. Entweder spielten sie Karten oder Alex las Geschichten vor, an denen Gavin wie Katie Freude hatten. Manchmal berichtete Gavin seiner Stieftochter auch von seinen Reisen und gab ihr damit gleichzeitig unbemerkt Unterricht in Erdkunde.

Alex liebte diese Reiseberichte mehr als ihre Tochter. Gavin war nicht nur ein witziger Geschichtenerzähler, sondern gab auch viel über sich preis, wenn er von seinen ausgedehnten Reisen in exotische Länder berichtete, über seine Erfolge und Fehlschläge. Sie hatte immer gewusst, dass er ein bemerkenswerter Mann war, aber seine witzigen Anekdoten, in denen er oft sehr bescheiden von sich sprach, machten ihn noch liebenswerter.

Ein neuer Ehemann, kaum ein Jahr nach Edmunds Tod. Niemals hätte sie sich das vorstellen können. Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte sie Gavin statt Edmund mit achtzehn Jahren kennen gelernt. Wahrscheinlich wäre es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hätte sich unsterblich in ihn verliebt, wie es ihr jetzt nicht mehr möglich war.

Sie hätten sich auch später begegnen können, auf der Helena im Hafen von Sydney, als sie eine Passage nach London gesucht hatte. Damals wäre eine leidenschaftliche Liebe zu ihm noch denkbar gewesen. Sie wäre nicht in die Sklaverei geraten, und ihr wäre die furchtbare Trennung von ihrer Tochter erspart geblieben.

Auf der langen Seereise nach England wären sie sich als verwitwete Frau und verwitweter Mann langsam näher gekommen und hätten sich kennen und lieben gelernt.

Stattdessen war sie bis ins Tiefste ihrer Seele verwundet worden, und Gavin hatte sie aus Mitleid geheiratet, auch wenn er es immer wieder abgestritten hatte. Er hatte sie wie eine verletzte Katze oder einen verletzten Hund aufgenommen. Wenn ihre Gedanken an diesem Punkt angelangt waren, tröstete sie sich immer damit, dass sie sich ohne ihr tragisches Schicksal niemals begegnet wären. Jeder hätte zwölftausend Seemeilen für sich allein als Mrs. Warren und Kapitän Elliott zurückgelegt, und sie wären für immer Fremde geblieben. Ihr und Katie wäre viel erspart geblieben, wäre ihre Heimfahrt friedlich verlaufen — aber dennoch hätte ihr etwas in ihrem Leben gefehlt, wenn ihr Gavin nicht begegnet wäre. Sie musste das, was ihr geschehen war, akzeptieren und das Beste daraus machen.

Sie hatten den größten Teil des Indischen Ozeans überquert, bis sie ein anderes Segelschiff zu Gesicht bekamen. Gavin bat Alex und Katie an Deck, als das Schiff ihrem Kurs so nahe wie möglich gekommen war. Als das Schiff zum Gruß eine Signalflagge dippte, fragte er: »Kannst du mir sagen, unter welcher Flagge dieses Schiff segelt, Katie?«

Sie beschattete die Augen mit der Hand. »Holländisch?«

»Ausgezeichnet.«

Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn, als er das Schiff eingehender betrachtete, das jetzt nahe genug war, um die Männer am Achterdeck zu erkennen. »ich vermute, dass dieses Schiff in Portugal gebaut wurde und dann während mehrerer Jahre im Osten umgerüstet wurde.«

»Du kannst ein Schiff wie ein Buch lesen«, bemerkte Alex.

Er grinste. »Auf See hat man oft nichts Besseres zu tun.«

»Der Ozean muss sehr, sehr groß sein«, meinte Katie feierlich.

»Ja, so ist es, Katielein«, antwortete Gavin. »Ich kenne einen Schiffseigner aus Neuengland, der tatsächlich eines seiner Schiffe im Mittelmeer gesehen hatte. Ein so seltenes Ereignis, dass wir noch heute davon sprechen. Wie du ja weißt, sehen wir meistens nur den Ozean.«

»Auf der Karte habe ich gesehen, dass wir in der Nähe einer großen Insel sind, die Madagaskar heißt«, sagte Katie. »Gehen wir dort vor Anker, um frisches Wasser und Proviant aufzunehmen?«

»Nein, Madagaskar ist dafür nicht sicher genug. Normalerweise halten wir bei St.Helena im südlichen Atlantik. Es würde etwas länger dauern, aber wir könnten stattdessen unsere Fahrt in Kapstadt unterbrechen. Die Stadt ist herrlich gelegen, so schön wie Sydney.« Er blickte zu Alex. »Möchtest du Kapstadt sehen, oder ist es dir lieber, wenn wir keine Zeit verlieren?«

Sie zögerte. »Ich denke nein. Du willst Tee und Gewürze verkaufen, und ich möchte England und meine Familie so schnell wie möglich wiedersehen.«

»Captain! Seht Euch den Holländer an!«, brüllte Benjamin Long, der mit seinen Leuten Wache hatte.

Überrascht entdeckte Alex die viereckigen dunklen Löcher, die in einer Reihe unter den Dollbords erschienen. Doch keine Geschützluken ...

Licht blitzte schubweise aus den Luken auf, gefolgt von dichten Rauchschwaden. Als der Donner über das Wasser rollte, brüllte Gavin: »Klar zum Gefecht!«

Mit unglaublicher Schnelligkeit hob er Katie hoch, packte Alex am Arm und zog sie zu der nächsten Einstiegluke. Als er beide durch die Luke geschoben hatte und sich hinterher fallen ließ, schwankte die Helena unter der Wucht der aufprallenden Kanonenkugeln. Das Geräusch von splitterndem Holz erfüllte die Luft. Alex hielt nur mit Mühe das Gleichgewicht, als Gavin auf dem Boden ankam und darauf achtete, Katie nicht mit der Wucht seines Körpers zu treffen.

»Großer Gott!«, keuchte Alex. Als sie durch die Luke blickte, sah sie die Spitze des Besanmastes abknicken. Gespenstisch langsam fiel er in einem Gewirr von Segeln und Tauwerk auf das Deck. »Warum schießen die?«

»Das ist kein holländisches Handelsschiff«, knurrte er grimmig. »Du bleibst mit Katie in der Kabine, bis wir in Sicherheit sind. Halte dich von den Heckluken fern!«

Sie merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Piraten?«

»So was Ähnliches.« Er sah sie an, und sein Blick wurde eiskalt und starr. »Die Helena wird nicht gekapert, Alex. Ich schwöre es.« Dann war er fort.

Alex nahm Katie bei der Hand und rannte mit ihr den Gang zur Kabine entlang, während eiliges Füßegetrappel über und hinter ihnen zu hören war. Eine zweite Salve von Kanonenkugeln schlug ein und ließ das Schiff wieder erbeben. Diesmal hörte man den Schrei eines Verwundeten.

»Hab keine Angst, Mama. Es wird alles gut werden«, sagte Katie ernst. »Der Captain hat gesagt, sie werden uns nicht kapern.«

Alex war nicht so optimistisch. Sie vermutete eher, Gavin hatte damit gemeint, dass die Helena lieber bis zu ihrem Untergang kämpfen werde, ehe sie sich ergab. Sie war froh, dass Katie nicht an diese Version dachte, und sagte ruhig: »Wer uns auch angegriffen hat, er wird eine böse Überraschung erleben. Suryo hat gesagt, die Helena hätte mehr und mächtigere Geschütze an Bord als die meisten Schiffe ihrer Größe und dass sie außerdem sehr schnell sei. Im Nu werden wir außer Gefahr sein.«

Sie öffnete die Kabinentür, schob die Tochter hinein und wünschte, sie könne ihrem Optimismus Glauben schenken. Aus Gavins Worten schloss sie, dass der Angreifer ein Pirat war, der ein gekapertes europäisches Schiff benutzte und unter holländischer Flagge segelte, um in die Schussweite reicher Handelsschiffe zu gelangen.

Die Piraten versuchten die Masten der Helena zu kappen, damit sie geentert werden konnte. Schließlich machte es keinen Sinn, ein Schiff mit wertvoller Fracht zu versenken. Sollte die Helena den Anschein erwecken, dass ihr die Flucht gelang, dann, nun dann würden die Piraten kurzen Prozess machen und das Schiff sofort versenken, damit es keine Zeugen für ihre verbrecherische Tat gab.

Der Kanonendonner war betäubend nahe. Erstaunt nahm Alex wahr, dass die Geschütze der Helena das Feuer bereits erwiderten. Sie hatte zwar gewusst, dass an Bord regelmäßig Schießübungen abgehalten wurden, aber es war ihr mehr als Routine erschienen als eine Vorbereitung auf den Ernstfall. In den malaiischen Gewässern fanden Piratenüberfälle meistens aus einem heimtückischen Hinterhalt statt, und es wurde von Mann zu Mann gekämpft. Während all dieser friedlichen Wochen hatte Gavin sein Schiff und seine Mannschaft stets in Bereitschaft gehalten, nur für den Fall.

Beißender Qualm drang in die Kabinen. Als die Geschütze der Helena wieder feuerten, legte sie schützend die Arme um Katie und kauerte sich in eine Ecke der Kabine, die ihr als der sicherste Platz erschien. So unbefangen wie möglich sagte sie: »Deinen Cousins und Cousinen in England wirst du stundenlang von deinen Abenteuern berichten können. Sie werden staunen!«

Katie brachte ein Lächeln zustande, aber sie sah blass aus. »Ich bin froh, dass der Captain das Kommando hat.«

»Ich auch, mein Schätzchen. Er ist auf alles vorbereitet. Darum konnten wir das Feuer so schnell erwidern.« Und er würde nicht auf die Masten des feindlichen Schiffes zielen - er würde schießen, um zu töten. Inbrünstig hoffte sie, dass er den Kampf schnell und siegreich beendete.

Das Warten schien endlos, während Alex Katie an sich presste und versuchte, ihre Angst in Grenzen zu halten. Lange, unheimlich ruhige Intervalle lösten sich mit Furcht erregendem Geschrei und Getöse ab. Das Schlimmste daran war, dass man nicht wusste, was geschah.

Obwohl sie den Kampf auf Leben und Tod der Gefangenschaft vorzog, konnte sie ihrer Tochter dieses Schicksal nicht wünschen. Wurden sie jedoch wieder gefangen genommen, dann gelangte Katie sicherlich nicht wieder in so freundliche Hände wie in Sukau. Die in Aussicht stehenden Möglichkeiten waren so furchtbar, dass sie sich lieber auf die wohl vorbereitete Mannschaft und das Schiff konzentrierte - und auf Gavin in der Schusslinie am Achterdeck.

Wie sie es hasste, so hilflos zu sein!

Suryo stürzte nach flüchtigem Anklopfen zur Tür herein. »Puan, verstehen Sie etwas von Medizin? Einige Männer sind verwundet und brauchen Hilfe.«

Ihre Furcht verging sofort. »Lass die Verwundeten auf das Zwischendeck bringen. Ich werde mich dort um sie kümmern.«

Als Suryo hinauseilte, stand Alex auf und öffnete den Schrank mit dem Arzneikasten. Auf einem Handelsschiff hatte der Kapitän im Notfall auch die Aufgaben eines Arztes zu übernehmen. Gavin war dafür bestens ausgerüstet.

Da sie die schwere Kiste nicht heben konnte, packte sie einen Griff an der Längsseite und zog sie über den Fußboden zur Tür. »Katie, du bleibst hier. Geh auf keinen Fall an Deck. Es sei denn, der Kapitän oder ich erlauben es dir.«

Katie lief ihr auf dem Gang nach. »Ich will mithelfen !«

Einen Augenblick lang zögerte Alex. Dann erinnerte sie sich, dass sie nicht viel älter gewesen war, als sie ihrer Mutter nach der Schlacht von Quarte-Bras half, die verwundeten Soldaten zu verarzten, die durch die Straßen von Brüssel taumelten. »Gut. Aber wenn du dich fürchtest oder dir übel wird, geh wieder in die Kabine zurück. Ich möchte mir auf keinen Fall auch noch um dich Sorgen machen.«

Katies Kiefer spannten sich kampflustig. »Ich habe keine Angst, und mir wird nicht schlecht.« Für einen kurzen Augenblick sah Alex sich selbst als Kind. Der Sinn für die Krankenpflege war bei den Frauen ihrer Familie wohl besonders stark ausgeprägt.

Als sie zum Zwischendeck gelangten, lagen bereits zwei Verwundete am Boden. Alex öffnete den Medizinkasten und machte eine kurze Bestandsaufnahme. Instrumente, Verbandszeug, Gipsverbände, Salben und Opium. »Katie, hol einen Krug frisches Wasser. Gib den beiden Männern zu trinken. Dann holst du mehr Wasser zum Auswaschen der Wunden.«

Einer der Männer, ein Amerikaner, der Katie immer begeistert angelächelt hatte, lag neben einem Fass Zitronen, die gegen den Skorbut mitgenommen wurden. Der starke Zitronenduft mischte sich mit dem metallischen Geruch des Blutes, das aus den durch Holzsplitter aufgerissenen Wunden floss. Als sie sich neben ihn kniete, sagte er schwer atmend: »Mit mir steht es nicht so schlimm, Ma'am. Sehen Sie sich lieber Ollie dort drüben an.«

Als sie sich überzeugt hatte, dass sein Zustand nicht kritisch war, kümmerte sie sich um den zweiten Mann, einen Cockney. Sein Unterschenkel war von einer Kanonenkugel zertrümmert worden und würde später amputiert werden müssen. Aber die Blutung musste sofort gestillt werden, sonst würde er die nächste halbe Stunde nicht überleben.

Eine unendliche Ruhe senkte sich über sie, als sie sich an die Feldlazarette der Halbinsel erinnerte und später an die Zeit, als sie auf dem Gut des Colonels ihrer Mutter bei der Krankenpflege zur Hand ging, wenn die Pächter und deren Familien ihrer Hilfe bedurften. Alex war keine Ärztin, aber sie hatte viel Erfahrung. Sie konnte Blut sehen und hatte gelernt, dass ein gesunder Menschenverstand sowie die wichtigsten Grundkenntnisse in der Medizin Menschenleben retten konnten.

Nachdem sie Ollies zerquetschtes Bein mit einer Aderpresse versorgt hatte, verabreichte sie ihm eine Dosis Opium und wandte sich wieder dem Amerikaner zu. Mit einer Pinzette zog sie sorgfältig Splitter und Stoffreste aus dem Fleisch, bevor sie die Wunde reinigte und verband. Als sie fertig war, richtete er sich taumelnd auf und humpelte fort zu seinen Kanonieren. Sie wollte protestieren, hielt aber den Mund. Die Mannschaft eines Handelsschiffes lag zahlenmäßig weit unter der eines Schiffes der Kriegsmarine. Jeder Mann wurde an Deck oder an den Geschützen gebraucht.

Zwei weitere Verletzte waren zum Verbinden gekommen, um sich gleich wieder in das Kampfgetümmel an Deck zu stürzen. Wie im Fluge verging die Zeit mit dem Reinigen von Wunden, über die sie manchmal auch nur puren Whiskey goss — eine beliebte Behandlungsmethode ihrer Mutter —, um sie dann ordentlich zu verbinden. Zum Glück waren nur wenige Männer ernsthaft verletzt, aber es gab viele kleine Wunden zu verarzten. Katie arbeitete schweigend neben ihr. Sie schenkte Wasser aus, reichte Verbandszeug und Instrumente. Sie machte sich nützlich, wo sie nur konnte. Was für ein wunderbarer Mensch!

Alex war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie weder den beißenden Qualm, die Erschöpfung und Übelkeit spürte, noch die schmerzhaften Krämpfe durch das zu lange Knien. Sie nahm kaum wahr, dass die Geschütze das Feuer einstellten.

Sie verband ihren letzten Patienten, als ihr jemand leicht auf die Schulter tippte. »Alex?«

Sie verknotete den Verband, bevor sie zu Gavin hinaufblickte. Auch wenn er erschöpft und rußverschmiert aussah, fehlte ihm nichts. Leicht benommen vor Müdigkeit fragte sie: »Ist es vorbei?«

»Das Piratenschiff ist gesunken. Keine Überlebenden.« Seine Augen hatten das eisige Grau des winterlichen Meeres angenommen. »Madagaskar war immer schon ein berüchtigtes Piratennest gewesen. Eine aus Asiaten und Europäern zusammengewürfelte Mannschaft hatte anscheinend vor, die Tradition mit einem gekaperten Schiff fortzusetzen.«

Sie nickte. Es überraschte sie nicht, dass beutegierige Piraten die reich beladenen Handelsschiffe auf der Route zwischen Indien und Europa überfielen. »Mögen sie allesamt in der Hölle schmoren.«

»Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.«

Hätte Alex Gavin nicht gekannt, wäre sie über seinen Gesichtsausdruck erschrocken. Aber schwache Männer gründeten keine Handelsimperien. »Wie groß ist der Schaden der Helena?«

Das Gesicht entspannte sich. »Wir hatten Glück. Die Hälfte der Segel und des Tauwerks muss ersetzt werden. Zwei Masten sind beschädigt, aber wenn wir bei schwerem Wetter nicht viel Segel tragen, werden sie es bis England schaffen.« Er sah sich am Zwischendeck um, wo vier schwer verwundete Männer unter dem Einfluss von Opium schliefen. »Außerdem haben wir nicht einen Mann verloren. Wahrscheinlich wären zwei oder drei Matrosen gestorben, wenn du ihre Wunden nicht sofort behandelt hättest.

Nun ... jetzt haben sie wenigstens eine Chance. Du hast Großartiges geleistet. Du und Katie.« Sein anerkennendes Lächeln ließ Katie über das ganze Gesicht strahlen.

Die Gefahr der Infektion lauerte überall, aber es waren kräftige Männer. Ihre Hoffnung, dass sie überleben würden, war berechtigt. »Ollies Unterschenkel muss amputiert werden.« Erschöpft stand sie auf. »Ich habe so etwas noch nie gemacht, nur einmal dabei zugesehen. Ich ... ich werde mein Bestes tun.«

»Du hast genug getan.« Er verzog das Gesicht. »Ich habe schon mehrere Amputationen durchgeführt, also werde ich das übernehmen. Man braucht viel Kraft und brutale Entschlossenheit, und du siehst mir ziemlich erschöpft aus. Seit Stunden bist du hier schon im Einsatz.«

Jetzt, nachdem ihre Arbeit beendet war, merkte sie, wie schwach und elend sie sich fühlte. Die Krämpfe, die sie seit Stunden quälten, wurden so akut, dass sie sich die Hand auf den Bauch presste, um den Schmerz zu lindern. »Ich müsste mich ein wenig ausruhen.«

Sie machte einen Schritt und spürte, dass ihr die Knie den Dienst versagten. Als sie zu Boden sank, fing Gavin sie auf. »Du blutest!«

Bevor sie ohnmächtig wurde, sah sie eine Blutlache auf dem Boden.

 

Sie erwachte langsam. Sie fühlte sich dumpf und leer wie eine Schote im Herbst. Es war Nacht. Irgendwo links von ihr brannte eine Lampe. Unklar erkannte sie, dass sie in ihrem Bett in der Kapitänskabine lag.

Als sie den Kopf ein wenig nach links drehte, entdeckte sie Gavin, der in seinem Kapitänsstuhl eingenickt war. Sein Gesicht war grau vor Erschöpfung. Die langen Beine hatte er vor sich ausgestreckt. Sie versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Nachdem sie sich die Lippen befeuchtet hatte, flüsterte sie blechern: »Wo ist Katie?«

Er öffnete die Augen. »Sie schläft in meiner Kabine. Suryo ist bei ihr, falls sie Albträume hat. Sie war tapfer wie ein Soldat.« Er füllte ein Glas mit Wasser und hob Alex' Kopf vom Kissen, damit sie trinken konnte.

»Danke.« Sie machte kleine Schlucke, bis das Glas halb leer war. Mit einem Kopfschütteln sagte sie, dass sie genug hatte. Als Gavin sie wieder auf das Bett sinken ließ, flüsterte sie: »Ich hab das Kind verloren, nicht wahr?«

Er nickte. »Ja, mit einer Menge Blut. Es sind jetzt vierundzwanzig Stunden vergangen, seitdem du zusammengebrochen bist.«

»Vermutlich sollte ich mich freuen, und doch fühle ich mich so ... so leer.« Sie schloss die Augen und versuchte vergebens, die Tränen zurückzuhalten. »Konnte man sehen, wer es gezeugt hatte?«

»Nein. Es war zu früh.«

»Mein Hass hat es umgebracht. Großer Gott, wann wird das alles endlich vorbei sein?« Heftiges Schluchzen schüttelte sie.

Er versuchte sie zu trösten, indem er ihre Hand nahm. »Es war noch kein Kind, nur die Andeutung eines menschlichen Körpers. So krank wie du warst, hättest du vermutlich sowieso eine Fehlgeburt erlitten.« Nach langem Schweigen fügte er hinzu: »Helena hatte zwei Fehlgeburten, bevor sie ... ein Kind austragen konnte.«

Das Kind, dessen Geburt Helena getötet hatte. Alex drückte die Wange an seine Hand und weinte hemmungslos. Sie hasste sich für ihre körperliche Schwäche und konnte es nur schwer ertragen, dass sie über den Verlust zugleich traurig und froh war. Als sie keine Tränen mehr hatte, fragte sie ihn flüsternd: »Was ist mit dir? Du wirst erleichtert sein, dass du nicht das Kind eines Vergewaltigers großziehen musst.«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll. So ist es natürlich einfacher, aber ich bin auch ... enttäuscht. Im Stillen hatte ich gehofft, es wäre mein Kind. Und wenn nicht ... nun, jedes Baby ist eine neue Hoffnung. Dieses hier wäre unser Kind gewesen, gleichgültig wer der Vater war.« Mit der freien Hand strich er ihr tröstend über den Rücken. »Am schlimmsten waren die Stunden, in denen ich fürchtete, dich zu verlieren. Aber du hast überlebt, Alexandra. Du bist die stärkste Frau auf Gottes Erden.«

»Der Grund für unsere Heirat existiert nicht mehr«, sagte sie unendlich müde. »Es ist noch keine richtige Ehe geworden — vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sie aufzulösen.«

»Alex, was redest du da!« Seine Hand schloss sich fester um die ihre. »Eine Ehe bedeutet mehr als intime Beziehungen und ein verlorenes Kind. Unsere Ehe ist für immer geschlossen worden. Es gibt kein Zurück.«

Sie senkte die Augenlider. Der Schmerz in seiner Stimme beschämte sie. Sie flüsterte: »Legst du dich neben mich und hältst mich fest?«

Mit einem langen Seufzer atmete er aus. »Das mache ich gern.«

Sie rutschte an die Wand und ließ ihm so viel Platz wie möglich. Er hatte Jacke und Schuhe bereits ausgezogen und legte sich vorsichtig auf die Bettdecke, um ihr nicht wehzutun. Auch wenn er viel mehr Platz als Katie brauchte, beruhigten sie seine Wärme und Kraft. Sie nahm seine Hand, legte den Kopf an seine Schulter und schlief wieder ein.

 

Im Schlaf verfolgte sie der Traum von einem Kind mit mandelförmigen Augen. Als sie am nächsten Morgen etwas klarer denken konnte, erkannte sie, dass Gavin Recht gehabt hatte. Ihr chronisches Unwohlsein war wahrscheinlich ein Zeichen dafür gewesen, dass ihre Schwangerschaft von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war.

Doch wenn dieses Kind kräftig und gesund genug gewesen wäre, hätte sie es lieben gelernt und den Schmerz seiner Empfängnis vergessen. Wie Gavin gesagt hatte, war jedes Baby eine neue Hoffnung. Diese Hoffnung war jetzt verloren. Kein Wunder, dass ihr Körper trauerte.

Von ferne hörte sie vier Glockenschläge. Sechs Uhr morgens. Sie öffnete die Augen. Gavin lag auf der Seite und hatte einen Arm um sie gelegt. Im Schlaf war sein Gesicht überraschend jung, trotz der feinen Spuren, die die Anstrengungen der letzten Stunden hinterlassen hatten. Welch schwere Belastung war sie ihm von Anfang an gewesen!

Sie erkannte, dass es ein Leichtes war, in Trübsinn zu versinken nach all den Schmerzen und Verlusten, die sie erlitten hatte, angefangen mit Edmunds Tod. Sie dachte an die Nacht mit dem Elmsfeuer, als sie die Tiefe des Meeres in ihren Bann gezogen hatte und sie gefährlich nahe daran war, aufzugeben. Aber nur Feiglinge gaben auf. Sie war am Scheideweg gestanden, und es lag an ihr, das Leben zu wählen. Katie verdiente eine gesunde, liebende Mutter und Gavin eine Frau, die ihm das gab, was sie selbst empfing.

Sie strich über Gavins Kinn und spürte die stoppeligen Barthaare, auch wenn ihre helle Farbe sie fast unsichtbar machten. Auch er hatte in seinem Leben große Verluste erlitten: seine Heimat, seine Eltern, seine Frau und sein Kind. Und er lebte trotzdem weiter mit einem großen, mitfühlenden Herz. Er war ihr und Katie gegenüber eine Verpflichtung eingegangen, die nur der Tod beenden würde. Weniger als er konnte sie nicht tun.

Gavin öffnete die Augen und blickte sie müde an. »Wie fühlst du dich?«

»Ein wenig besser. Und morgen wird es mir noch ein wenig besser gehen.« Sie holte tief Luft. »Gestern Nacht habe ich eine Menge Unsinn geredet. Es tut mir Leid.«

Er war sichtbar erleichtert. »Kein Grund sich zu entschuldigen. Die Umstände waren extrem.«

»Wie geht es Ollie?«, fragte sie. »Hast du das Bein amputiert?«

Gavin verzog das Gesicht. »Ja. So etwas erledigt man am besten schnell. Er hat die Operation gut überstanden. Und jetzt sagt er, dass er immer schon Koch werden wollte, weil er dann als Erster an die besten Zutaten kommt. Nun hat er wirklich ein gutes Argument.«

»Ein tapferer Mann«, sagte sie leise.

»Die Männer feiern ihren Sieg über ein Schiff, das größer als die Helena war und schwerere Geschütze an Bord hatte.« Er spielte mit einer widerspenstigen Haarsträhne, die ihr über die Schulter fiel. »Sie nennen dich St. Alexandra, wegen deines heldenhaften Einsatzes.«

Sie musste unwillkürlich lächeln. »Wie meine Mutter, die man St. Catherine nannte. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Obwohl meine Mutter bei weitem heiliger ist als ich.«

Gavin erwiderte ihr Lächeln. »Vielleicht hast du dir das nur eingebildet, weil sie sich sehr bemühen musste, vor ihrer leicht zu beeindruckenden Tochter besonders gut zu sein, so wie du vor Katie. Ich nehme an, dass sie nach deiner Mutter benannt wurde?«

Alex nickte. »Ich kann es kaum erwarten, wenn die beiden sich endlich kennen lernen.«

»Es dauert nicht mehr lange, Alex. Nur noch ein paar Wochen.«

»Noch ein paar Wochen.« Sie verschränkte ihre Finger mit den seinen, während ihr die Augen zufielen. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass das normale Leben so nahe war.

Das normale Leben. Sie sehnte es herbei. Wenn sie sicher in England gelandet war, würde sie um jedes Abenteuer einen großen Bogen machen.