Kapitel 22

 

»Der Earl's Blend findet reißenden Absatz. Diese Teemischung wird uns noch steinreich machen.« Wrexham belegte seine Behauptung mit der Bilanz der letzten sechs Monate. »Oder besser gesagt, noch reicher, als wir es bereits sind.«

Gavin pfiff, als er die Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben sah. »Das Beste, das du für Elliott House getan hast, war die Erfindung dieser Mischung, Maxwell.« Er ertappte sich bei seinem Irrtum und schüttelte ärgerlich den Kopf. »Entschuldige, aber irgendwann passiert mir das nicht mehr. Bei Wrexham habe ich immer deinen Vater im Sinn.«

»Du könntest Kyle zu mir sagen ... da ist alles beim Alten geblieben.«

»Danke. Damit mache ich nichts falsch.« Da er wusste, wie förmlich die Engländer mit der Benutzung von Vornamen umgingen, fühlte sich Gavin geehrt. Er legte die geschäftlichen Unterlagen beiseite und fragte: »Ist Barton Pierce in London?«

»Ja. Und sorgt in der Stadt für Aufsehen. Hat von seinen Reisen eine schöne blonde Witwe mitgebracht, sich mit Geld einen Adelstitel erschlichen, und jetzt sind Sir Barton und Lady Pierce mit großzügigen Einladungen in aller Munde. Er lässt sich für das Parlament aufstellen. Es heißt, er würde einen Lord bestechen, um einen Sitz zu bekommen. Nach der nächsten Wahl dürfte er also Mitglied des Parlaments sein.«

»Pierce, ein Parlamentsabgeordneter? Ein Wolf im Schafspelz!«

Kyle schenkte ihnen Port nach. »Nach meinen Informationen hat Pierces Vermögen schwer gelitten, nachdem die Ostindien-Gesellschaft in China ihr Handelsmonopol verlor. Er ist zwar nicht bankrott, bewegt sich aber auf dünnem Eis.«

»Interessant.« Gavin trank von seinem Port. »Dann wird die Gerechtigkeit zum Zuge kommen.«

»Aber trotzdem rate ich dir nicht, dir dein Pfund Fleisch zu holen ... Pierce hat sich verabscheuungswürdig verhalten und verdient, dass seine Sünden ihn einholen.« Kyle zog die Stirn kraus. »Aber sei vorsichtig. Dieser Mann ist ein Teufel.«

»Ich habe nichts Drastisches vor. Seinem maroden Königreich werde ich höchstens einen kleinen Stoß versetzen, so dass es von allein zusammenfällt.« Um dieses lästige Thema zu beenden, erhob sich Gavin. »Wollen wir sehen, was unsere Frauen ausgeheckt haben?«

»Lieber nicht.« Kyle trank den Port aus. »Es ist komisch und irgendwie richtig, dass du Alexandra Melbourne am anderen Ende der Welt gefunden hast. Sie war anders als die jungen heiratsfähigen Damen von damals. Lebhafter. Neugieriger. Interessierte sich für alles auf der Welt. Und natürlich wahnsinnig aufregend.«

Gavin grinste. »Das habe ich bemerkt.«

Vom Butler erfuhren sie, dass sich Troth und Alex im Wintergarten aufhielten. Als sie dem gewundenen Pfad durch das dschungelähnliche Blattwerk folgten, hörten sie Troth sagen: »Nein, nicht so. So. Nutzen Sie die Kraft Ihres Widersachers gegen ihn.«

»Ah, jetzt verstehe ich, was Sie meinen«, antwortete Alex atemlos. »So.«

Gavin und Kyle traten rechtzeitig ins Freie und sahen noch, wie Alex ihre Gastgeberin zu Boden warf. Troth rollte mühelos herum und sprang mit raschelnden Röcken auf die Beine. »Ausgezeichnet, Alex! Sie haben Talent.«

Gavin starrte auf die Frauen. »Großer Gott, hab ich doch so viel Port getrunken?«

»Der Port hat nichts damit zu tun.« Kyle war bemerkenswert ruhig, als er seine Frau mit ihrem Gast kämpfen sah. »Troth, meine Liebe, du richtest doch keinen Schaden an?«

Lachend wandten sich die beiden den Männern zu. Zersaust und außer Atem sahen sie wie übermütige Schulmädchen aus. »Ich bin schuld«, sagte Alex. »Als ich hörte, dass Troth eine asiatische Kampfsportart beherrscht, habe ich sie sofort um eine Unterrichtsstunde gebeten. Hoffentlich bleibt es dabei.«

»Mit Vergnügen.« Troth strich die zerknitterten Röcke glatt. »Ich finde es schön, eine Schülerin zu haben. Ich habe wing chug von meinem alten Kindermädchen gelernt, und es ist Brauch, dass ich das Gelernte wieder an eine Frau weitergebe.«

»Ich nehme doch an, dass du in Zukunft den Unterricht in dem Studio mit den Matten erteilst?« Kyle hob eine zerdrückte Blüte vom gefliesten Boden auf. »Es wäre für euch beide sicherer, ganz zu schweigen von den Pflanzen im Wintergarten.«

»Wir haben uns vergessen.« Troth lächelte unbefangen. »Das nächste Mal passen wir besser auf. Aber es hat Spaß gemacht.«

Auch wenn er wusste, dass wing chug ein Kampfsport war, der mehr der körperlichen Ertüchtigung galt und nicht wie pentjak silat den Tod des Gegners zum Ziel hatte, beunruhigte es Gavin, dass seine Frau einen Kampfsport erlernte. Aber Alex sah wohl und glücklich aus, als sie sich hastig Kleid und Haare glatt strich. So hatte die Natur sie geschaffen. Auch wenn sie Knochenbrüche in Kauf nehmen musste, um ihr seelisches Gleichgewicht wieder zu Finden, wollte er ihr nicht im Wege stehen.

 

Am nächsten Morgen verließen die Frauen, die bei den Ashburtons wohnten, gemeinsam das Haus für den geplanten Besuch beim Schneider. Anschließend sahen sie noch bei verschiedenen anderen Läden vorbei. Auch wenn die Beschaffung einer neuen Garderobe für Alex und Katie an erster Stelle des Tagesprogramms stand, nahm Gavin an, dass Catherine, die Herzogin und ihre Töchter nicht mit leeren Händen nach Hause kommen würden.

Als Gavin das Haus verlassen wollte, um sich um die Organisation seines neuen Büros zu kümmern, rief Ashburton ihn in sein Arbeitszimmer. »Da Sie nach einem Haus suchen, käme dies hier vielleicht für Sie in Frage.« Er schrieb eine Anschrift auf und reichte sie ihm mit einem Schlüssel. »Es ist ein Haus, das mir gehört, nicht weit von hier entfernt. Eine anständige Adresse und ein sehr schönes Anwesen. Die vorherigen Bewohner mussten London vor dem Ende der Saison verlassen. Es steht also leer. Falls es Sie interessiert, sehen Sie es sich an.«

»Vielen Dank, Sir.« Gavin steckte Schlüssel und Anschrift in die Tasche seines Jacketts. »Ich werde es mir am Nachmittag ansehen.« Auch ohne vorherige Besichtigung war er überzeugt, dass dieses Haus ein Juwel war, das man schwerlich ohne Beziehungen zu dieser Familie gefunden hätte. Er wusste nicht so recht, ob er dankbar oder überwältigt sein sollte. Etwas von beiden vielleicht, aber doch eher dankbar. Er würde froh sein, ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben, auch wenn es Alexandras Onkel gehörte.

Nachdem er Ashburton House verlassen hatte, führte ihn sein Weg vom eleganten West End zu dem arbeitsamen East End. Die Geschäftsräume, die Kyle in einem Lagerhaus an den Docks gemietet hatte, befanden sich in einem der oberen Stockwerke und boten einen herrlichen Ausblick über das Hafenbecken und einen schwankenden Wald von Schiffsmasten.

Als er die Räumlichkeiten begutachtet hatte, ging er an Bord der Helena. Benjamin Long bewältigte mit Erfolg die doppelte Aufgabe, die nach dem Piratenüberfall erforderlichen Reparaturen durchzuführen und die Fracht der Helena zu löschen. Suiyo hatte bereits Gavins persönliche Sachen gepackt, um sie an Land zu bringen. Er wollte an Bord des Schiffes bleiben, bis es ablegte und dann entweder in das Haus der Ashburtons oder irgendein anderes, das sich noch finden würde, umziehen.

Da er an Bord nicht gebraucht wurde, rief Gavin eine Droschke und ließ sich z-u dem Haus fahren, das ihm der alte Ashburton empfohlen hatte. Gänsehaut überlief ihn, als er sah, dass es am Berkeley Square lag — demselben Platz, an dem sich das Haus seines Großvaters befand. Ein Zufall oder ein Zeichen? Sollte er der Familie heute den Besuch abstatten, den er seit zwanzig Jahren geplant hatte? Es war wohl besser, nichts zu überstürzen.

Auf der langen Fahrt bei dichtem Verkehr quer durch London ließ er sich diese Frage immer wieder durch den Kopf gehen. Noch unentschlossen entließ er den Kutscher, als er am Berkeley Square angelangt war. Von hier aus wollte er zum Ashburton House zu Fuß zurückgehen.

Das Haus des Herzogs war geräumig und gepflegt und wäre genau das Richtige für sie, wenn es Alex gefiel. Als er aus einem Fenster blickte, entdeckte er das Haus seines Großvaters auf der gegenüberliegenden Seite. Wahrscheinlich hatte der alte Teufel täglich auf die Anlagen am Platz geschaut. Und wenn er die Statue eines Helden zu Pferde erblickte, hatte er da jemals an den seefahrenden Sohn gedacht, den er enterbt, und den Enkelsohn, den er nie gesehen hatte, an die Schwiegertochter, die er verschmäht hatte? Oder hatte er sie schon längst aus seinem Gedächtnis gestrichen, weil sie seiner Aufmerksamkeit nicht wert waren?

Der Entschluss war gefasst. Gavin schloss das Haus des Herzogs ab und ging über den Platz. Seabourne House war nicht zu übersehen. Die glatte Fassade roch nach Geld und Einfluss. Als er die Treppen hinaufging, sagte er sich, dass es töricht sei, unangemeldet zu kommen. Möglicherweise war sein Großvater nicht in London, und wenn, dann tyrannisierte er wahrscheinlich in einem Club irgendwelche Dienstboten. Er konnte auch bereits gestorben sein, obwohl er nach Gavins letzten Informationen im vergangenen Jahr kräftig und gesund war. Falls er aber doch zu Hause sein sollte, würde er einen unangemeldeten Fremden höchstwahrscheinlich nicht empfangen.

Kurz entschlossen pochte Gavin mit dem delphinförmigen Klopfer mehrere Male kräftig an die Tür. Nach einer knappen Minute wurde die Tür von einem steifen, mürrisch blickenden Butler geöffnet, der in Londoner Häusern obligatorisch zu sein schien. Der Mann begutachtete ihn und befand, dass Gavin fein genug aussah, um eingelassen zu werden. »Guten Tag, Sir. Darf ich um Ihre Karte bitten?«

Gavin blickte sich im Vestibül um. Es war kleiner als die Diele im Ashburton House, aber eindrucksvoll genug. Er reichte dem Butler seine Visitenkarte und sagte: »Ich möchte zu Lord Seabourne.«

Der Butler schaute auf den Namen, dann wieder auf Gavins Gesicht und bat ihn in einen Salon. »Ich werde mich erkundigen, ob Seine Lordschaft empfängt.«

Das Warten schien unendlich. Gavin ging auf und ab. Er war zu nervös, um sich hinzusetzen. Auch wenn er diesen Besuch jahrelang vorgehabt hatte, wusste er weder, was er erwartete, noch was er wollte. Es ging ihm einzig und allein darum, symbolisch das Banner zu Ehren seines Vaters zu schwingen. Die Elliotts würden ihn mit Sicherheit nicht an den Busen drücken. Aber darauf hatte er es auch nicht abgesehen.

»Sie sind Gavin Elliott?«

Gavin wandte sich der kalten Stimme zu und war enttäuscht, sich einem Mann gegenüber zu sehen, der jünger als er war und aussah, als hätte er einen heißen Schürhaken verschluckt. »Der bin ich«, antwortete er mit möglichst starkem amerikanischen Akzent. »Vermutlich möchte Seabourne mich nicht sehen.«

»Im Gegenteil.« Der junge Mann strahlte die Arroganz seiner Klasse aus, aber sein kalter Blick war neugierig und gespannt. »Ich bin Philip Elliott, der siebente Earl of Seabourne. Mein Großvater verstarb vergangenen Winter.«

Die Enttäuschung war niederschmetternd. Gavin war zu spät gekommen. »Mein herzliches Beileid.« Er blickte sein Gegenüber erstaunt an. Die Familienähnlichkeit war unverkennbar. Größe, Hautfarbe, sogar die Gesichts form war so ähnlich, dass man die beiden Männer für Brüder halten konnte. »Ich nehme an, Sie sind mein Cousin.«

Seabournes Gesicht wurde finster. »Welchen Trick versuchen Sie hier abzuziehen? Wenn Sie irgend so ein unehelicher Elliott sind, dann bin ich nicht an Ihrer Bekanntschaft interessiert.«

»Ich bin ebenso wenig ein Bastard wie Sie.« Gavin schluckte seinen Arger hinunter. »Meine Eltern wurden rechtsgültig in der Kirche von Schottland von meinem anderen Großvater getraut, auch wenn der alte Teufel, der letzten Winter das Zeitliche segnete, weder meine Mutter noch ihre Ehe anerkannt hatte. Da ich die Absicht habe, mich in London niederzulassen, wollte ich Sie aufsuchen, aber wie ich sehe, habe ich meine Zeit verschwendet.«

Seabourne erbleichte. »Wer war Ihr Vater?«

»James Elliott, der Anna Fräser in Aberdeen geehelicht hat.« Gavins Stimme wurde trocken. »Der ehrenwerte James Elliott, Kapitän der Königlichen Marine, Held von Trafalgar, Sündenbock für die Katastrophe, nachdem sich seine Familie von ihm losgesagt und ihn enterbt hatte, und erfolgreicher amerikanischer Geschäftsmann. Keine Sorge, meine Begeisterung, mit Ihnen verwandt zu sein, hält sich ebenfalls in Grenzen. Ich hatte gehofft, den sechsten Earl anzutreffen, um ihm zu sagen, was für ein verdammter Narr er war, aber die Gelegenheit habe ich nun verpasst.«

Er setzte den Hut auf, als Seabourne fragte: »Haben Sie einen Beweis für Ihre Identität?«

»Selbstverständlich. Geburtsurkunde, Trauschein meiner Eltern, die üblichen Dokumente.« Gavin erstaunte die Reaktion des Jüngeren. »Obwohl mein Gesicht wohl Beweis genug sein dürfte. Wieso fragen Sie danach? Ich möchte nichts von Ihnen.«

Es hörte sich an, als ob in den Worten des Jüngeren Bitterkeit mitschwang, als er antwortete: »Wenn Sie derjenige sind, der Sie zu sein behaupten, dann sind Sie der rechtmäßige Earl of Seabourne.«