Kapitel 33

 

Mit dröhnenden Kopfschmerzen fiel Alex von einem Albtraum in den anderen. Schreckensbilder von lodernden Flammen, herabstürzendem Gebälk und Steinen nahmen kein Ende. Angst, quälende Übelkeit und Schmerzen ließen sie nicht los. Das silbern schimmernde Wasser des Indischen Ozeans verlor seinen Glanz, verblasste zu dem kalten nördlichen Himmel ihrer Heimat, aus dem das Grauen hervorbrach. Sie hörte Stimmen, war aber zu benommen, um die einzelnen Worte zu verstehen. Grölende, ungeschlachte Männer. Die leise, klirrend kalte Stimme einer Frau. Sie wurde in Decken gehüllt, zitterte am ganzen Leibe. Unbeholfene Versuche, ihr teelöffelweise Wasser oder Brühe einzuflößen. Ausrufe des Ekels, wenn sie Galle spie.

Langsam kam die Welt wieder ins Gleichgewicht. Sie öffnete die Augen. Sie lag auf einem Feldbett. Die Decken reichten nicht aus, um die feuchte Kälte abzuhalten. Im Licht der einzigen Kerze erkannte sie, dass sie sich in einem steinernen Gewölbe befand. Hoch über ihr hing ein grauer, merkwürdiger watteähnlicher Stoff von der dunklen Backsteindecke. Es herrschte völlige Stille. Die Luft war feucht und stickig. Sie bewegte den Kopf zur Seite. Ihr Blick fiel auf einen Torbogen, der den Raum, in dem sie sich befand, von einem gemauerten Durchgang trennte. Blanke, neue Eisenstäbe und eine mit einem mächtigen Riegel verschlossene Tür versperrten den Ausgang. Auf der gegenüberliegenden Seite des Durchgangs befand sich ein zweiter Torbogen, ähnlich dem, der zu Alex' Zelle führte, nur ohne Gitter. Riesengroße Fässer stapelten sich darunter.

Sie schloss die Augen, versuchte sich zu erinnern, was sich ereignet hatte und wo sie sich befand. Als sie von den Piraten bewusstlos geschlagen worden war, hatte sie wie jetzt unter Übelkeit und heftigen Kopfschmerzen gelitten, aber das war nun schon lange her. Sie war mit Katie sicher und wohlauf nach England zurückgekehrt.

Gavin. Langsam nahm er Gestalt an, auch die Erinnerung an seine Verärgerung, aber weswegen ...? Weil sie unbedingt einen Mann treffen wollte, von dem sie sich Informationen über den Sklavenhandel erwartete. Sie rieb sich den Kopf, um den hämmernden Schmerz zu besänftigen. Vier Männer waren gekommen, einschließlich Sir Barton Pierce. Und sie dachte, sie wäre gestorben. Aber offensichtlich war das nicht der Fall, es sei denn, in der Hölle war es kälter, als sie angenommen hatte.

»Nun ... ist unsere schlafende Gräfin erwacht?«, gurrte es melodisch.

Alex drehte den Kopf herum. Frederica Pierce ging mit einer Laterne in der Hand auf das Feldbett zu. Sie trug einen blausamtenen Umhang, der ihre blonde, engelhafte Schönheit betonte. Ein kräftiger Mann mit einem Tablett folgte ihr.

Alex seufzte. Sie war kaum überrascht. Da Barton Pierce dabei war, als man sie niederschlug, war zu erwarten, dass auch seine Frau auftauchte. »Seien Sie vorsichtig, Frederica.« Alex hielt mitten im Satz inne. Ihre krächzende, schwache Stimme entsetzte sie. Alex schluckte und versuchte es noch einmal. »Sie beschmutzen sich noch Ihren feinen Umhang.«

»Das ist es mir wert.« Ein einfacher Holzstuhl stand vor der Zelle. Frederica setzte sich darauf und ordnete sorgfältig die Falten ihrer eleganten Kleidüng, während sich ihr Begleiter vor den Stangen niederkniete und das Tablett mit dem Essen unter dem Gitter in die Zelle schob. Eine schmale Öffnung am Boden des Gitters war eigens zu diesem Zwecke ausgespart worden, um nicht die Tür öffnen zu müssen, wenn man ihr das Essen brachte.

Alex gelang es nur mühsam, sich auf dem Feldbett aufzusetzen. Als sich das Schwindelgefühl gelegt hatte, stellte sie die Füße auf den Boden. Die Steine waren kalt und glitschig. »Wie lange bin ich schon hier?«

»Vier Tage. Ich hatte anfangs Befürchtungen, dass Sie den Schlag auf den Kopf nicht lebend überstehen würden, aber Sie haben den harten Schädel eines irischen Bauern.« Ein Kompliment war das nicht.

Alex wickelte die Decken um ihren zitternden Körper. »Warum haben Sie mich nicht sofort umgebracht? Es wäre doch einfacher gewesen, anstatt mich hierher zu bringen.« Es sei denn, man wollte sie foltern. Im Augenblick hielt sie alles für möglich.

»Ich habe einen viel besseren Plan, als Sie umzubringen, Alexandra.« Frederica betrachtete Alex mit glänzenden Augen. »Barton hat den Hinterhalt gelegt, um Sie und Ihren Mann loszuwerden, aber Seabourne hat sich tapfer verteidigt. In dieser Nacht haben wir zwei gute Männer verloren.«

Alex fiel ein, dass Gavin der Meinung gewesen war, Pierce hätte kein Motiv für den Überfall. »Warum will uns Ihr Mann töten? Er und Seabourne schätzen sich zwar nicht besonders, aber das ist noch lange kein Grund, um einen Menschen zu ermorden.«

»Glauben Sie? An Gründen mangelt es uns nicht. Erstens hat Barton dem Cousin Ihres Mannes eine beträchtliche Summe >geliehen<, um sich Seabournes Bürgschaft für einen Sitz im Parlament zu sichern.

Da Philip Elliott seinen Titel samt Erbe verloren hat, wird Barton vielleicht kaum etwas von dem Geld wiedersehen, das er diesem Spieler gegeben hat.«

»Das ist doch wohl kaum die Schuld meines Mannes«, machte Alex geltend. »Für ihn war das Erbe eine Überraschung aus heiterem Himmel.«

»Das behauptet er.« Fredericas zarte Gesichtszüge wurden hart. »Barton ist über diese verlorene Investition sehr verärgert. Er hat sich aber die Einfluss-nahme eines anderen Lords >erworben< und wird seinen Sitz nach den nächsten Wahlen erhalten. Seabournes unverzeihlicher Fehler war, Sultan Kasan davor zu warnen, Barton zu Maduris alleinigen westlichen Agenten einzusetzen. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was uns das kostet? Mehrere zehntausend Pfund im Jahr! Die Nachricht über das hinterhältige Verhalten Ihres Mannes erhielt Barton vergangene Woche über seinen Agenten aus Singapur. Ein weiterer Grund, warum Barton beschloss, Seabourne nicht ungestraft davonkommen zu lassen.«

Diese Neuigkeit ließ Alex zusammenfahren. Pierce hatte man ein Geschäft vereitelt, das ihm Unsummen von Geld eingebracht hätte. Für ihn tatsächlich ein Motiv, sich bitter zu rächen. Sonderbar, wenn man bedachte, dass Gavins Warnung an einen Herrscher am anderen Ende der Welt derartige Nachwirkungen haben konnte.

Auch wenn es vielleicht aufschlussreich war, Pierces Motiv zu erfahren, so spielte das jetzt keine Rolle mehr. Sie riss sich zusammen und fragte: »Ist Seabourne tot?«

»Noch nicht. Barton hatte diesmal einen bewaffneten Überfall geplant, da erzählte mir Daisy, dass Sie der Sklaverei den Kampf angesagt hätten. Für eine Sklavin ist sie erstaunlich geistreich. Sie erkannte sofort, dass man Sie mit Ihrem naiven Idealismus in die Falle locken konnte.«

Die junge Frau, die Alex aus der Sklaverei errettet hatte, vergalt ihr diese Tat mit schnödem Verrat? »Daisy war also ein Spitzel.«

Frederica nickte. »Nachdem Sie diese unangenehme Szene bei Hatchard heraufbeschworen hatten, nutzte ich die Gelegenheit, um Daisy in Ihre Nähe zu bringen. Sie würden so stolz darauf sein, eine arme Sklavin >gerettet< zu haben.«

Alex hörte noch Daisys Worte, als sie sie bat, bei ihr arbeiten zu dürfen, auch nur als Küchenhilfe. So viel zum Thema Dankbarkeit. »Warum hat Daisy das gemacht? Haben Sie ihr für diesen Verrat eine Prämie geboten? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sie Ihnen so ergeben ist.«

Frederica zuckte mit den Achseln. »Die Schlampe war in anderen Umständen, als sie Amerika verließ. Ein schwangeres Dienstmädchen ist lästig, aber Daisy hat sehr viel Geschick für Frisuren und die Herstellung von Schönheitspflegemitteln, und so habe ich ihren Zustand geduldet. Da Daisy sich weigerte vorzugeben, sie sei eine entflohene Sklavin, habe ich etwas nachgeholfen und ließ ihr Kind auf Baritons Landsitz bringen. Danach war Daisy sehr gehorsam.«

Alex stockte der Atem bei dieser kaltblütigen Grausamkeit. Für eine Mutter ein furchtbares Dilemma. Kein Wunder, dass Daisy alles tat, was ihre frühere Herrin verlangte. Kein Wunder, dass sie so verzweifelt aussah und Alex nicht in die Augen blicken konnte. »Durfte Daisy, nachdem sie Ihnen gehorcht hatte, zu ihrem Kind?«

»Ja, ich habe sie auch aufs Land geschickt. Es schien mir angebracht, sie nach dieser Geschichte aus London verschwinden zu lassen. Es wäre nicht gut, wenn die Polizei sie verhörte. Sie könnte in Panik geraten und alles ausplaudern.« Frederica zog die Stirn in Falten. »Ich kann sie nicht wieder als Dienstmädchen einstellen. Leider hat sie Barton einen Haufen Geld gekostet. Es wird vielleicht das Beste sein, sie wieder in Amerika zu verkaufen. Ihr kleiner Sohn könnte noch einen Extrapreis erzielen. Er ist ein ziemlich kräftiges Kerlchen.«

Alex drehte sich der Magen um. Sie konnte Daisy keinen Vorwurf machen, dass sie Fredericas Anordnungen gefolgt war. Wenn sie ihr doch nur die Wahrheit gestanden hätte! Alex und Gavin hätten schon einen Weg gefunden, um den kleinen Jungen aus den Fängen der Bartons zu befreien. Aber Daisy hatte keinen Grund, an die guten Absichten der Menschen, die sie ausspionieren und verraten sollte, zu glauben, und jetzt befanden sie sich alle in Schwierigkeiten.

Gavin war auch in diese Falle getappt. »Wird Seabourne hier ebenfalls gefangen gehalten?«, fragte Alex.

»Wir haben noch etwas viel Besseres gefunden.« Frederica lächelte mit zufriedener Bosheit. »Er befindet sich im Tower von London und wartet darauf, dass man ihm den Prozess macht. Wegen Mordes an seiner Frau.«

Alex schnappte nach Luft. »Wie ist das möglich, wenn ich noch am Leben bin?«

»Göttliche Fügung, würde ich denken.« Frederica legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Mein Mann und ich geben ein prächtiges Team ab. Zusammen sind wir stärker, klüger und erfolgreicher. Auch wenn Barton gerissen, draufgängerisch und energisch ist, fehlt es ihm an der nötigen Raffinesse. Es war mein Vorschlag, dass die Entführung für Sie beide die weit bessere Strafe sei. Da Ihr Mann sich für mindestens sieben Jahre nicht mehr wieder verheiraten dürfte, würde er keinen Erben mehr in die Welt setzen können. Noch besser, Ihre Eltern würden ihm an Ihrem Verschwinden die Schuld geben und ihn dadurch zum Paria der Londoner Gesellschaft machen. Das würde uns unendlich mehr befriedigen, als ihn nur zu töten.«

Ehrgeizige Leute, wie die Pierces, musste eine gesellschaftliche Ächtung schlimmer treffen als der Tod. Offensichtlich war es ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass Gavin andere Wertmaßstäbe setzte. »Leider sehe ich nicht, wo hier die göttliche Fügung ins Spiel kommt.«

»Als Sie Bartons Mann, Webb, getötet haben.«

Alex starrte sie an. »Ich habe jemanden getötet?«

»Sie erinnern sich nicht mehr? Sie haben ihn in die Brust geschossen. Weil das Feuer, das Bartons Männer gelegt hatten, sich so schnell verbreitete, ließen sie Webb zurück, der sowieso gestorben wäre, und nahmen Sie an seiner Stelle mit. Die Flammen hatten ganze Arbeit geleistet, denn die Reste des Leichnams konnten später nicht mehr identifiziert werden.« Wieder zuckte Frederica mit den Achseln. »Webb hatte ungefähr Ihre Größe. Und Ihre Pistole wurde neben ihm gefunden. Da Feuerwehr und Polizei nach Ihrer Leiche suchten, haben sie sie als solche identifiziert. Ehrlich gesagt, ich hätte das selbst nicht besser planen können. Eine Kette von glücklichen Zufällen.«

Folie ä deiix, Wahnsinn zu zweit. Als Alex in Fredericas glänzende, vom Irrsinn gezeichnete Augen blickte, verstand sie die Bedeutung dieses französischen Ausspruchs. Barton war rachsüchtig, aber bei gesundem Verstand, während Frederica boshaft und unberechenbar, aber nicht mordlüstern war. Gemeinsam schaukelten sie sich zu Handlungen empor, die keiner von ihnen allein begangen hätte.

Sie konnte sich leicht vorstellen, wie die beiden über ihre so genannten Feinde sprachen, sich in ihrer Wut steigerten, bis sie sich selbst davon überzeugt hatten, dass ein Mord gerechtfertigt war. Mit Frederica an seiner Seite als Lady Macbeth hatte Pierce die doppelbödige Bestrafung erfolgreich inszeniert.

»Soll ich den Rest meines Lebens hier verbringen?« Alex' Augen wanderten über den kalten, grauen Stein. Ein graues Etwas krabbelte über die Mauer.

»Mit diesem Gedanken hatte ich gespielt, aber es wäre mir doch sehr lästig geworden, Ihnen bis an Ihr Lebensende täglich etwas zu essen zu bringen. Die Zeit meiner Dienstboten kann ich besser verwenden. Solange der Prozess Ihres Mannes andauert, bleiben Sie hier, und ich werde Sie regelmäßig besuchen, um Ihnen zu berichten, wie schlecht es um ihn steht. Die Beweislast ist gegen ihn, und die Chancen, dass er gehängt wird, stehen gut.«

Alex' Mut sank. »Es kann keine stichfesten Beweise gegen Seabourne geben.«

»Sie täuschen sich. Davon gibt es ausreichend. Sollte er aber doch dem Henker entwischen, wird Barton ihn erschießen lassen. Die Öffentlichkeit wird annehmen, dass einer Ihrer gramgebeugten Verwandten Rache an ihm nahm, weil Sie Ihr unschuldiges Leben durch seine Hand verloren haben. Nehmen wir zum Beispiel Ihren Stiefvater: In den Clubs werden bereits Wetten abgeschlossen, dass er Seabourne töten wird.« Frederica neigte den Kopf zur Seite. »Außerdem wird gemunkelt, dass die Zuneigung Lord Michaels für Sie nicht ganz väterlicher Natur sei. Vielleicht haben Sie Ihren ersten Mann nur deswegen geheiratet, weil er Sie weit weg nach Australien brachte, wo Sie vor den Zudringlichkeiten Ihres Stiefvaters sicher waren?«

Die Erkenntnis, dass reine Wut Frederica zu diesen Anschuldigungen getrieben hatte, bewahrte Alex davor, durch die Gitterstäbe auf sie einzuschlagen. »Unsinn. Ein Mann, der mit meiner Mutter verheiratet ist, würde sich niemals nach einer anderen umsehen. Es ist nur natürlich, dass mein Stiefvater sich schützend vor seine Familie stellt, aber er ist gerecht und schätzt Gavin. Es würde niemals zu einem Mord kommen.«

»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, räumte Frederica bedauernd ein. »Aber man kann es hoffen.«

»Was geschieht mit mir nach der Verhandlung? Stößt man mir ein Messer zwischen die Rippen und wirft mich in den Fluss?«

Frederica lächelte mit angsterregender Boshaftigkeit. »Da Sie das Thema so sehr interessiert: eines von Bartons Schiffen wird Sie an die nordafrikanische Küste bringen. Dort können Sie die Sklaverei an Ort und Stelle studieren.«

Alex war vor Schreck wie gelähmt. Ein Blick in Fredericas blassgrüne Augen sagte ihr, dass die Kontrahentin mit schlafwandlerischer Sicherheit ihren wunden Punkt entdeckt hatte. Sie kämpfte gegen die Panik an, die sie bei dem Gedanken erfasste, wieder in die Sklaverei zu geraten. »In Nordafrika ist es wenigstens wärmer als hier.«

Fredericas Lippen wurden schmal. »Alexandra, Sie versetzen mich tatsächlich in Erstauen. Zu schade, dass Sie nicht als Mann auf die Welt gekommen sind. In diesem Fall hätten Sie sehr verführerisch auf mich gewirkt.« Der Blick wanderte zur Kerze, die in einer Ecke von Alex' Zelle brannte. »Soll ich sie entfernen und Sie der Dunkelheit überlassen?«

Alex versuchte nicht an das Etwas zu denken, das vorhin an der Mauer entlanggehuscht war. »Natürlich möchte ich die Beleuchtung nicht missen, aber ich komme auch ohne sie zurecht.« Um Fredericas Gedanken von der Kerze abzulenken, fuhr sie fort: »Wo bin ich? Einen Ort wie diesen hier habe ich noch nie gesehen.«

»Sind Sie noch nie in den Weinkellern am Londoner Hafen gewesen?«, fragte Frederica überrascht. »Es gibt vier offizielle Zollgewölbe. Sie liegen unter den Docks und den angrenzenden Straßen.« Sie zeigte auf das watteähnliche Material, das von der Decke hing. »Es heißt, dass dieser Pilz nur dort gedeiht, wo Temperatur und Feuchtigkeit die perfekten Bedingungen zur Lagerung von Wein schaffen.«

Weinkeller? Jetzt merkte sie, dass die drückende Luft den süßen Beigeschmack von Wein hatte. »Wenn ich mich in einem Weinkeller der Zollbehörde befinde, ist es doch nur eine Frage der Zeit, dass jemand auftaucht.«

»Pech gehabt, meine Gute. Dieser Keller hier wurde zwar zur gleichen Zeit erbaut und grenzt an die anderen Gewölbe an, aber er ist kleiner und war immer in privatem Besitz. Vor einigen Monaten entschloss sich Barton, in den Weinhandel einzusteigen.

Also kaufte er die Kellergewölbe und ihren Inhalt. Kein Mensch kommt hierher außer uns. Ein besseres Versteck hätte Barton nicht finden können, aber das hatte er natürlich nicht erkannt. Mir dagegen kam diese Möglichkeit gleich in den Sinn.«

Frederica erhob sich. Sorgfältig schüttelte sie den Staub vom Saum ihres blausamtenen Umhangs. »Ich werde Ihnen die Kerze lassen. Mit Ihrem Essen werden Sie jeden Tag eine neue bekommen. Es wäre doch sehr unfreundlich, Sie hier im Dunkeln zurückzulassen. Au revoir, Alexandra. Passen Sie auf die Ratten auf.«

Frederica und ihr Mann verschwanden und ließen Alex beim schwachen Schein der Kerze zurück, die auf keinen Fall bis zum nächsten Tag brennen würde. Nun brauchte sie ihre Verzweiflung nicht länger zu verbergen. Am ganzen Leib zitternd, verbarg sie ihren schmerzenden Kopf in den Händen. Großer Gott, was hatte sie getan, um erneut in Gefangenschaft zu geraten?

Als Kind wurde sie für kurze Zeit von einem bösartigen Cousin ihrer Mutter entführt. Als Erwachsene geriet sie in die Sklaverei. Und jetzt sah es so aus, als ob sie das Schicksal dazu verdammt hatte, in einem fremden Land als Sklavin zu sterben, da es keinen Gavin geben würde, der sie rettet. Ein so großes Glück widerfuhr einem nicht zweimal.

Lieber würde sie sich umbringen, bevor sie wieder ein Dasein als Sklavin fristete. Es würde nicht einfach sein ...

Nein. Eines Tages würde sie vielleicht verzweifelt genug sein, um Hand an sich zu legen. Aber jetzt war sie am Leben und befand sich in England. Wenn Frederica die Wahrheit sagte - und ihre Worte klangen entsetzlicherweise glaubhaft —, drohte Gavin die Todesstrafe. Ein so aufsehen erregender Fall würde ziemlich bald zur Verhandlung kommen, die aber trotzdem einige Wochen dauern würde. Ausreichend Zeit für Alex, um aus diesem furchtbaren Gefängnis zu entkommen.

Das hieß wiederum, dass sie keine Zeit mit Selbstmitleid vergeuden durfte. Also durfte sie nicht mit ihrer Familie mitfühlen, die um ihren angeblichen Tod trauerte. Von neuem Mut erfüllt, stand sie auf. Nach einem entsetzlichen Schwindelanfall ging sie zu dem Eisengitter und hob das Tablett mit dem Essen auf. Sie brauchte Kraft und das hieß, dass sie sich gut ernähren musste.

Nachdem sie sich wieder auf ihr Feldbett gesetzt hatte, öffnete sie die mit einem Deckel verschlossene Schüssel, die eine dicke Gemüsesuppe enthielt. Auch wenn sie lauwarm war, schmeckte sie angenehm. Mit einem halben Laib Brot und einem Stück Käse ergab es eine sättigende Mahlzeit. Man hatte sogar an eine Kanne Tee gedacht. Sie trank ihn gierig und genoss seine belebende Wirkung.

Vermutlich stammte das Essen aus einer Schenke, in der die Hafenarbeiter einkehrten. Wenn die Mahlzeiten in Zukunft auch so gut waren, brauchte sie sich zumindest nicht vor dem Hungertod zu fürchten.

Da ihr Magen noch etwas mitgenommen war, stellte sie das Tablett zur Seite, um später weiterzuessen, und hoffte, dass sie damit keine Ratten anlocken würde.

»Miau, miau.«

Überrascht blickte Alex auf, als sich ein Kater durch die Gitter ihrer Zelle zwängte. Das große, kräftige Tier blickte auf die Essensreste und miaute erneut.

»Komm her, mein Miezchen.« Lächelnd brach Alex ein Stück Käse ab und legte es auf den Boden. Sie hätte sich denken können, dass da, wo es Ratten gab, auch Katzen sein würden.

Der getigerte Kater verschlang den Leckerbissen und bettelte miauend um Nachschub. Nach einem zweiten Stück ließ er sich von Alex hinter den Ohren kraulen. Sein Fell war herrlich weich, sein Körper angenehm warm. »Bist du einverstanden, wenn ich dich ab jetzt Captain Cat nenne?«

Er schnurrte bejahend. »Sehr gut, Captain. Ich würde es sehr begrüßen, wenn du regelmäßig vorbeikommst und die Ratten vertreibst. Zum Dank dafür werde ich mein Essen mit dir teilen. Einverstanden?«

Captain Cat sprang auf die Pritsche, drehte sich einige Male im Kreis und rollte sich mit eingezogenen Pfoten zum Schlafen zusammen. Alex fühlte sich besser und nahm eine sorgfältige Erkundung ihrer Umgebung vor. Nach Wein riechendes Sägemehl war auf dem Boden verstreut; am Rand befanden sich einige aufgestapelte Fässer.

Die sanitären Einrichtungen bestanden aus einem Loch in einer Ecke. Sie kniete sich hin und untersuchte es genau. Man hatte einen Stein herausgeschlagen. Der darunter entstandene leere Raum sollte wahrscheinlich als Nachttopf dienen, obwohl der Geruch unangenehm sein würde.

Als Nächstes begutachtete sie die Eisenstäbe, die ihre Zelle verschlossen. Sie waren neu, fest miteinander verschraubt und tief in das Mauerwerk eingelassen. Unmöglich, sie zu durchbrechen.

Sie langte durch die Stäbe und prüfte das Schloss.

Es war ebenfalls neu und sah hoffnungslos stabil aus. Ein erfahrener Einbrecher könnte es vielleicht mit viel Geschick knacken. Alex bezweifelte, dass ihr dies gelingen würde, da es ihr vor allem an dem geeigneten Werkzeug aus Metall mangelte, das in das Schlüsselloch passte. Wahrscheinlich hatten nur die Pierces den Schlüssel. Es gab also keinen Wärter, den sie bezirzen konnte, damit er sie hinausließ.

Warum gab es keine Tür, die dieser Wärter öffnen musste, um ihr die Mahlzeiten zu bringen? Mit wing chun hätte sie die Chance, einen Mann zu Boden zu schlagen, da er den Angriff einer Frau nicht erwarten würde. Aber die Zelle war so gebaut, dass die Tür nur geöffnet werden musste, wenn Alex herausgeführt und auf das Schiff nach Nordafrika gebracht wurde. Sie unterdrückte den Schauder, der sie bei dieser Vorstellung überlief.

Wenn die Eisenstäbe und das Schloss ihrer Flucht im Wege standen, blieben nur die steinernen Mauern. Sie tastete die feuchte Wand auf ihrer Seite mit den Händen ab. Die Docks waren mindestens dreißig Jahre alt. An manchen Stellen bröckelte bereits der Mörtel ab.

Hatte sie etwas, das sie als Werkzeug benutzen konnte? Der schlichte, schwere Suppenlöffel war ihre einzige Wahl. Mit dem Stiel kratzte sie am Mörtel. Aufgeregt entdeckte sie, dass ein kleines Stückchen herabfiel. Es würde Wochen dauern, bis sie den Mörtel von einer genügend großen Anzahl von Steinen weggekratzt hatte, um hindurchzuschlüpfen. Aber es war zu schaffen. Wenn es ihr gelang, in den Lagerraum nebenan zu kriechen, konnte sie bis zum Haupteingang gehen, warten, dass jemand hereinkam, und dann die Flucht wagen.

Wo sollte sie anfangen? Sie entschloss sich für eine Stelle im vorderen Bereich der Zelle, eine Handbreit oberhalb des Bodens. Sollte jemand in ihre Zelle schauen, würde er nichts von ihren Bemühungen bemerken, solange sie die Steine wieder an ihren Platz schob, nachdem sie den Mörtel entfernt hatte.

Nachdem sie den Plan zur Flucht gefasst hatte, begann sie mit der langwierigen, mühsamen Arbeit.