Kapitel 25

 

Alex glitt zurück und versuchte sich zu erinnern, wie die Bewegung »Wolkenarme« ablief. Auf ein kleines Geräusch hin wandte sie sich um und erblickte ihre Mutter, die den Ballsaal der Ashburtons betreten hatte und schweigend an der Tür wartete.

»Verzeih, wenn ich störe, aber wir müssen mit dem Dekorieren beginnen«, erklärte Catherine. »Übst du einen östlichen Tanz?«

»Eigentlich nicht.« Alex wies ihre Mutter zu einem Stuhl und streckte sich auf einem kleinen harten Sofa ihr gegenüber aus. Dies war ein weiterer Vorteil der östlichen Kleidung, die aus Tunika und Hose bestand: sie erlaubte es einer Frau, sich zwanglos hinzusetzen. »Tai-Chi ist eine chinesische Entspannungsübung. Troth, das heißt, Lady Wrexham, hat sie mir beigebracht. Da Tante Rosalinds Ball morgen stattfindet, schadet es nicht, wenn man innerlich zur Ruhe kommt.«

»Hat dich der Osten während deines Aufenthaltes stark beeinflusst?«

Das war keine beiläufige Frage. Alex dachte nach, bevor sie antwortete. »Während der Monate, die ich auf den Inseln verbracht habe, hat sich vieles ereignet, das ich lieber vergessen möchte, und doch war dort Kraft und Schönheit. Troth hilft mir, das Einmalige und Besondere des Ostens zu begreifen.«

»Eine bemerkenswerte junge Frau. Ich freue mich, dass ihr euch angefreundet habt.« Catherine zögerte. »Alexandra, gibt es zwischen dir und Gavin Probleme?«

Bei dieser unvermittelten Frage fuhr Alexandra zusammen. »Magst du Gavin nicht?«

»Ich mag ihn sehr, aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Habt ihr Schwierigkeiten in der Ehe?«

Alex spielte mit den Fingern an einer ausgefransten Stelle des Polsters herum. »Wieso kommst du darauf?«

»Nun, du vermeidest es, mir ohne Umschweife auf meine Frage zu antworten.« Catherines Stimme wurde leise. »Ich weiß, du hast einiges durchmachen müssen ... So etwas hat seine Nachwirkungen.«

Ihre Mutter wusste Bescheid. Alex fühlte sich verraten. »Gavin hat dir gesagt, was passiert ist?«

»Nein. Aber als ich ihn in die Enge trieb, rückte er damit heraus, dass du Dinge erdulden musstest, die keine Frau einer anderen wünscht. Vor allem nicht ihrer Tochter.« Catherines Stimme zitterte einen Augenblick lang. »Als erwachsene Frau hast du jahrelang auf der anderen Seite des Erdballs gelebt, aber heute bietet sich mir vielleicht die Gelegenheit, dir einen mütterlichen Rat zu geben. Ich mache mir Sorgen, weil ich spüre, dass zwischen dir und Gavin eine Kluft besteht.«

Alex errötete, als sie an den Abend dachte, an dem es weder eine Kluft noch einen Abstand zwischen ihnen gab. Auf der einen Seite sehnte sie diesen Augenblick wieder herbei, fürchtete sich aber vor der Intensität ihrer Gefühle und der ihr entgleitenden Selbstbeherrschung. Außerdem bedrückte sie der Gedanke, dass Gavin mehr wollte. Obwohl er kein Wort darüber verloren hatte, spürte sie sein drängendes Begehren. »Es gibt einige ... Unstimmigkeiten, aber er ist sehr geduldig.«

»Eine kühle Art, seinen Ehemann zu beschreiben. Warum hast du ihn geheiratet?«

Diese offene Frage verblüffte Alexandra, und sie antwortete im gleichen Tenor. »Weil ich schwach und verzweifelt war und er so hilfsbereit und edel, mich unter den Schutz seines Namens zu stellen. Vielleicht nicht gerade die besten Gründe für eine Ehe, aber es können nicht alle so glücklich sein wie du und der Colonel.«

Catherines Mund verzog sich. »Du glaubst, das war Glück? Eine gute Ehe ist schwer erarbeitet, Alexandra, und das gilt noch mehr für körperliche Intimität. Auch wenn ich nicht das erleiden musste, was du durchgemacht hast, habe ich die verschiedensten Gründe, um für Michaels Geduld und Rücksichtnahme dankbar zu sein. Vertraue dich deinem Mann an, meine Liebe, auch wenn du glaubst, du würdest in einen Abgrund stürzen. Vertrauen ist die Basis einer guten Ehe, mehr als Leidenschaft, sogar mehr als Liebe.«

»Hast du dieses Vertrauen meinem Vater entgegengebracht?«, fragte Alex, um sich zu verteidigen.

Catherine suchte nach den passenden Worten, die ihren ersten Ehemann nicht verunglimpfen sollten. »Obwohl Colin ein mutiger Mann war, der seine Pflichten kannte, eignete er sich nicht sehr für die Ehe. Gavin ist nicht wie Colin. Er ist wie Michael. Ein Mann, der für die Frau, die er liebt, durch die Hölle geht und wieder zurück. Aber du musst deinen Einsatz bringen. Damit ist die Bereitschaft gemeint, Risiken einzugehen. Riskiere deinen Stolz, dein Herz, deine Träume. Nur so findet dich das Glück.«

Alex zog die Knie an und legte die Arme darum. Sie war wieder das Kind, das sie damals war, als ihre Mutter den Colonel inmitten der chaotischen Zustände in Brüssel vor der Schlacht von Waterloo kennen gelernt hatte. Er war damals Major; ihr Vater war noch am Leben, und Alex hörte auf den Namen Amy. Was mag sich alles hinter den Kulissen abgespielt haben, wovon Amy keine Ahnung hatte? Bestimmt mehr, als sie jetzt zu wissen wünschte. Jedenfalls hatte ihre Mutter ausreichend Erfahrungen gesammelt, um mit ihr über Eheprobleme sprechen zu können. »Ich werde mich bemühen. Gavin verdient mehr, als ich ihm bisher geben konnte.«

»Du verdienst auch mehr, mein Liebling.« Catherine stand auf und umarmte sie. »Was man dir in der Sklaverei angetan hat, war furchtbar, aber vielleicht war es auch eine große Bewährungsprobe und keine Strafe für deine Sünden. Ein so unerschrockenes Kind, wie du es damals warst, ist mir nie wieder begegnet, und du wirst wieder den Mut haben, das zu tun, was getan werden muss, auch wenn es dir noch so schrecklich erscheint.«

Wie schön, dass ihre Mutter an sie glaubte. Wenn Alex diesen Glauben nur teilen könnte!

 

Ashburton House vibrierte in der Erwartung des bevorstehenden Balls. Neugierige tummelten sich bereits auf dem Platz vor dem Haus, um etwas von dem Glanz der Gäste zu erhaschen, die bald eintreffen würden. Klangfetzen schwebten aus dem Ballsaal, als das Orchester die Instrumente stimmte.

Schicksalsergeben starrte Gavin finster auf das maßgeschneiderte Ebenbild in seinem Spiegel. »Ich sehe wie ein Pinguin aus. Haben Sie schon einmal einen Pinguin gesehen, Hubble? Das sind Vögel, die am südlichsten Zipfel der Welt leben. Sie sehen aus, als hätte man sie in einen komischen Abendanzug gesteckt.«

»Ich kenne mich bei Tieren aus, Mylord.« Der herzogliche Diener, dem man dem Ehrengast zugeteilt hatte, war durch nichts aus der Ruhe zu bringen. »Sie sehen in ihrem Federkleid sehr schön aus. Auch Ihnen steht dieser Frack ausgezeichnet.«

»Danke für Ihre Bemühungen. Ich werde versuchen, Ihnen keine Schande zu bereiten.«

Hubble senkte den Kopf und entfernte sich, um Ashburton behilflich zu sein. Gavin war mit Alex verabredet. Mit einem Schmuckkästchen in der Hand klopfte er an ihre Schlafzimmertür, um sein Kommen anzukündigen.

Sie blickte gerade prüfend in den Spiegel. »Ist es zu spät, um nach Amerika zu fliehen? Dann brauchten wir nicht auf diesen Ball zu gehen.«

»Ich fürchte ja.«

Sie wandte sich ihm zu. Der Atem stockte ihm, als ob ihn ein Holzknüppel getroffen hätte. Das prachtvolle blaue Seidenkleid öffnete sich in der vorderen Mitte über einem weißen Brokatrock und betonte mit seinem eng anliegenden Oberteil ihre bezaubernde Figur. Das vollendet schöne Dekollete würde jeden Mann schwindlig machen. Das dunkle Haar war kunstvoll aufgesteckt und mit zarten Blüten aus dem Gewächshaus der Ashburtons geschmückt. Wenn man sie jetzt sah, konnte man sich nur schwer die magere, verzweifelte Frau vorstellen, die ihm in Maduri begegnet war.

Auch sie blickte ihn bewundernd an. »Du siehst sehr gut aus, Gavin. Jeder Zentimeter ein Earl, auch wenn dir der Gedanke noch so sehr missfällt.«

»Und du siehst strahlend schön aus.«

Sie blickte weg. »Strahlend schön? Sonderbar. Ich dachte, bei mir verbindet man das >S< mit >Sklavin< oder >Schlampe< oder >Skandal< oder >Schande< oder irgendeiner anderen Bezeichnung aus meiner fragwürdigen Vergangenheit.«

Er hätte ahnen müssen, wie sehr ihre Vergangenheit sie heute Abend belasten würde. Auf diesem Ball würde sie der Gesellschaft gegenübertreten, in der sie aufgewachsen war. Ihre erlittene Schmach würde Mitleid, Abscheu und Verachtung hervorrufen, wenn man die Wahrheit erführe.

»Das >S< steht für »Seabourne«. Keiner braucht mehr als das zu wissen.« Er gab der Versuchung nach und küsste sie. Es war ein leichter, zärtlicher Kuss, da für mehr keine Zeit blieb. Ihre Lippen waren kühl und die Hände eisig. »Wenn einer erfährt, was dir widerfahren ist - zur Hölle mit ihm. Du hast nichts getan, dessen du dich schämen müsstest.«

Sie lächelte ihn unsicher an. »Und wehe dem, der deine Beschützerinstinkte weckt. Ich danke dir, Gavin. Es bedeutet mir sehr viel, dass du mir noch in die Augen sehen kannst, obwohl du alles weißt.«

Er hätte den ganzen Abend damit verbringen können, ihr in diese wunderbar ehrlichen, tapferen wasserblauen Augen zu blicken. »Die Dankbarkeit ist gegenseitig. Wir wissen so viel voneinander, dass uns nichts anderes übrig geblieben ist, als zu heiraten.«

Sie musste lachen. »Dann war uns unser Schicksal wohl gesonnen. Ich gehe jetzt ins Unterrichtszimmer hinauf, um den Mädchen mein Kleid zu zeigen. Möchtest du mitkommen?«

»Ja, aber zuerst möchte ich dir das geben.« Er reichte ihr das Schmuckkästchen. »Ich habe die Steine in Ceylon gekauft, an dem Tag vor unserer Hochzeit, und habe sie hier fassen lassen. Ein verspätetes Hochzeitsgeschenk.«

Alex stockte der Atem, als sie das Kästchen öffnete und die glitzernde Saphirkette, die Ohrringe und das Armband sah. »Das ist wunderschön! Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Wage ja nicht, ein Wort über >nicht wert sein< zu sagen, dann käme ich in Versuchung, dir den Hintern zu versohlen.« Er nahm die Halskette aus dem Kästchen. »Möchtest du das heute Abend tragen?«

»Du kennst mich gut genug.« Sie lächelte verschmitzt, als sie das Perlenkollier, das ihr die Mutter geliehen hatte, abnahm. »Bitte. Die Steine passen herrlich zu diesem Kleid.«

»Ich habe sie deiner Augen wegen ausgesucht, obwohl es keinen Saphir mit diesem leichten Grünton gibt, den ich bei dir so liebe.« Er trat hinter sie, um die Kette zu schließen. Dann legte er ihr die Hände auf die entblößten Schultern. »Die Rosenblüten in deinem Haar sind bezaubernd, so wie du.« Er presste die Lippen auf den Hals, oberhalb der glitzernden Edelsteine. Sie erbebte, aber nicht vor Widerwillen. »Du hast die Gabe, einer Frau das Gefühl zu geben, dass sie schön ist, Gavin.«

»Ich sage nur die Wahrheit.« Er nahm ihren Arm. »Jetzt wollen wir vor den Mädchen glänzen, bevor der schwierige Teil des Abends beginnt.«

Sie gingen die Treppen zum Unterrichtszimmer hinauf, wo die Cousinen die gleichen Köstlichkeiten genossen, die den Gästen später am Abend serviert werden würden. Die Mädchen ließen von ihren Hummerpastetchen und Käsehappen ab, um die Eintretenden zu bewundern. »Du siehst wie eine Märchenprinzessin aus, Mama!«, rief Katie.

Alex lachte. »Es freut mich, wenn du das so siehst. Aber in zehn Jahren wirst du mich in den Schatten stellen.«

»Niemals! «

Anne Kenyon, Alex' jüngere Halbschwester, sagte: »Da du blond bist, bist du einer Fee aus dem Märchen noch ähnlicher, Katie. So wie Tante Rosalind.«

»Aber Mama war Schauspielerin, und das ist viel interessanter als eine Märchenprinzessin«, sagte Lady Maria ernst.

Die Mädchen begannen eine lebhafte Diskussion über die jeweiligen Verdienste von Feen, Prinzessinnen und Schauspielerinnen, so dass Alex ihrer Tochter einen Kuss gab und mit Gavin hinunter zum Ball ging. Kurz bevor sie sich in die Höhle des Löwen begaben, blieb Alex stocksteif stehen, als ob sie erneut Fluchtgedanken hegte.

Gavin murmelte: »In die Bresche, mein Liebling.«

»Soldaten, die als erste eine Bresche schlagen, kommen unweigerlich dabei um.«

Er wünschte, sie hätte ihn nicht so wörtlich verstanden! »Ich glaube, du fürchtest dich mehr, weil du dich verändert hast, als dass du die Gäste fürchtest. Der Abend heute wird nicht so schlimm werden, wie du denkst.«

Sie befeuchtete die Lippen mit der Zunge. »Der Colonel hat mir einmal gesagt, dass Ereignisse, vor denen man sich fürchtet, nie so schlimm ausfallen wie erwartet.«

»Wir beide können uns in diesem Punkt doch nicht getäuscht haben, oder?«, fragte er.

»Hoffentlich nicht.« Mit erhobenem Kopf schritt sie in die Arena.

 

Zum Glück bot die Reihe von Gästen, die sich zur Begrüßung aufgestellt hatten kaum Gelegenheit, mehr als Höflichkeiten auszutauschen. Sie beäugten

Gavin neugierig und machten ihm gegenüber ab und zu eine mitfühlende Bemerkung über den Tod seines Großvaters. Nur ein alter Viscount fragte ihn geradeheraus, ob er königstreu oder ein mehr konservativer Liberaler sei. Gavin wich dieser Frage aus, da den armen Kerl bei einer ehrlichen Antwort sicherlich der Schlag getroffen hätte.

Philip Elliott erschien früh. Gavin sagte: »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«

Der jüngere Mann hob die Brauen. »Man sollte den Schakalen nicht das Blut zeigen.«

Die versteckte Ironie zeigte, dass Philip den ersten Schrecken überwunden hatte und sich langsam davon erholte. Er würde es überleben. Aber es war schade, dass man ihn nicht zur Marine oder zu einem anderen nützlichen Beruf getrieben hatte, als er noch jung war. Durch ehrliche Arbeit wäre er ein besserer Mensch geworden — was Gavin jetzt als eine typisch amerikanische Einstellung erkannte. In England war es eine ausfüllende Beschäftigung, Gentleman zu sein.

Neben ihm begrüßte Alex die verschiedensten Leute, die seit Jahren mit ihrer Familie verbunden waren. Viele davon hatten sie noch als kleines Mädchen gekannt. Alexandras anfängliche Ängste waren wie weggeblasen. Sie war der Inbegriff von Charme und Anmut und ganz die Tochter ihrer Mutter, die mehr von einer Countess hatte als er von einem Earl.

Gavin erlebte eine angenehme Überraschung, als er einen schlaksigen Mann mittleren Alters mit einem spöttischen Funkeln in den Augen begrüßte: »Ich bin Markland«, sagte er mit einem leichten amerikanischen Akzent. »Willkommen im House of Lords ... wir brauchen in unseren Reihen mehr Radikale aus den Kolonien.«

Gavin schüttelte die Hand des Mannes. »Woher wissen Sie, dass ich radikal bin?«

Markland grinste. »Meine Frau ist die Zwillingsschwester der Frau eines Kumpels Ihres Schwiegervaters. In den oberen Kreisen ist London so klein wie Boston. Vielleicht haben Sie von mir unter meinem richtigen Namen gehört, Jason Travers.«

»Natürlich!«, rief Gavin aus. »Wir beide sind in dem gleichen Geschäft. In Bostoner Reederkreisen sind Sie eine Legende, der Yankee-Earl.«

»Mit dem Spitznamen liegen Sie gar nicht so falsch. Ich führe meine Reederei von Liverpool aus und schicke meine Söhne auf das Harvard College, damit sie durch radikale, amerikanische Ideen verdorben werden.« Markland wurde ernst. »Die Reformbewegung macht hier Fortschritte: Katholische Emanzipation; Gesetze zum Schutz der Kinder, die sich in Fabriken zu Tode arbeiten; Kampf gegen hanebüchene Betrügereien bei der Stimmabgabe. Wir können doch mit Ihrer Unterstützung rechnen?«

»Natürlich. Warum nicht?«

»Sie wären erstaunt, wie viele Menschen nicht über ihre eigene egoistische Nase hinaussehen können. Aber Schritt für Schritt setzen sich auch hier demokratische und soziale Gedanken durch.«

Gavin lächelte. »Sie haben tatsächlich erreicht, dass ich mich auf das House of Lords freue. Vielleicht kann ich einen nützlichen Beitrag leisten.«

»Und ob Sie das können! Das werden Sie. Und wenn Sie das Bedürfnis haben sollten, mit einem anderen Amerikaner zu sprechen, der einige Meinungsverschiedenheiten mit dem britischen Establishment hatte, dann zögern Sie nicht, mich aufzusuchen. Sie können über Ihre Geschäfte mit der Ostindischen

Gesellschaft fluchen, und ich werde Ihnen von meiner Zeit im Gefängnistrakt an der Themse berichten.« Zu Alex weitergehend, sagte Markland: »Und warum hast du mich und Kira noch nicht besucht, du böses Kind!«

»Onkel Jason!« Alex ließ sich herzlich von dem Mann umarmen. »Wie schön, dich wiederzusehen! Wo ist Tante Kira?«

»Das Wetter macht ihr zu schaffen, so ist sie zu Hause geblieben, aber sie hat mir aufgetragen, dich nächste Woche zu einem Damen-Tee einzuladen.«

Gavin lächelte insgeheim über den weiteren Beweis, dass Alex mit dem Großteil des britischen Adels entweder blutsverwandt oder durch lange Familienfreundschaften verbunden war. Zwei ehemalige Verehrer, die um ihre Hand angehalten hatten, begrüßten Alex herzlich und stellten ihr dann ihre Frauen vor. Der Abend verlief freundlich und strafte ihre Vorbehalte Lügen.

Die Reihe der Wartenden näherte sich dem Ende, als Gavin sich dem nächsten Gast zuwandte und sich Sir Barton Pierce gegenübersah. Pierce war groß und breit und hatte es sich in London gut gehen lassen. Anscheinend hatte er mit steigendem Selbstwertgefühl auch an Gewicht zugelegt. Er streckte die Hand aus und sagte salbungsvoll: »Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Lord Seabourne. Ich wollte schon immer ...« Pierce erstarrte, als er sein Gegenüber erkannte.

Gavin schüttelte die Hand des Gastes mit übertriebener Höflichkeit. »Ich freue mich, dass Sie heute kommen konnten, Pierce. Oder ist Ihnen Sir Barton lieber?«

»Wie, zum Teufel, haben Sie es zum Earl of Seabourne geschafft?«, zischte Pierce und blickte ihn entrüstet an.

»Auf die übliche Weise. Der vorhergehende Earl, mein Großvater, ist verstorben.« Gavin genoss diesen Augenblick. »Es bestanden einige Zweifel bezüglich meiner Existenz, aber die sind nun aus dem Weg geräumt.«

Pierce erholte sich nur langsam. »Jetzt, wo Sie ein Lord sind, sollten Sie Ihre Hände nicht mit Handelsgeschäften beschmutzen. Ich würde Elliott House gern zu einem fairen Preis kaufen.«

Gavin lachte. »Elliott House ist nicht verkäuflich. Es gibt noch einen Yankee-Earl, der Reeder geblieben ist. Ich sehe keinen Grund, warum ich nicht das Gleiche tun kann.« Er wandte sich der Frau an Pierces Seite zu. »Und das ist Lady Pierce? Ich habe gehört, dass Sie von Ihren Reisen eine schöne Frau mitgebracht haben, aber das Gerücht wird ihr in keinster Weise gerecht.«

In diesem Punkt war er ehrlich. Lady Pierce war eine zierliche, ausnehmend schöne blonde Frau, deren Gesicht und Figur von klassischer Vollkommenheit waren. Mit einem gekonnten Lächeln reichte sie ihm die Hand. »Zu freundlich von Ihnen. Ich vermute, Sie sind der Grund, dass wir die Einladung zu den Ashburtons erhalten haben? Ich hatte mir immer schon gewünscht, den Herzog und die Herzogin kennen zu lernen.«

Ja, ja, damit sie sich mit ihnen brüsten konnte. Hinter dem engelhaften Äußeren der Dame spürte Gavin einen gierigen Appetit. Sie und Barton Pierce teilten Ehrgeiz und Habsucht und hatten mit ihrer Ehe einen uralten Tauschhandel abgeschlossen: Schönheit gegen Reichtum.

Als Gavin sich über ihre Hand beugte, sagte Alex kühl: »Frederica, so eine Überraschung!«

Lady Pierce zuckte zusammen. Sie war ebenso überrascht wie ihr Mann vorhin, als er Gavin erkannte. »Alexandra! Das ist weiß Gott eine Überraschung.«

Die beiden Frauen tauschten ein gekünsteltes Lächeln aus. Gavin erinnerte sich, dass Alex von einer spitzzüngigen Schönheit mit Namen Frederica gesprochen hatte, und das musste sie sein.

»Wir sind alte Bekannte aus Sydney, haben uns aber nicht mehr wiedergesehen, nachdem Barton mein Herz im Sturm erobert hatte und mich nach England zurückbrachte.« Frederica Pierces Blick wanderte zu Gavin. »Sie haben auch einen guten Griff getan, meine Liebe.« Geschickt ließ sie in der Stimme anklingen, welch Wunder es sei, dass Alex einen Mann gefunden hatte, der bereit war, sie zu heiraten.

»Frederica war die begehrteste Schönheit in Neusüdwales«, erläuterte Alex. »Eine Massentrauer brach aus, als Sie heirateten und Sydney verließen. Den Namen Ihres Mannes habe ich vergessen. Seit damals hat sich viel ereignet.«

Frederica Pierces Gesichtsausdruck veränderte sich. »Das habe ich gehört. Einer von Bartons Kapitänen traf vor kurzem in London ein und erzählte eine höchst merkwürdige Begebenheit. Wurden Sie in Ostindien tatsächlich versklavt und an den Harem eines Sultans in Borneo verkauft, für Ihr in Gold aufgewogenes Gewicht?«

Alex wurde bleich. Gavin überbrückte ihr erschrockenes Schweigen mit einem Lachen. »Geschichten von Reisenden sind immer viel dramatischer als die Wahrheit. Alex, vielleicht solltest du die Geschichte so belassen, sie ist so herrlich romantisch.« Besitzergreifend legte er die Hand auf die Hüfte seiner Frau. »Es ist stets eine Freude, alte Bekannte wiederzusehen, aber nachdem wir unsere Pflichten erfüllt haben, möchte ich meine Frau jetzt um einen Walzer bitten. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Lady Pierce.« Er verbeugte sich, bevor er Alex davonführte.

Die Musik hatte schon zu spielen begonnen. Gavin wirbelte Alex im Walzertakt herum, kaum dass sie die Tanzfläche betreten hatten. »Ich wollte dich so schnell wie möglich weglotsen, bevor ein Mord geschieht.«

Alex sog seufzend die Luft ein. »Von ganz London musste ausgerechnet diese Person erfahren, was ich erlebt habe! Frederica ist eine böse Frau. Auch wenn es stimmt, dass die Männer ihr nachtrauerten. Nachdem sie geheiratet und die Kolonie verlassen hatte, atmeten die Frauen erleichtert auf. Mir ist noch nie eine so kalte, berechnende, egoistische Person wie sie begegnet. Und sie wird mich aus reiner Gehässigkeit vernichten.«

»Ihr Mann hat Verbindungen zum Osten, die aber sehr vage sind. Sie weiß nicht, was sich wirklich zugetragen hat und wird es nie erfahren.«

»Wenn einer von der Mannschaft der Helena sich in einer Kneipe an den Docks betrinkt und die ganze Geschichte ausplaudert?« Alex' Gesicht hob sich weiß gegen das dunkle Haar ab.

»Auch wenn das der Fall sein sollte, niemand außer Suryo und mir weiß, was wirklich passiert ist. Und wir reden nicht.« Er sprach leiser. »Und wenn die Wahrheit herauskommt, was spielt es für eine Rolle?

Frederica Pierce hat keine Handhabe gegen dich. Du hast mächtige, treue Freunde und deine Familie - im Vergleich dazu ist sie ein gehässiger Zwerg.«

»Und da ich nichts gegen sie unternehmen kann, werde ich mich auch nicht sorgen.« Alex zwang sich zur Ruhe. »Da sie bei Frauen sehr unbeliebt ist, wird man ihre Geschichten nicht ernst nehmen. Obwohl die Männer alles schlucken, was sie sagt.«

»Nicht alle Männer, glaube mir. Ein Mann mit einem gesunden Menschenverstand wird sich von ihr fern halten. Sie hat den todbringenden Charme der Schwarzen Witwe.« Er grinste. »Man sollte sich freuen, dass sich zwei so perfekt zusammenpassende Partner gefunden haben.«

Alex' betrübtes Gesicht erhellte sich mit einem Lächeln. »Es ist nicht mehr nötig, dass du dich an Pierce rächst. Frederica ist Strafe genug.«