Der Augenblick, vor dem Gavin sich am meisten gefürchtet hatte, trat am fünften Tag seiner Haft ein. Er erstarrte beim Anblick von Lord und Lady Michael Kenyon, als sich die Tür zu seiner Zelle öffnete. Wie sollte er den Eltern seiner Ehefrau, für deren Mord er angeklagt wurde, gegenübertreten?
Seit ihrer letzten Begegnung schien Lord Michael um Jahre gealtert zu sein. Es hätte Gavin nicht gewundert, wenn er mit einer Pistole auf ihn losgegangen wäre.
Wahrscheinlich wäre er der Kugel nicht einmal ausgewichen.
Catherine löste die Spannung, die in der Luft hing, und ging auf ihn zu, um ihn zu umarmen. »Mein lieber Gavin. Es ist alles so fürchterlich.«
»Es tut mir alles so schrecklich Leid, Catherine.« Er war dankbar für ihr Mitleid und drückte sie fest an sich. »Wie geht es Katie?«
»Sie ist niedergeschmettert, versucht es aber nicht zu zeigen. Es bricht mir das Herz, wenn ich sie sehe.« Sie wischte sich mit dem Handschuh eine Träne aus dem Augenwinkel. »Sie wohnt zurzeit bei uns in Ashburton House. Sie wollte Sie heute unbedingt sehen, aber ich dachte, es wäre besser, wenn wir erst einmal mit Ihnen reden. Anscheinend haben Sie sich nicht von ihr verabschieden können?«
Gavin schluckte. »Die Polizisten wurden ungeduldig. Außerdem ... Ich wollte nicht, dass sie mich so sieht. Angeklagt — als Mörder ihrer Mutter. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht überlege, ob ich das Richtige getan habe.«
»Wenn man Kinder hat, überlegt man jeden Tag, ob man die richtige Entscheidung trifft«, sagte Catherine, während sie sich hinsetzte.
»Das Gleiche gilt für Ehefrauen. Alex könnte noch am Leben sein, wenn ich besser aufgepasst hätte.«
»Setzen Sie sich und erzählen Sie uns, was vorgefallen ist. Was wir von Bard wissen, ist wenig aufschlussreich«, sagte Lord Michael mit versteinertem Gesichtsausdruck.
Und wieder erzählte Gavin die Geschichte. Es kam ihm vor, als habe er sie schon tausendmal erzählt. Regungslos lauschten die Kenyons Gavins Worten. Als er berichtete, wie man Alex' Körper gefunden hatte, verkrampften sich ihre Hände. Am Ende sagte Lord Michael: »Sie hätten sie nicht aufhalten können, Gavin. Sie war schon immer ein Dickkopf, genau wie ihre Mutter.« Er lächelte sie an.
Trotz der dunklen Schatten unter ihren Augen schenkte Catherine ihm ebenfalls ein Lächeln. »Michael hat Recht. Niemand hätte Alexandra von ihrem Kampf gegen die Sklaverei abhalten können. Wenn nur ...«
Catherine biss sich auf die Lippe und wandte den Blick ab. Es gab tausende von »wenn nur«. Leider konnte keines von ihnen das Geschehene rückgängig machen.
»Hat man herausgefunden, wer das Lagerhaus betreten hat, während Sie in den Stallungen waren?«, fragte Lord Michael.
»Es gibt da einen alten Mann, der auf der anderen Straßenseite wohnt. Er behauptet, dass niemand nach mir das Gebäude betreten oder verlassen hat«, erklärte Gavin. »Der Anwalt, der für mich arbeitet, hat eine Polizeistreife beauftragt, weitere Zeugen ausfindig zu machen. Bis jetzt leider ohne Erfolg.«
»Der alte Mann konnte die dem Fluss zugewandte Seite des Lagerhauses doch gar nicht sehen, oder?«
»Das ist richtig. Unglücklicherweise aber auch sonst niemand. Ein halbes Dutzend Männer hätten sich unerkannt über die Flussseite Zutritt verschaffen können. Dort befindet sich eine große Doppeltür für die Warenlieferanten und noch eine kleinere«, erläuterte Gavin. »Es waren keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens auszumachen. Die kleinere Tür ist im Fluss verschwunden, als ein Teil des Gebäudes einstürzte. Es ist unmöglich, an dieser Stelle einen Einbruch nachzuweisen.«
»Hat man nicht auch von Brandstiftung gesprochen?«
»In den Ruinen wurden zerbrochene Krüge mit Petroleum gefunden«, erwiderte Gavin. »Bedauerlicherweise scheinen sie aus dem Bestand von Elliott House zu stammen. Obwohl die Krüge beweisen, dass es Brandstiftung war, liefern sie uns keinen Hinweis auf den Täter. Der Zeuge ist sich nicht sicher, ob ich lange genug in dem Lagerhaus war, um das ganze 01 auszugießen.« Gavin stellte beruhigt fest, dass die Kenyons ihn nicht verdächtigten.
»Haben Sie eine Erklärung, was passiert sein könnte?«
»Ich kann nur Vermutungen äußern«, sagte Gavin. »Die einfachste Erklärung wäre, dass das Mädchen Daisy einen Verbrecher zum Freund hatte. Vermutlich erhoffte sich dieser eine leichte Beute und war in der Absicht gekommen, eine reiche Frau zu bestehlen. Andererseits war es unwahrscheinlich, dass Alex Geld und Juwelen bei sich hatte. Außerdem hat man niemand durch die unverschlossene Tür hereinkommen sehen. Falls Daisys Geliebter vorgehabt hätte, das Lagerhaus auszurauben, hätte er doch einfach einbrechen können, als keine Menschenseele anwesend war. Darüber hinaus breitete sich das Feuer so rasch aus, dass nicht viel Zeit blieb, etwas zu stehlen. Das passt alles nicht so recht zusammen.«
»Das wird es aber, wenn wir die Wahrheit kennen«, räumte Catherine ein.
»Es ist allerdings sehr schwer, die Wahrheit herauszufinden, wenn man nur Fragen, aber keine Antworten hat. Soweit ich weiß, ist Daisy verschwunden.«
»Das ist richtig. Wahrscheinlich ist sie sofort geflüchtet. Sonst hätte die Polizei eine Spur von ihr entdeckt. Sie muss auf der Flucht ein gutes Versteck gefunden haben. Vielleicht ist sie auch tot, falls diese grässliche Geschichte Teil einer heimtückischen Verschwörung ist.«
»Ashburton lässt Sie grüßen«, sagte Lord Michael. »Er würde Sie ja besuchen, hält es aber für unangebracht, da er schließlich Ihr Richter ist.«
Gavin nickte verständnisvoll. Er hoffte, dass Lord Michael ihm eine Frage beantworten würde, auf die er von Sir Geoffrey und Kyle keine Antwort erwarten konnte. »Wie steht es um die öffentliche Meinung?«, fragte er. »Falls die Öffentlichkeit mich für schuldig hält, lassen sich die Peers vielleicht beeinflussen?«
»Die Schmutzpresse ist über Sie hergezogen. Und das scheint laut Ashburton auch ein Mitglied der Peers getan zu haben.«
»Lord Wylver? Mir wurde gesagt, er hätte die Polizei höchstpersönlich davon überzeugt, dass es ein gemeiner Mord war, den ich begangen habe«, bemerkte Gavin trocken. »Er behauptet, mit Edmund Warren verwandt zu sein, aber meine Tante, Lady
Jane Howard, bezweifelt das. Sie kennt immerhin die Stammbücher aller Adeligen Englands. Wylver hält mich wahrscheinlich für einen Emporkömmling aus den Kolonien, der die geheiligten Hallen von Westminster beschmutzen könnte.«
Vielleicht arbeitete Wylver auch für jemand anderen. Allerdings gab es dafür keinerlei Beweise. Obwohl Sir Geoffrey und Kyle auch dem geringsten Hinweis nachgegangen waren, hatten sie bis jetzt nichts finden können. Viel Zeit blieb jedoch nicht mehr.
»Sollen wir Katie noch vorbeibringen, bevor wir mit ihr nach Wales fahren?«, fragte Catherine, während sie aufstand.
Er zögerte. »Entscheiden Sie selbst. Ich würde sie sehr gerne sehen, falls ein Besuch sie nicht zu sehr aufregt.«
»Es ist viel schlimmer für sie, Sie nicht zu sehen. Sie ist ...« Catherines Stimme wurde brüchig. »Sie ist ihrer Mutter sehr ähnlich. Genau wie sie zieht sie es vor, zu handeln und die Wahrheit herauszufinden, auch wenn es gefährlich werden könnte.«
»Dann möchte ich sie bitte sehen.« Vor allem, weil es das letzte Mal sein könnte.
»Also dann, bis morgen.« Catherine umarmte ihn fest, als sie Abschied nahmen. »Haben Sie Vertrauen in die Gerechtigkeit, Gavin.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr.« Er begleitete sie zur Tür. »Es bedeutet mir sehr viel, dass Sie mich für unschuldig halten.«
Lord Michael wartete, bis Catherine die Zelle verlassen hatte. »Wenn dem nicht so wäre, wären Sie tot.« Dann drehte er sich um und ging.
Es war Besuchertag. Die Schreckensnachricht von dem Mord und der anschließenden Inhaftierung Gavins hatte jetzt auch diejenigen erreicht, die London für gewöhnlich im Sommer verließen. Einige von ihnen machten Gavin das Leben schwer. Als ob er es nicht schon schwer genug hatte. Scheinbar wurde so gut wie jedem, der sich halbwegs zu benehmen wusste, Zutritt zum Tower gewährt. Erst seit kurzem konnte man gegen eine entsprechende Gebühr nicht nur die Kronjuwelen besichtigen, sondern sogar eine Krone aufsetzen.
Am Nachmittag erschien Philip Elliott, der sich nicht allzu wohl in seiner Haut zu fühlen schien. Gavin beendete gerade sein Mittagessen, als er ihn sah. Er machte sich nicht die Mühe aufzustehen und bemerkte trocken: »Kommen Sie, um mir vorzuhalten, dass ich den edlen Namen der Seabournes beschmutzt habe, oder hoffen Sie, das Seabourne-Erbe wieder antreten zu können?«
Der jüngere Mann errötete. »Ich dachte, als Ihr Erbe hätte ich das Recht, Sie zu besuchen.«
Zumindest war Philip wohl erzogen. »Falls Sie wissen möchten, ob ich meine Frau umgebracht habe, heißt die Antwort nein. Ich glaube aber nicht, dass das House of Lords mir das abnimmt. Falls ich hingerichtet werde, können Sie Seabourne schuldenfrei übernehmen. Mein Vermögen allerdings werden Sie nicht bekommen. Also achten Sie besser auf Ihr Geld.«
Philip schien sich noch ein wenig unwohler zu fühlen. »Eigentlich lebe ich nicht auf besonders großem Fuß. Nachdem ich mich jahrelang sehr zurückhalten musste, habe ich nach meiner Erbschaft einiges Geld verschwendet. Falls ich ... falls ich den Titel des Grafen zurückerhalten sollte, werde ich vernünftiger sein.«
»Es freut mich, das zu hören. Und die Leute, die auf das Gut Seabourne angewiesen sind, freut das sicherlich auch.« Es kam ihm ein Gedanke: »Falls Sie im Seabourne House neue Bedienstete brauchten — die Diener von Berkeley Square sind ehrlich und zuverlässig.«
Alex hatte sie angestellt.
»Ich werde daran denken.«
Da sie nichts Weiteres zu besprechen hatten und sich auch nicht besonders nahe standen, herrschte eine unangenehme Stille zwischen ihnen. Gavin beschloss, sie zu brechen: »Es war richtig, dass Sie gekommen sind. Ich habe mich sehr gefreut, auch wenn ich nicht sonderlich gastfreundlich war.«
»Das kann ich Ihnen nicht übel nehmen. Sie sind in einer wenig beneidenswerten Lage. Ich wäre der Letzte, der einen Vorteil aus dem Tod eines unschuldigen Mannes ziehen möchte, das müssen Sie mir glauben.« Philip legte seine Hand auf den Türgriff und hielt kurz inne: »Das mit Lady Seabournes Tod tut mir sehr Leid. Sie war eine wunderbare Frau.«
Sein Mitgefühl löste in Gavin einen Schmerz aus, der ihn mehrmals am Tag überkam. Er bedankte sich und wandte sich ab. Irgendwie hatte er manchmal das Gefühl, dass sie noch lebte. Besonders nachts, wenn er nicht schlafen konnte, fühlte er sie förmlich neben sich liegen, als brauchte er nur die Hand nach ihr auszustrecken.
Vielleicht konnten die Seelen der Ermordeten tatsächlich keine Ruhe finden? Vielleicht hatte sie ihr plötzlicher Tod so überrascht, dass sie noch in seiner Nähe bleiben wollte? Er hoffte Letzteres. Er könnte es nicht ertragen, wenn ihr gequälter Geist nach Rache verlangen würde.
Trauer und Verzweiflung hatten ihn so erschöpft, dass er sich am späten Nachmittag in keiner guten Verfassung befand. Genau zu diesem Zeitpunkt stürmte Major Colwell in seiner abgetragenen Militäruniform herein. Gavin sah ihn auf sich zukommen, als er gerade die Papiere durchsah, die Suryo gestern gebracht hatte. Da Suryo offensichtlich Ausländer war, hatte man ihn erst mit Kyle hereingelassen. Ein aufgebrachter Major, dessen Leidenschaft zu Alex unerwidert geblieben war, erhielt jedoch ohne weiteres Zutritt. Seine Ankunft verbesserte Gavins Laune nicht sonderlich.
Colwell stand an der Tür und blickte ihn finster an: »Sie verdammter Mörder. Ich werde Beifall klatschen, wenn man Sie hängt.«
»Es scheint Ihnen nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass ich unschuldig sein könnte.«
»Es gab genug Beweise, um Sie einzusperren. Ich bete, dass das House of Lords sich nicht dadurch beeinflussen lässt, dass Sie ein Earl sind.« Colwells Blick war hasserfüllt. »Sie wurden ein Peer, und deswegen waren Sie auf Alexandras familiäre Beziehungen nicht mehr angewiesen. Jetzt wollen Sie sicher eine jüngere Frau, ohne Kinder, mit einem großen Vermögen. Dafür haben Sie die süßeste und hübscheste Frau auf Erden umgebracht!«
Falls er auch nur einen Funken Verständnis für Colwells Schmerz gehabt hatte, war dieser jetzt erloschen. Mit gebremstem Zorn stand er vom Tisch auf und ging direkt auf seinen Besucher zu: »Sie eingebildeter Narr! Sie haben sich seit Jahren nach einem Phantom gesehnt, ohne Alexandras wahres Ich zu kennen. Wussten Sie, wie stark sie war? Wie mutig? Wie leidenschaftlich? Wie dickköpfig? Wie uneigennützig?«
Er stand einen knappen Meter vor dem anderen Mann, die Fäuste geballt. Am liebsten hätte er Verstand in Colwells Dickschädel hineingeprügelt. Mit etwas ruhigerer Stimme sagte er: »Sie war meine Frau, Katies Mutter, die Tochter von Lord und Lady Kenyon. Ihr Tod ist eine Tragödie. Das hat alles nichts mit Ihnen oder Ihren seltsamen Vorstellungen zu tun. Verschwinden Sie jetzt.«
Colwell wurde weiß: »Mögen Sie in der Hölle schmoren.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging. Gavin ging zähneknirschend durch die Zelle und blickte aus dem Fenster. Wahrscheinlich war Colwell mit der Hälfte aller Peers verwandt und würde ihnen jetzt einbläuen, dass Gavin ein Mörder sei und dafür bestraft werden musste.
Was war das nur für ein abscheuliches Land. Hier sollte über ihn gerichtet werden. Von einer Gruppe wohlhabender, eingebildeter Männer, deren einziger Verdienst darin bestand, einen Titel geerbt zu haben. Sie mussten nicht einmal Scharfsinn, Ehrlichkeit, gesunden Menschenverstand oder gute Urteilskraft besitzen. Wenn es Gavin gelingen sollte, dem Galgen zu entkommen — und er nahm an, dass seine Chancen fünfzig zu fünfzig standen -, würde er England für immer verlassen.
Ohne Alex oder Katie gab es nichts, was ihn hier hielt.
Der Wachposten rief: »Halt, wer da?«
»Die Schlüssel!«, antwortete Leibgardist Warder.
»Wessen Schlüssel?«
»Die Schlüssel von Königin Elisabeth.«
»Gott schütze Königin Elisabeth!«
»Amen!«, hörte man die vier bewaffneten Wachen zugleich sagen.
Gavin blickte in die Dunkelheit, während er dem Zeremoniell, das jeden Abend um Punkt zehn begann, zuhörte. Die jungfräuliche Königin war 1603 gestorben. Zwei Jahrhunderte später trug man ihre verfluchten Schlüssel immer noch umher. Sehr britisch.
Er verbrachte viel Zeit an den Fenstern des Gefängnisses. Obwohl die Zelle groß, die Wärter freundlich und die Aussicht schön war, blieb er doch ein Gefangener. Manchmal kam er sich vor wie ein Vogel, der immer wieder verzweifelt gegen das Gitter flog und versuchte auszubrechen. Das ließ ihn in seinem tiefsten Inneren erfahren, was Alex bei der Sklavenarbeit ausgehalten hatte. Freiheit war so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen, bis man ihrer beraubt wurde.
Er war froh, dass seine Gerichtsverhandlung bald beginnen würde. Auf welchem Weg auch immer, es würde nicht mehr lange dauern, und er würde diesen Ort verlassen. Für eine kurze Zeitspanne hatte er alles gehabt, was ein Mann sich nur wünschen konnte. Dann war es vorbei, bevor es begonnen hatte.
Ruhe in Frieden, Idkandra, wo auch immer dein Geist sein mag.