Kapitel 4

 

Alexandra war in einem Winkel des Käfigs eingeschlafen, als sie aber Fußtritte hörte, sprang sie erschreckt auf. Ihr Dasein als Sklavin hatte ihr rasch gezeigt, dass Veränderungen selten etwas Gutes bedeuteten. Seitdem die Wachen sie in den Palast gebracht und in einen Käfig gesperrt hatten, war sie der Furcht vor dem Ungewissen kaum Herr geworden, auch als die Männer sie in einem fremden, kostbar eingerichteten Zimmer allein zurückgelassen hatten.

Zuerst sah sie in dem gedämpften Licht einer Lampe einen großen, breitschultrigen Mann eintreten. Erleichtert erkannte sie den Europäer, den sie auf dem Sklavenmarkt gesehen hatte. Oder spielte ihr die Phantasie einen Streich? Nein, er war es. Ein hoch gewachsener, kräftiger Mann, dem man anmerkte, dass er zu befehlen gewohnt war. Diese grauen Augen und das helle, von der Sonne goldblond gebleichte Haar mussten europäisch sein. Sie stand auf, ging einige Schritte auf ihn zu und presste sich an die Gitterstäbe, während sie ihn begierig betrachtete. Die auffallend verzierte Uniform war nicht britisch — vielleicht deutsch oder skandinavisch.

Sie dämpfte ihre Erwartungen. Auch wenn er Europäer war, bedeutete dies nicht, dass er ihr helfen würde. Obwohl sie ihn auf dem Markt instinktiv um Hilfe angefleht hatte, sagte sie sich, jetzt, wo sie ihm gegenüberstand, dass ein Mann aus dem Abendland, der die entlegensten Winkel der Erde aufsuchte, ein Abenteurer und Abtrünniger war. Vielleicht hatte dieser hier den Sultan gebeten, ihm für die Nacht eine europäische Sklavin zur Verfügung zu stellen.

Aber das spielte keine Rolle. Auch wenn er aus niedrigen Motiven handelte, er war ihre einzige Chance, die Freiheit wiederzuerlangen, und sie würde alles tun, um sich bei ihm lieb Kind zu machen. Er musste ihr hellen.

Der Mann blieb erschrocken stehen, als er sie sah. Wahrscheinlich ist er nicht für meine Anwesenheit verantwortlich, dachte sie erleichtert und fragte ihn: »Sprechen Sie Englisch? Parlez vous francais

»Beides«, antwortete er auf Englisch. »Wie sind Sie in meine Suite gekommen?«

»Ich habe keine Ahnung.« Sie konnte ihre Verbitterung nicht unterdrücken, als sie hinzufügte: »Für gewöhnlich erfahren Sklaven nicht, was man mit ihnen vorhat.«

Seine Gesichtsmuskeln spannten sich. »Verzeihen Sie, das war eine törichte Frage.«

Obwohl sie ihre zerfetzte Baumwollbluse so gut es ging wieder in Ordnung gebracht hatte, war es ihr peinlich, dass der dünne, abgenutzte Stoff über ihren Brüsten spannte. Sie war größer als die meisten Frauen der Inseln. Für sie gab es keine passende kebaya.

Als sein Blick auf ihren Oberkörper fiel, blickte er verlegen weg. Sie empfand dies als beruhigend — ein Mann mit Anstandsgefühl wäre eher bereit, ihr zu hellen.

Er ging in das Schlafzimmer und kam mit einem ordentlich gefalteten Hemd zurück. »Darf ich Ihnen das geben?«

»Oh, bitte. « Er reichte ihr das Hemd durch die Gitterstäbe. Sie zog es sich sofort über den Kopf. Das Kleidungsstück reichte ihr fast bis zu den Knien. Bevor sie die Ärmel aufkrempelte, drückte sie das Gesicht in das frische weiße Gewebe. »Mmm, wie gut das riecht! So sauber.«

Er blickte in den Käfig hinein, der nichts enthielt außer einem Messingnachttopf. »Brauchen Sie noch etwas? Zu essen oder zu trinken?«

Sie benetzte die Lippen. Seit dem frühen Morgen hatte sie weder etwas gegessen oder getrunken. Während der ersten Stunde in ihrem Käfig hatte sie sehnsüchtig auf eine Schale mit Früchten auf einem niedrigen Tischchen an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers gestarrt.

»Wasser, bitte. Und dann ... könnte ich etwas Obst haben?«

»Selbstverständlich.« Er stellte die Obstschale auf den Fußboden, damit sie sie durch die Gitterstäbe erreichen und sich selbst bedienen konnte.

Während sie eine saftige Orange, eine jeruk manut schälte und aß, holte der Mann mehrere Kissen von einer Bank und schob sie in den Käfig. Dankbar sank sie darauf nieder. In den letzten Monaten hatte sie die kleinste Erleichterung zu schätzen gelernt.

»Leider kein Wasser, nur Reiswein.« Er setzte sich auf ein Kissen außerhalb des Käfigs und hielt eine Flasche und zwei Gläser in der Hand. »Der Wein ist ziemlich stark.«

»Danke.« Der Reiswein schmeckte sehr gut zu der Banane, die sie sich als Nächstes ausgesucht hatte. Dankbar genoss sie die Wärme, die sich im Körper ausbreitete und die verkrampften Muskeln entspannte. Einen Augenblick lang schloss sie die Augen. Die Gesellschaft eines Menschen ihrer Rasse war wohltuend. »Entschuldigen Sie. Ich habe alle guten Manieren vergessen. Mein Name ist Alexandra Warren, und ich bin Engländerin.«

»Gavin Elliott aus Boston, Kapitän eines Handelsschiffs.« Er bemerkte ihren Blick. »Vergessen Sie die Uniform — ich habe sie anfertigen lassen ... um Eindruck zu machen.«

Ein Amerikaner? Nicht ganz so gut wie ein britischer Landsmann, aber doch nicht so weit entfernt davon. »Wieso waren Sie auf dem Sklavenmarkt?«

»Reiner Zufall. Der Sultan möchte, dass meine Handelsgesellschaft die exklusive Vertretung seiner Reederei übernimmt und hat mir seine Stadt gezeigt.«

Sie lächelte zynisch. »Hat er Ihnen auch seine Piratenflotte gezeigt? Wahrscheinlich nicht ... ich glaube, sie befindet sich auf der anderen Seite der Insel.«

Er starrte sie an. »Dem Sultan gehören Piratenschiffe?«

»Ich weiß nicht, ob er sie befehligt oder nur stillschweigend duldet, dass sie seine Insel zum Stützpunkt nehmen und ihm dafür einen Prozentsatz ihrer Beute abgeben. Jedenfalls behaupten Dutzende von Piraten, Maduri sei der Heimathafen ihrer Praus.«

Elliotts Ausdruck wurde ernst. »Ich weiß, dass in diesem Teil der Welt Freibeuterei als Familiengeschäft betrieben wird. Piraten haben Sie gefangen genommen?«

»Mein Mann war bei der Armee. Er war in Sydney stationiert. Ungefähr sechs Monate nach seinem Tod befanden wir uns auf der Rückreise nach England. Dann griffen Piraten uns nach einem Sturm an.« Sie zitterte. »Es wäre besser gewesen, wenn wir untergegangen wären. Ich versuchte die Piraten zu überreden, ein hohes Lösegeld für uns zu verlangen, aber ohne Erfolg.«

»Wir?«

Die Fingerknöchel wurden weiß, als sie die trennenden Gitterstäbe umklammerte. »Meine Tochter Katie wurde mir gleich nach der Gefangennahme aus den Armen gerissen.«

Er hielt den Atem an. »Das tut mir Leid. Wie alt ist sie?«

»Acht. Jetzt bald neun.« Alex hatte Katies Bild vor sich, so wie sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Wie groß mochte ihre Tochter inzwischen geworden sein? Wo war sie jetzt?

» Acht «, sagte er leise. »So jung.«

Sie sah das Mitleid in seinem Gesicht und flehte ihn an. »Können Sie mir helfen, Captain Elliott? Wenn Sie mir meine Freiheit erkaufen, dann werde ich Ihnen das Doppelte zurückzahlen, das schwöre ich.«

Er zog die Stirn in Falten. »Heute Nachmittag habe ich den Sultan gefragt, ob ich das tun könnte, aber er sagte, es sei unmöglich.«

Also hatte er es bereits versucht. Es war ein Fehlschlag gewesen. Bitter enttäuscht fragte sie: »Wieso erlaubt der Sultan nicht, dass ich verkauft werde? Ich bin wertlos. Das hat man mir jeden Tag nach meiner Gefangennahme eingebläut.«

»Sultan Kasan hat ... eine sehr komplizierte Art zu denken. Da ich nicht auf sein Angebot eingegangen bin, könnte er Sie als Mttel gebrauchen, um mich umzustimmen.«

»Das ist lächerlich. Für Sie bin ich ein Nichts.« Sie langte durch die Stäbe und holte sich eine weitere Frucht. »Ob Sie seine Waren verschiffen oder nicht, was hat das mit meinem Schicksal zu tun?«

»Er wusste sofort, dass es mir unerträglich war, eine Europäerin als Sklavin zu sehen.« Elliotts Ausdruck wurde nachdenklich. »Das ist bestimmt der Grund, warum er Sie in dieses Zimmer bringen ließ.

Wenn mich bereits das Schicksal einer unbekannten Frau bewegt, wird es mich noch betroffener machen, wenn wir uns persönlich kennen gelernt haben.«

Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob er sich, ging um den Käfig herum und nahm die vergoldeten Gitterstäbe näher in Augenschein. »Die sind am Boden und an der Decke angeschraubt, und die Türschlösser würden einem Safe Ehre machen. Mit dem richtigen Werkzeug und viel Zeit könnte ich Sie befreien, aber in einer Nacht ist es unmöglich, Sie heimlich auf mein Schiff zu schleusen. Wir können nichts anderes tun als uns zu unterhalten und anzufreunden. Besser als unbekannt zu bleiben.« Er schüttelte den Kopf mit widerstrebender Bewunderung. »Kasan ist teuflisch schlau.«

»Jetzt bin ich nicht nur eine Sklavin, sondern auch ein Pfand.« Am liebsten hätte sie aus Verzweiflung darüber geweint, dass sie mit Haut und Haar der Willkür eines Fremden ausgeliefert war. Elliott schien ein anständiger Mensch zu sein, aber irgendwann waren auch seiner Hilfsbereitschaft Grenzen gesetzt. Sie war schließlich eine Unbekannte für ihn, der er zufällig begegnet war. Mutlos vergrub sie das Gesicht in den Händen. Sie war den Tränen nahe. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich als Kind unbedingt ein Junge sein wollte, um Abenteuer zu bestehen! Ich hätte in England bleiben sollen.«

»Wegen Ihrer Tochter?« Er setzte sich wieder auf den Boden und füllte ihre Weingläser nach.

Sie nickte und rang um Beherrschung. »Katie ist strahlend schön und blond. Was war sie für ein fröhliches Kind! Wenn ich zu schlafen versuche, höre ich ihre Schreie. Es war schrecklich, als dieser Pirat sie fortschleppte. Immer wieder und wieder frage ich mich, wo sie sein mag. Wie sie behandelt wird. Wie ich sie zurückbekomme. Sollte mir die Flucht von dieser verdammten Insel gelingen, gehe ich nach Singapur. Vielleicht kann mir die Armee helfen. Ihr Vater war Offizier.«

»Ich bin sicher, dass man alles tun wird, was möglich ist.«

Elliotts Zurückhaltung war nicht zu überhören. »Sie werden denken, ich mache mir etwas vor, wenn ich glaube, ich würde meine Tochter wiedersehen. Wahrscheinlich lebt sie versteckt im Harem eines reichen Mannes und ist unauffindbar. Sie ... sie könnte auch tot sein.«

»Es ist eher wahrscheinlich, dass sie gut behandelt wird«, sagte er tröstend. »Die Inselbevölkerung ist freundlich und nett zu Kindern, und Ihre Tochter ist jung genug, um sich anzupassen. Obwohl sie wahrscheinlich als Sklavin verkauft wurde, wird man sich ihrer liebevoll annehmen. Erstens um ihrer selbst willen und zweitens, weil schöne blonde Mädchen selten und kostbar sind.«

Aber Elliott sagte nicht, dass er der Überzeugung sei, Alexandra würde ihre Tochter wiedersehen. »Ich bete, dass Sie Recht behalten. Können ... können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren?«

Nach einer langen Pause sagte er: »Ein wenig. Meine Frau starb im Kindbett und unsere Tochter einen Tag später. Wir hatten ihr den Namen Anna gegeben. Sie wäre jetzt acht Jahre alt.«

Alexandra hielt den Atem an. Das plötzlich aufwallende Mitgefühl für diesen Mann erstaunte sie. Sie hatte Kapitän Elliott bisher nur als möglichen Helfer betrachtet, der sie aus ihrer Notlage befreien konnte.

Jetzt sah sie den Menschen in ihm. Er war einige Jahre älter als sie, so Mitte dreißig, schätzte sie. Der Ausdruck des braungebrannten Gesichtes war verschlossen und befehlsgewohnt, zeigte aber auch Witz und Intelligenz und die hart erworbene Weisheit eines Mannes, der ein bewegtes Leben führte.

Er war auch erstaunlich gut aussehend, stellte sie ein wenig widerstrebend fest. In ihrem elenden körperlichen wie seelischen Zustand hatte sie es nicht bemerkt. »Es tut mir so leid für Sie, Captain.«

Er hob die Schultern. »Man lernt vieles zu ertragen.«

Aber der Schmerz war nie vollständig gewichen — sie konnte es ihm ansehen. »Sie beschämen mich«, sagte sie leise. »Hoffentlich muss ich diese Stärke nicht lernen.«

»Das haben Sie bereits. Sie haben sechs Monate als Sklavin gelebt und sind ungebrochen.« Er trank einen Schluck von seinem Reiswein. »Haben Sie all die Monate darauf gewartet, verkauft zu werden?«

»Das war mein dritter Verkauf.« Sie legte den Kopf an die vergoldeten Gitterstäbe. »Ich bin keine sehr gute Sklavin. Zwei verschiedene Männer kauften mich für ihren Harem, als exotische Ausländerin. Ich war ihnen aber zu widerspenstig und rebellisch. Sie wollten mich nicht länger behalten. Als ich zum zweiten Mal verkauft wurde, war mein Preis beträchtlich gesunken. Und dieses Mal hat man mir den Mund verbunden, wie Sie ja gesehen haben, um mein böses Mundwerk im Zaum zu halten. Und ich wurde auf einem öffentlichen Markt angeboten.«

Er pfiff leise. »Sie sind unbeugsam, Mrs. Warren.«

»Nicht unbeugsam. Verzweifelt«, sagte sie schlicht. »Ich kämpfte, um Katie suchen zu können. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht aufgegeben. Das wäre viel einfacher gewesen.« Und sicherer. Die Narben ihrer Unnachgiebigkeit würde sie ein Leben lang tragen.

»Ist Katie in Maduri?«

»Eine Frau in dem ersten Harem, sie hieß Amnah, stellte mir zuliebe einige Nachforschungen an und erfuhr, dass Katie auf eine andere Insel gebracht wurde, aber sie wusste nicht, auf welche. Katie könnte überall sein.« Alexandra schwieg, schickte ein Dankgebet an Amnah, die einer vor Kummer halb verrückten Fremden eine Freundlichkeit erwiesen hatte. »Aber ich werde sie finden, auch wenn ich mein Leben lang nach ihr suchen muss.«

»Keiner sollte eine solche Bürde allein tragen.« Mit unbewegtem Gesicht langte Elliott durch die Stäbe, um ihre Hand zu ergreifen. Als sie unwillkürlich zusammenzuckte, zog er den Arm sofort zurück. »Ich schwöre, dass Sie frei sein werden, Mrs. Warren. Und ich werde alles daransetzen, um Ihnen bei der Suche nach Ihrer Tochter zu helfen.«

Der Atem setzte ihr einen Sekundenbruchteil aus. Sie konnte es nicht fassen, dass ein fremder Mann ihr, einer völlig Unbekannten, ein so großzügiges Angebot machte. Aber jedes Wort war ernst gemeint — das sah sie seinen Augen an. Rasch hatte sie erkannt, dass der Verlust seiner Frau und seines neugeborenen Kindes in ihm das starke Bedürfnis geweckt haben mochte, ihr und Katie in ihrer Not beizustehen. Wenn es ihm nicht gelungen war, seine eigene Familie vor ihrem Schicksal zu bewahren, so war dies vielleicht ein Weg, die Last seines Schmerzes und seiner Schuldgefühle zu lindern.

Das Leben in der Sklaverei hatte in ihr einen rücksichtslosen Pragmatismus geweckt. Sie war nicht stolz darauf, dass sie alles tun würde, um Katie zurückzubekommen, auch wenn sie den Kummer eines braven Mannes ausnutzte. Stolz war eines der ersten Dinge, die sie fahren ließ. »Ich werde Sie daran erinnern, Captain Elliott«, sagte sie ein wenig unsicher. »Gott segne Sie für Ihre Hilfe.«

»Wie könnte ich einer Frau in Ihrer Lage nicht helfen?« Es war ihm nicht einmal bewusst geworden, dass er soeben etwas Außergewöhnliches getan hatte. Er stand auf, ging im Zimmer auf und ab und betrachtete die prunkvolle Einrichtung. »Ich nehme an, dass Sie über Nacht hier bleiben, also müssen wir es Ihnen bequem machen. Dies hier wird Sie ein wenig abschirmen.«

Er faltete eine Art Paravent aus Sandelholz auseinander und stellte ihn an den Gitterstäben auf. Der würzige Duft des Holzes kitzelte Alexandra in der Nase. Sie war froh, dass sie vor der Eingangstür sowie Elliotts Schlafzimmertür Blickschutz erhalten hatte. »Das ist wunderbar. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, nicht immer den Blicken anderer ausgesetzt zu sein.« Heute Nacht würde sie hinter dem Schirm schlafen und auch den entwürdigenden Nachttopf dahinter verstecken. Bescheidenheit war ebenfalls eine Eigenschaft, die sie annehmen musste. »Danke.«

»Was brauchen Sie noch?«

»Haben Sie vielleicht etwas zum Zudecken? Es ist kühl geworden.«

Er verschwand im Schlafzimmer und kam mit einer zusammengefalteten Decke aus Ikat-Stoff zurück, der in einem satten Rot-und Braunton gewebt war. Dankbar wickelte sie sich darin ein und freute sich an der Wärme und Schönheit des kostbaren Tuches.

»Ich werde die Nacht im Luxus verbringen. Danke, Captain.«

»Gavin.« Ein Mundwinkel zuckte nach oben. »Da wir ein gemeinsames Quartier haben, könnten wir weniger förmlich sein.«

Unter normalen Umständen wäre dieser Vorschlag dreist erschienen, aber hier in dieser Welt waren sie Fremde, weit von ihrem Heimatland entfernt, und dies schuf zwischen ihnen eine besondere Art von Vertrautheit. »Meine Freunde nennen mich Alex.«

Er setzte sich wieder ihr gegenüber auf den Boden. »Alex. Das passt zu Ihnen.«

»Als Kind wurde ich eigentlich Amy genannt. Mit fünfzehn hielt ich es für angebracht, nicht mehr Amy zu heißen.« Sie lächelte, als sie an sorglose, glückliche Zeiten zurückdachte. »Mein zweiter Vorname ist Alexandra. Das klang viel besser und erwachsener. Ich hörte also nicht mehr auf Amy, und bald nannte mich jeder Alexandra oder Alex.«

Gavins Gesicht hellte sich belustigt auf. »Na, einfach waren Sie als Mädchen wohl nicht!«

»Richtig. Wahrscheinlich, weil ich immer ein Junge sein wollte.« Ein Schatten huschte ihr über das Gesicht, als sie an die Entscheidungen dachte, die sie in diese furchtbare Situation gebracht hatten. »Meine Mutter stets um mich zu haben war mir oft lästig. Ich glaube, das war auch einer der Gründe, warum ich einen Mann geheiratet habe, der mich aus England fortnahm.«

»Ist Ihre Mutter schwierig?«

Alex dachte an Catherine Kenyon. In diesem Augenblick sehnte sie sich so sehr nach ihr, dass sie am liebsten losgeheult hätte. Der Wein hatte den Wall aufgeweicht, den sie zum Überleben um sich aufgebaut hatte. »Nur weil sie so ... so perfekt ist. Die schönste Frau in England, eine wunderbare Mutter, und so gut und lieb, dass wir sie St. Catherine nannten, als wir den Trommeln nach Spanien und Portugal folgten. Sie gab uns das Gefühl, unser Leben sei ein großes Abenteuer.«

»Sie sind mit Wellingtons Armee aufgewachsen? Kein Wunder, dass Ihnen das normale Leben langweilig vorkam.«

»Da ich es nicht anders kannte, liebte ich unser Leben. Nur wenn ich zurückblicke, wird mir bewusst, wie schwierig es für meine Mutter gewesen sein muss. Sie war für mich und zwei Dienstboten verantwortlich. Oft hatte sie nicht genügend Geld oder Nahrungsmittel, und mein Vater war mit seinen Truppen oftmals wochenlang unterwegs.« Dazu kamen noch die zahllosen Seitensprünge ihres Vaters, aber das war ein Thema, über das niemals gesprochen wurde, auch nachdem Alex selbst eine verheiratete Frau war. »Einmal wären wir beide um ein Haar von Banditen überfallen worden. Unerschrocken jagte sie die Halunken mit einer Pistole in die Flucht. Sie hat alles richtig gemacht, während ich ...« Ihre Stimme brach ab. »Ich konnte nicht einmal meine eigene Tochter beschützen.«

»Das können Sie sich nicht vorwerfen, Alex«, sagte er streng. »Wenn Piraten ein kleines, unbewaffnetes Handelsschiff angreifen, dann haben die Passagiere Glück, wenn sie überleben.«

Wieder drängte sie die aufsteigenden Tränen zurück. »Auch Sie wurden von Piraten überfallen?«

»Vier Mal.« Unabsichtlich fuhr er mit der Hand über eine kaum sichtbare Narbe am linken Wangenknochen. »Das erste Mal war ich noch ein Junge. Ich lernte daraus, dass auch ein seetüchtiges, schnelles Schiff immer auf der Hut sein muss. Spätere Uberfälle während meiner Zeit als Erster Maat und dann als Kapitän richteten nicht mehr viel Schaden an. Ich heure nur Kapitäne an, die meine Ansicht teilen und größten Wert auf gute Wachen legen, außerdem sind meine Schiffe besser bewaffnet als die meisten Handelsschiffe, auch wenn zusätzliche Geschütze die Ladekapazität schmälern. Ich habe nie ein Schiff verloren, und meine Flotte befährt einige der gefährlichsten Gewässer der Erde.«

Er war also nicht nur Kapitän, sondern besaß auch eine größere Handelsgesellschaft. Es lag auf der Hand, warum Sultan Kasan an Gavin Elliotts Diensten interessiert war. »Waren Ihre Eltern Schotten? Ihr schottischer Akzent wird immer deutlicher.«

»Das muss der Wein sein.« Spielerisch drehte er sein Glas in der Hand. »Meine Mutter stammte aus Aberdeen. Sie war die Tochter eines schottischen Vikars. Ich wurde dort geboren. Wir lebten in Schottland und England, bevor meine Eltern mit mir als Zehnjährigem nach Amerika auswanderten.«

»Dann sind Sie also Brite«, sagte sie, froh, dass er in ihrem Land zur Welt gekommen war. »Ein Londoner Anwalt sagte mir vor langer Zeit »einmal ein Brite, immer ein Brite<.«

»Da ist etwas Wahres dran. Das Zuhause meiner Kindheit habe ich nie vergessen«, sagte er nachdenklich. »Aber Amerika hat meinen Geist und meine Ideen geprägt. Wir haben unsere Probleme, aber das Land wird nicht von überheblichen, aristokratischen Parasiten geknechtet wie die europäischen Länder.

Ein Mann kann sich selbst erschaffen, auf verschiedene Art, was in England unmöglich wäre.«

Sie würde nicht erwähnen, dachte sie, dass sie mit einigen aristokratischen Familien eng verwandt war, von denen einige tatsächlich eine gewisse Arroganz zeigten. »Haben Sie sich alles selbst erworben, Gavin?«

Er schmunzelte. »Ich habe mein Bestes getan.«

Gavin verteilte den restlichen Wein auf ihre beiden Gläser. »Gut, dass es nicht mehr davon gibt. Ich fürchte, ich würde sonst zu viel trinken. Mich überrascht, dass es hier überhaupt Wein gibt, denn die Inselbewohner sind Moslems.«

»Mein malaiischer Steward Suryo weiß gut über die Inseln Bescheid. Er hat mir erklärt, dass die Maduri im Allgemeinen zwar muslimischen Glaubens sind, aber immer noch vom Hinduismus beeinflusst sind sowie von älteren, überlieferten Glaubensrichtungen. Mit anderen Worten, die Maduris verehren Allah, trinken aber gerne.« Der Kapitän unterdrückte ein Gähnen und erhob sich. »Es ist spät, und wir beide brauchen Schlaf. Morgen ist viel zu tun.«

»Gute Nacht«, sagte sie und fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten sicher. »Und haben Sie vielen Dank.«

Er lächelte wieder. Es war ein herzliches Lächeln, das zu ihr hinüberstrahlte und ihr das Herz erwärmte. Sein Gesichtsausdruck sagte ihr, dass sie nicht mehr allein war. Gavin Elliott war nicht nur freundlich, sondern auch verständnisvoll. Welch bemerkenswerter Mann!

Kaum hatte er sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen, trat sie hinter den Schirm, streifte ihren Sarong und kebaya ab und schlüpfte in das Hemd. Mein

Gott, was für ein Luxus, in einem frisch gewaschenen Kleidungsstück zu schlafen! Wenn ... wenn sie jemals wieder frei sein sollte, würde sie solche Dinge nie wieder für selbstverständlich nehmen.

Schläfrig rollte sie sich in die Decke ein und bettete den Kopf auf ein weiches Kissen. Hoffentlich würde sie trotz aller Aufregung einschlafen. Morgen, so Gott will, würde sie eine freie Frau sein. Und das alles, weil sich ein Fremder kurz entschlossen zu ihrem Retter erklärt hatte.