Kapitel 30

 

Bis sie sich zurechtgemacht hatten und wieder einigermaßen anständig aussahen, war es finstere Nacht geworden. Gavin war froh, dass er eine Laterne dabei hatte. So still hatte er die Straße noch nie erlebt. Kichernd verließen sie das Lagerhaus und steuerten auf den Mietstall am Ratcliff Highway zu, wo eine Kutsche der Seabournes auf sie wartete.

Die menschenleere Gegend erlaubte ihm, den Arm um Alex zu legen, obwohl er es heute Abend wahrscheinlich sowieso getan hätte. Auch wenn ihre sexuelle Begegnung unter merkwürdigen Vorzeichen stattgefunden hatte, waren sie übermütig und verspielt und konnten vor Verliebtheit nicht voneinander lassen. Er freute sich bereits auf die Schlafenszeit. Endlich würde er sie die ganze Nacht lang in den Armen halten können. Vielleicht würden sie noch einmal gemeinsam die Probe aufs Exempel machen und überprüfen, ob die Wand in ihrem Kopf tatsächlich eingebrochen war ...

Sie legte ihm den Arm um die Hüfte. »Worüber lachst du?«

Er küsste sie auf die Schläfe. »Ich denke an unverschämte Dinge.«

Er sah, wie sie in dem matten Licht errötete. Die zerzauste Frisur stand ihr bezaubernd. Er küsste sie wieder. Er hatte Recht behalten, als er die in ihr schlummernde Leidenschaft gleich von Anfang an erkannt hatte. Herrlich, dass sie ihre Körper ein Leben lang erforschen würden.

Einige Matrosen tauchten aus einer Seitenstraße auf, mit dem schwankenden Gang der Männer, die zu ihrem Schiff zurückgingen, nachdem sie m einer Hafenkneipe ausgiebig über den Durst getrunken hatten. Gavin behielt sie im Auge und drängte Alex näher an die Häuserfront auf ihrer Straßenseite, aber mehr aus gewohnheitsmäßiger Vorsicht. Das Viertel bei den Lagerhäusern war ruhig und wurde durch regelmäßige Streifen der Londoner Polizei bewacht.

Die Seeleute befanden sich ihnen gegenüber, als der Mann am Kopf der Schar plötzlich mit einem Messer in der Hand herumschwang und auf Gavin losging. »Das ist er!«

Unwillkürlich schob Gavin Alex hinter sich und wich dem Messer aus sowie dem Angriff eines zweiten Mannes. Er ließ die Laterne fallen, um zwei freie Hände zu haben, packte den Arm des Angreifers und drehte ihn nach hinten. Der Mann stieß einen Schmerzenschrei aus, als Gavin ihn gegen seine Kumpane schleuderte.

Endzweck des pentjak silat war, als Einzelner im Kampf gegen viele zu bestehen. Eingeübte Bewegungen liefen reflexartig ab. Blitzschnell packte er den nächsten Mann beim Nacken, wirbelte ihn herum und versetzte einem dritten Angreifer einen brutalen Stoß mit dem Fuß. Hinter seinen gezielten, tödlichen Bewegungen und Schlägen verbarg sich eiskalte Wut. Wie konnte dieser Angriff stattfinden, wenn Alex bei ihm war!

»Gavin, hinter dir!«, rief Alex.

Er drehte sich um. Hätte er doch nur den Kris oder einen Stock bei sich! Mit der linken Hand fing er das auf ihn herabstoßende Messer auf. Er machte einen Ausfall und schleuderte seinen Gegner in eine Backsteinmauer. Der Mann schlug mit einem hörbaren Knacken der Knochen auf. Hinter ihm drückte sich Alex an die Hauswand, als ein drahtiger, an ein Wiesei erinnernder Mann mit einem Messer auf sie zukam. Gavin wollte ihr zu Hilfe eilen, als sie dem Feind einen heftigen Fußtritt in die Lenden versetzte und dann, als er zu Boden ging, mit dem Fuß auf die Hand mit dem Messer trat, so dass er vor Schmerz aufheulte.

»Hey, da!« Ein Respekt einflößender Ruf wurde von dem dumpfen Rasseln einer Polizeiklapper begleitet. Die unverkennbaren Umrisse eines Konstablers tauchten an der Kreuzung vor ihnen auf. Die hin und her schwingende Laterne warf unheimliche Schatten.

»Ein Polyp«, rief einer der Matrosen warnend und verschwand in der Seitenstraße. Zwei andere folgten ihm. Sie waren verletzt und schleppten sich mühsam hinterher. Der Konstabier nahm die Verfolgung auf und befahl lautstark stehen zu bleiben.

»Alex.« Gavin bebte vor ohnmächtiger Wut und ging zu ihr. Verschwommen nahm er wahr, dass sein linker Unterarm schmerzte. »Fehlt dir auch nichts?«

Sie schüttelte zaghaft den Kopf. »Und dir?«

»Mir ist nichts passiert.« Er legte den Arm um sie und spürte ihre Angst, die sie während des Überfalls unterdrückt hatte.

»Ich habe mich gewehrt«, flüsterte sie wütend. »Dieses Mal habe ich zurückgeschlagen!«

»Und du hast es gut gemacht.« Er zog sie enger an sich. Mein Gott, was hätte alles passieren können!

Der Konstabier kam zu ihnen. Keuchend hielt er den Schlagstock in der Hand. Auch wenn die Jagd vergebens gewesen war, nahm er die wackere Haltung eines Soldaten ein. Aufrecht stehend mit geschwellter Brust fragte er sie: »Alles in Ordnung mit den Herrschaften?«

»Ich denke schon«, antwortete Gavin.

»Was ist vorgefallen, Sir?«

»Meine Büroräume befinden sich im obersten Stockwerk dieses Lagerhauses«, erklärte Gavin. »Für gewöhnlich verlassen meine Frau und ich das Haus viel früher, aber wir waren ... wir hatten lange gearbeitet und jegliches Zeitgefühl verloren. Wir waren auf dem Weg zum Mietstall, als die betrunkenen Matrosen plötzlich ohne Warnung über uns herfielen.«

Der Konstabier kniete sich neben die beiden Angreifer, die nicht entkommen konnten. Nach einer kurzen Uberprüfung sagte er: »Sie sind tot.« Er blickte Gavin aus zusammengekniffenen Augen an. »Das haben Sie mit Ihren bloßen Händen gemacht?«

Beide tot? Gavin nickte. Bei dem Gedanken, dass er zwei Menschen bedenkenlos getötet hatte, wurde ihm übel. Auch wenn er pentjak früher oft zu seiner Selbstverteidigung eingesetzt hatte, waren die Folgen niemals tödlich gewesen. »Sie hatten Messer dabei.«

»Das sehe ich. Aber sie riechen nicht nach Alkohol. Für betrunkene Seeleute merkwürdig.«

Der Konstabier stand auf. »Leider müssen Sie für den Bericht zur Wache mitkommen.«

Zwei helle Gegenstände lagen auf dem Straßenpflaster. Gavin erinnerte sich, dass der Anführer sie zu Beginn des Angriffs fallen ließ, bückte sich und hob sie auf. Als er die beiden Objekte wie versteinert betrachtete, fragte der Konstabier: »Was haben Sie da?«

»Nur ein Paar Würfel. Ich nehme an, die Burschen haben in irgendeiner Kneipe gespielt.« Er ließ die Würfel in seine Tasche gleiten. »Könnte ich meine Aussage auf morgen früh verschieben? Meine Frau ist sehr tapfer gewesen, und ich möchte sie gerne nach Hause bringen.« Er warf Alex einen bedeutungsvollen Blick zu, worauf sie langsam in sich zusammensackte, als wäre sie einer Ohnmacht nahe.

Als er sie mit dem Arm abstützen wollte, zog sie besorgt die Stirn in Falten und vergaß ihren Schwächeanfall. »Du blutest.«

Er blickte hinunter und sah, dass der linke Ärmel mit Blut getränkt war. Fachmännisch schob Alex den Jackenärmel nach oben und verband die Wunde mit einem Taschentuch. Ob das eines von den Tüchern gewesen war, mit denen sie ihn vorhin in unsittlicher Absicht gefesselt hatte? Aus einer Tasche holte er das Etui mit den Visitenkarten hervor und überreichte dem Konstabier seine Karte. »Ich bin Seabourne.«

Die Brauen des Konstablers hoben sich, als er auf die Karte blickte. »Der Yankee-Earl. Hab von Ihnen gehört, Mylord. Ich bin Konstabier Mayne, und das hier ist mein Bezirk.«

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Konstabler. Wir danken Ihnen. Sie sind im richtigen Augenblick gekommen. Gott weiß, was sonst noch passiert wäre.«

Mayne blickte auf die beiden Toten. »Ich bezweifle, dass Sie sich heute Nacht in großer Gefahr befunden haben«, sagte er mit unverkennbarer Ironie. »In Zukunft achten Sie vielleicht mehr darauf, wo Sie nachts spazieren gehen.«

»Das werde ich.« Gavin legte Alex den Arm um die Schultern. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns zu dem Mietstall zu begleiten? Mit Ihnen fühle ich mich sicherer.«

»Sie können mit Ihrer Kutsche zur Wache fahren. Aber bei zwei toten Männern muss ich Sie bitten, noch heute Nacht auf der Wache zu erscheinen.«

Mayne war höflich, aber unerbittlich. »Wird nicht lange dauern, Mylord.«

Gavin war versucht, von seinem Status als Lord Gebrauch zu machen, besann sich dann aber, dass er es stets verachtet hatte, wenn man seinen Titel einsetzte, um bevorzugt behandelt zu werden. Vielleicht war es auch das Beste, den formellen Teil des Vorfalls so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

 

Die Polizei war höflich, aber sehr gründlich. Nachdem Gavin und Alex der Polizei Rede und Antwort gestanden hatten, waren sie so müde, dass sie sofort zu Bett gingen. Zusammen. Am anderen Morgen wachte Gavin zeitig auf und stellte fest, dass er seine Frau eng umschlungen hielt. Das Gefühl, glücklich verheiratet zu sein, hatte ihn so fest und gut wie lange nicht mehr schlafen lassen.

Mit den Lippen streifte er ihr über das Haar, küsste den Nacken und liebkoste eine ihrer vollen Brüste. Dabei kam er auf den Gedanken, dass sie zumindest im Sommer, wenn es warm genug war, ohne Nachthemd schlafen könnten. Ob sie das gutheißen würde? Am vorangegangenen Abend hatte sie sich ziemlich aufgeschlossen gezeigt ...

Alex erwachte und drehte sich zu ihm um. Mit einer Hand strich sie ihm leicht über Schulter und Arm. »Der Überfall gestern Nacht war kein Albtraum.«

»Ich fürchte nein.«

»Du hast nicht übertrieben. Pentjak silat ist ein Kampf auf Leben und Tod. Jetzt verstehe ich deine Bedenken, als du mit Kasan gekämpft hast.«

»Ich hätte vorsichtiger vorgehen können, aber da du dabei warst ...« Ein Muskel zuckte an seiner Kinnlade. »Ich habe die Beherrschung verloren.«

Sie blickte ihn ernst an. »Einen Menschen zu töten ist eine schwerwiegende Sache, aber mit mordgierigen Gesellen habe ich wenig Mitgefühl.« Sie rollte den linken Ärmel seines Nachthemds nach oben und sah nach dem Verband, den sie vor dem Schlafengehen erneuert hatte. »Ich wusste nicht, dass du eine Tätowierung hast.«

»Die jetzt von einer hübschen kleinen Narbe durchzogen ist«, sagte er und war froh, das Thema zu wechseln. »Das habe ich mir von einem Matrosen machen lassen, als ich noch jung und töricht war. Zum Glück hatte ich bereits mit siebzehn so viel Verstand, mich an einer nicht sichtbaren Stelle tätowieren zu lassen.«

Sie blickte auf die Zeichnung, die zum Großteil von dem Verband bedeckt war. »Was soll das sein?«

»Ein amerikanischer Adler.« Er verzog den Mund. »Als Yankee gebrandmarkt bis zum Tode.«

»Keine schlechte Wahl.« Sie beugte sich vor, küsste ihn an der Kehle und glitt mit einer Hand an seinem Bauch hinunter. »Durchaus keine schlechte Wahl.«

Leidenschaft flammte in ihm auf. Sie waren zu Liebenden geworden, und sein Körper wollte sich für die lange Enthaltsamkeit schadlos halten. Alex muss-te es ebenso ergehen, denn sie antwortete begierig auf seine Liebkosungen. Ihr Atem beschleunigte sich. Sie spreizte die Beine und hieß seine Berührung willkommen.

Am liebsten hätte er sich in ihr vergraben, um den doch sehr einseitigen Liebesakt von gestern wettzumachen, aber dann meldete sich der gesunde Menschenverstand. »Bist du sicher, dass das in Ordnung ist?«

Sie zögerte. »Ich glaube ja.«

»Das klingt mir nicht überzeugend genug. Also ...« Er fasste sie um die Taille, rollte auf den Rücken und zog sie zu sich herauf.

»Oh!« Überrascht hielt sie den Atem an. Dann sagte sie: »Oh.« Dieses Mal mit einer völlig anderen Betonung. »Ob das so wie gestern sein wird, als ich auf deinem Schoß saß?«

»Finde es heraus.« Er hätte eher daran denken müssen. Er würde es genießen, die süße Last ihres Körpers abzustützen und die wunderbare Rundung ihres Hinterteils zu streicheln, während es ihr offensichtlich gefiel, nicht unter seinem Gewicht gefangen zu sein.

Rasch schob sie ihr Nachtgewand beiseite und sank mit einem wollüstigen Laut auf ihn nieder. Als sie langsam die Hüften bewegte, sagte sie: »Wie artig das ist. Das genaue Gegenteil von gestern.«

Der Liebesakt am Vortag war durch seinen erzieherischen Aspekt eher quälend gewesen, heute Morgen aber war er sanft und zutiefst befriedigend. Sie liebten sich feucht und fließend wie Meerestiere in den warmen Fluten eines tropischen Ozeans. Als Alex voller Entzücken entdeckte, dass sie das Tempo bestimmen konnte, wurde sie erfinderisch.

Sanftheit baute sich zu sengender Begierde auf und endete mit tiefer Erfüllung. Auch als beide vor Erschöpfung keuchten, hielt er sie weiter über sich fest. »So möchte ich mein Lebtag lang jeden Morgen aufwachen.«

»Ich bin dazu bereit, wenn du es bist.« Sie küsste die kleine Mulde an seinem Hals und spürte den Puls an ihren Lippen, während ihm ihr seidenweiches Haar über Gesicht und Schultern fiel. Verwundert stellte er fest, dass er wieder glücklich sein konnte, so glücklich, wie er es nicht mehr für möglich gehalten hätte.

Augenblicke der Vollkommenheit dauern niemals an. Alex rollte auf ihre Seite und bedeckte ein Gähnen. »Wir wollen aufstehen, bevor wir wieder einschlafen. Es war nett von dem Polizisten, dass er uns während des Verhörs Fleischpastetchen holen ließ. Aber ein sättigendes Abendessen war das nicht. Ich freue mich auf ein Bad und anschließend auf ein ordentliches Frühstück.«

»Ich auch.« Gavin vermutete, dass die Fleischpastetchen so etwas wie eine Hommage an ihren Status waren — und Ausdruck der Dankbarkeit seitens des Polizisten, dass sie nicht davon Gebrauch machten und schwierig wurden.

Sie schwang sich aus dem Bett. Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst.

»Ich weiß, dass das East End gefährlich ist, aber in der Gegend um das Lagerhaus habe ich mich immer sicher gefühlt. Töricht von mir. So nahe an den Docks muss man ja mit Dieben und betrunkenen Seeleuten rechnen.«

»Der Überfall auf uns — oder besser gesagt auf mich — war nicht zufällig.«

Eine steile Falte bildete sich zwischen den Brauen, während sie einen Morgenmantel anzog. »Das ist richtig. Der Kerl, der dich als erster angegriffen hat, rief >das ist er<. Warum hat er das wohl gesagt?«

»Einen Augenblick.« Gavin ging in sein Schlafzimmer, um sich einen Morgenmantel überzuziehen und die Würfel zu holen, die er auf der Straße gefunden hatte. Als er vor Alex stand, ließ er ihr die Würfel in die Hand gleiten. »Die hat einer der Männer neben mir zu Boden geworfen.«

Sie japste nach Luft. »Die zwölfseitigen Würfel von Maduri! Aber warum?«

»Meine Vermutung ist, dass sie wie eine geheime Visitenkarte neben meiner Leiche gefunden werden sollten. Nur der Mann, der meinen Tod wollte, würde ihre Bedeutung verstehen.«

»Würde Sultan Kasan seine Männer um die halbe Welt schicken, um dich umzubringen? Wenn er deinen Tod gewollt hätte, dann wäre das bereits in Maduri geschehen.«

»Genau das denke ich auch. Wahrscheinlich steckt jemand anderes dahinter, aber ich habe keine Ahnung, wer.« Er nahm die Würfel wieder an sich und blickte auf die bekannten Symbole. »Vielleicht wollte Cousin Philip den Titel wiederhaben, oder Barton Pierce hegt vor Neid Mordgedanken, oder dein eifersüchtiger ehemaliger Verehrer möchte dich wieder verwitwet sehen, um eine weitere Chance zu haben, deine Gunst zu erwerben.«

Alex schauderte. »So viele Gründe!«

»Wahrscheinlich kommen sie allesamt nicht in Frage, und der wahre Grund ist ein ganz anderer.« Er ließ die Würfel in die Tasche des Morgenmantels fallen. Am liebsten hätte er sie der Polizei übergeben, aber das war nichts Handfestes, das er diesen nüchtern denkenden Herren vorlegen konnte.

»Glaubst du, dass ich auch in Gefahr bin?«

Er wollte lügen, aber zu ihrer Sicherheit war es besser, wenn sie die Wahrheit erfuhr. »Das ist möglich. Wahrscheinlich wollten sie dich nicht als Augenzeugin eines Mordes am Leben lassen.« Als sie zitterte, sagte er ruhig: »Es tut mir Leid, Alex. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ich dich in Gefahr bringen könnte.«

Sie blickte ihn offen an. »Im Gegenteil. Das habe ich dir eingebrockt. Wenn du nicht mein Retter gewesen wärst, hättest du Maduri verlassen, ohne dir Feinde zu machen.«

»Vielleicht. Was auch der Grund für diesen Überfall war, wir müssen Vorsichtsmaßnahmen treffen. In Zukunft werde ich bewaffnet sein, und du darfst nicht mehr ohne Begleitung aus dem Haus gehen.«

Nachdem sie zustimmend genickt hatte, gab er sich einen Ruck und machte ihr einen Vorschlag, der ihr nicht gefallen würde. »Ich halte es für das Beste, wenn du nicht mehr im Büro arbeitest, solange diese Angelegenheit noch ungeklärt ist.«

Ihre Bereitwilligkeit verschwand. »Willst du auch nicht mehr ins Büro gehen?«

»Doch. Aber ich garantiere dir, dass ich nicht mehr bis in die Nacht hinein arbeiten werde.«

»Du kannst also dein Leben riskieren, aber ich nicht?« Die Brauen schnellten spöttisch in die Höhe. »Wenn die Lagerhausgegend unsicher für mich ist, dann auch für dich. Für dich noch mehr, denn schließlich warst du das Ziel des Überfalls.«

Er durfte jetzt nicht die Geduld verlieren. »Ich möchte, dass keiner von uns beiden ein unnötiges Risiko eingeht. Ich möchte so lange persönlich im Büro anwesend sein, bis Peter Spears voll eingearbeitet ist. Aber deine Verwaltungsaufgaben kannst du gut zu Hause erledigen, und da bist du in Sicherheit. Gedungene Schläger wie die Kerle, die uns gestern Nacht angegriffen haben, fallen in Mayfair wie Kamele auf.«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich lasse mich in meinem eigenen Haus weder zur Gefangenen machen, Gavin, noch soll die Angst meinen Tagesablauf beherrschen. Wenn du dich im East End in Gefahr begeben kannst, dann kann ich das auch.«

»Zum Teufel noch mal, Alex, ich erlaube dir nicht ...« Er wurde sich erst bewusst, dass er schrie, als die Tür aufging und Daisy mit dem Morgentee erschien. Erschrocken stammelte das Mädchen eine Entschuldigung und wollte sich entfernen.

Gavin atmete tief durch. »Es ist gut. Komm herein, Daisy. Wir besprechen gerade etwas, aber meine Frau hat bestimmt nichts dagegen, wenn du ihr jetzt den Tee servierst.« Zu Alex gewandt sagte er: »Entschuldige, wenn ich die Geduld verloren habe. Nach dem Frühstück können wir weiter darüber sprechen.«

Nachdem sie mit dem Kopf genickt hatte, zog er sich in sein eigenes Zimmer zurück. Er war erschüttert, dass er so heftig reagiert hatte. Alle Männer, die mit ihm zu tun hatten, rühmten sein ausgeglichenes Temperament, aber nun entdeckte er, dass die Zündschnur sehr kurz war, wenn es um Alexandras Sicherheit ging. Vergangene Nacht hatte er zwei Menschen mit bloßen Händen umgebracht, weil sie Alex bedroht hatten, und heute Morgen war sein gesunder Menschenverstand zum Fenster hinausgeflogen, nur bei dem Gedanken, dass sie in Gefahr kommen könnte. Wahrscheinlich hatte er damit nur ihren starrsinnigen Entschluss bekräftigt, vor nichts zurückzuschrecken.

Als Alexandras Mutter ihn gefragt hatte, ob er ihre Tochter liebe, war er um eine Antwort verlegen, aber die Zeit nach ihrer Ankunft in London hatte ihm Klarheit über seine Gefühle verschafft. Er hatte gedacht, sein Herz sei mit Helena gestorben, und nicht erkannt, dass er auf dem besten Wege war, sich in Alexandra zu verlieben. Er wollte — und konnte — sie nicht mit Helena vergleichen; sie waren zu verschieden. Aber Schritt für Schritt hatte Alexandra ihn mit ihrem Mut, ihrer Offenheit, ihrer Liebenswürdigkeit und ihrer Leidenschaft gewonnen.

Er liebte seine Frau und konnte den Gedanken, sie zu verlieren, nicht ertragen.

 

Alex starrte mit leeren Augen in den Spiegel. Sie zitterte leicht. Wie konnte sie nur annehmen, das Leben in England würde friedlich verlaufen! In weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sie eine dunkle Stelle in ihrer Seele entdeckt, war sie einem Mordanschlag nur knapp entkommen und hatte den ersten Streit mit ihrem Mann vom Zaun gebrochen. Ihr war bisher nicht klar gewesen, wie sehr sie von Gavins ausgeglichenem Wesen und seiner seelischen Unterstützung abhängig war. Sie war unglücklich, wenn er ihr gram war.

»Fühlen Sie sich wohl, Mylady?«, fragte Daisy besorgt.

Hoffentlich fürchtete das Mädchen nach diesem Vorfall nicht, dass Gavin gewalttätig werden könnte. Alexandra riss sich zusammen und nahm die dampfende Teetasse vom Tablett. »Mir geht es gut. Mein Mann und ich hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.«

Ohne eine weitere Bemerkung sammelte das Mädchen die Kleidungsstücke vom Vortag auf, die Alex nach der Rückkehr von der Polizeiwache auf das Sofa geworfen hatte, weil sie zu müde gewesen war, um nach ihrer Zofe zu läuten. Daisy trug ein schlichtes, aber elegantes Kleid. Sie hatte es sich selbst aus einem rosafarbenen Leinenstoff geschneidert, den Alex ihr geschenkt hatte. Sie hatte ein angeborenes Stilempfinden, um das sie jeder Schneider beneidet hätte. Leider war sie immer noch so ängstlich wie am ersten Tag. Stets schien sie den Tränen nahe zu sein.

»Bist du in diesem Haus glücklich, Daisy?«, fragte Alexandra.

Bei dieser Frage blickte sie das Mädchen überrascht an. »Alle sind so liebenswürdig zu mir, Mylady. Eine solche Freundlichkeit habe ich nie erfahren.«

Und offensichtlich wusste sie nicht, wie sie auf dieses Entgegenkommen reagieren sollte. »Wie kommst du im Lesen voran?«

Daisys Gesicht hellte sich in ehrlicher Freude auf. »Miss Hailey ist eine wunderbare Lehrerin. Sie sagte, sie hätte noch nie eine Schülerin gehabt, die so schnell lernt. Gestern habe ich ein Kapitel aus Miss Katies Buch ganz allein gelesen.« Sie schwieg kurz und fügte dann gewissenhaft hinzu: »Miss Hailey hat mir bei den Worten geholfen, die ich nicht kannte.«

»Das freut mich«, sagte Alex warmherzig. »Meine Mutter hat mir das Lesen beigebracht. Ich weiß noch, wie sie mir damals sagte, Lesen sei der goldene Weg zu allen Zielen, die man erreichen möchte.«

»Der goldene Weg«, wiederholte Daisy nachdenklich. »Darum dürfen Sklaven nicht lesen lernen. Weil ihre Herren nicht wollen, dass sie das Träumen lernen.«

Diese Feststellung ging Alex durch Mark und Bein. Mit zugeschnürter Kehle fragte sie: »Wie hast du die Sklaverei ertragen, Daisy? Du bist schön und intelligent und hast in einer Welt gelebt, die dir so viele Möglichkeiten verschlossen hat.«

»Schön zu sein ist für eine Sklavin nicht von Vorteil, Ma'am«, sagte die Zofe bitter. »Intelligenz auch nicht. Aus diesem Grund hat mich Miss Amanda von den Feldern weggeholt und mich in dem großen Haus als Mädchen ausbilden lassen. Da sie das Kauderwelsch der Sklaven nicht ausstehen konnte, hat sie mir beigebracht, wie die Weißen zu sprechen. Und wenn ich einen Fehler gemacht habe, hat sie mich mit der Peitsche geschlagen. Und was das Schönsein anbetrifft ...« Sie schluckte. »Miss Amandas Ehemann fand mich schön. Darum wurde ich verkauft. Ich musste die Plantage verlassen und wurde von meiner Familie getrennt.«

»Oh, Daisy!« Alexandra sah sie entsetzt an. Auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen in der Sklaverei konnte sie nachempfinden, was das Mädchen sagte — und nicht sagte. »Die Sklaverei ist eine Beleidigung Gottes und verletzt das Gute im Menschen. Ich werde alles tun, um sie zu bekämpfen, solange ich lebe.«

»Das ist sehr gut von Ihnen, Ma'am.« Daisy war höflich, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie der Meinung war, Alexandra spende nur gelegentlich einen kleinen Betrag für die Anti-Sklaverei-Liga.

»Bitte erzähle keinem, was ich dir jetzt sagen werde. Es ist nicht ungefährlich, aber ich versuche Informationen zu bekommen, die der Königlichen Marine helfen könnten, den illegalen Sklavenhandel zwischen Afrika und Amerika zu unterbinden. Kennst du jemanden, der Auskunft darüber geben könnte? Oder der bereit ist, sich heimlich in Seemannskneipen umzuhören, um vielleicht irgendetwas von Bedeutung aufzuschnappen?«

»Mylady, ich habe doch nichts mit Sklavenhändlern zu tun!« Daisy rang nach Luft. »Die sind zu gefährlich.«

Alex fragte sich, welche furchtbaren Erfahrungen diese heftige Angst auslösten. »Ja, darum muss man ihnen das Handwerk legen. Kennst du jemanden, der mir vielleicht helfen könnte?«

Das schwarze Gesicht Daisys wurde grau, als ob sie einen inneren Kampf ausfocht. Nach längerem Schweigen antwortete sie widerstrebend. »Ja, vielleicht, aber um ihn aufzusuchen müsste ich das Haus für einige Stunden verlassen.«

»Dazu hast du meine Erlaubnis. Ich danke dir im voraus.« Zufrieden mit sich trank Alexandra den Tee aus. Daisys Freund könnte eine neue Informationsquelle erschließen, vielleicht sogar einen Sklavenhändler hinter Gitter bringen. Das war dieses kleine Risiko wert.