Achtundsechzig

Sanchez hatte die Tapioca Bar für die Nacht geschlossen. Er ließ den mehr als beschissenen Tag Revue passieren. Zugegeben, er hatte einen weiteren Besuch des Bourbon Kid überlebt, doch Jessica hatte ihn erneut verlassen, diesmal vielleicht für immer. Als er so auf der Gästeseite des Tresens auf einem Hocker saß und durch die Seiten des Buchs des Todes blätterte, konnte er nicht umhin, sich ein wenig niedergeschlagen zu fühlen.

Zweifellos würden die einheimischen Jungen in den nächsten Tagen wieder einmal mit ihren Spielzeugpistolen durch die Straßen rennen und so tun, als wären sie der Bourbon Kid oder einer der einheimischen Cops. Der Gedanke, dass Kinder bekannte Massenmörder und korrupte Bullen anhimmelten, stieß ihm richtig sauer auf. Wann würde er je dazu kommen, selbst ein Held zu sein? Wahrscheinlich niemals – und trotzdem wäre die heruntergekommene Gemeinde von Santa Mondega nichts ohne ihn und seinen einigermaßen sicheren Hafen für Leute, die ein paar Drinks nehmen und sich unterhalten wollten. Seine harte Arbeit tagaus, tagein wurde einfach als selbstverständlich hingenommen. Vielleicht sollte er selbst losziehen und Amok laufen, um wenigstens auf diese Weise ein gewisses Maß an trauriger Berühmtheit zu erlangen?

Er nippte an einem Glas warmen Bieres, während er sich mit dem Gedanken zu trösten versuchte, dass seine Zeit schon noch kommen würde. Eines Tages würde jemand wie Jessica die Menschenliebe erkennen, die tief in seinem Herzen lag.[1] Sanchez versteckte seine positiven Eigenschaften gut, und insbesondere Frauen schienen überhaupt nicht zu ahnen, was für ein großartiger Bursche er doch war. Er stellte sich noch einmal Jessicas wunderschönes Gesicht vor und überlegte, dass es wohl das Beste war, wenn er sein Bier austrank und schlafen ging.

Das Buch des Todes hatte ihm zu seiner weiteren Enttäuschung keine der Antworten geliefert, nach denen er suchte. Es stand nichts über Jessica oder das Auge des Mondes darin oder den Bourbon Kid. Nichts außer einer Liste von Namen toter Leute. Er blätterte es ein letztes Mal durch, bis er zu einer leeren Seite ziemlich weit hinten gelangte. Er starrte gedankenversunken auf das vergilbte Papier, während er sinnierte, wie sein Leben von hier aus weitergehen sollte. Keine Jessica, um die er sich kümmern konnte, weniger Kundschaft zu bedienen. War das alles wirklich die Mühen wert?

Während er sich so in seinem Selbstmitleid suhlte, summte sein Handy. Es summte nur zweimal, bevor er es aus seiner Jogginghose gezogen und die Antworttaste gedrückt hatte.

»Yo. Sanchez hier.«

»Hey, Sanchez, ich bin’s, Rick, vom Olé Au Lait.«

»Hey, Mann. Ein wenig spät für ein Schwätzchen, meinst du nicht?«

»Gute Neuigkeiten, Sanchez. Diese Jessica, nach der du mich vor ein paar Tagen gefragt hast? Ich hab die Info, die du suchst.«

Sanchez war schlagartig hellwach. Er richtete sich auf seinem Hocker auf. »Ah? Hast du rausgefunden, wer die Vermisstenanzeige aufgegeben hat?«

»Das nicht, Kumpel, aber sie war vorhin hier im Laden mit so einem breiten Kerl. Sie sahen aus wie ein Paar. Ich hab seinen Namen, falls es dich interessiert?«

»Warte, ich hol mir einen Stift.«

Sanchez stellte sein Bier auf den Tresen neben das Buch des Todes, das immer noch auf der leeren Seite aufgeschlagen war, und legte sein Handy daneben. Auf der Rückseite der Bar lag ein schwarzer Kugelschreiber auf einem der Regale voller Gläser. Er streckte sich danach und bekam ihn mit zwei Fingern zu fassen. Dann setzte er sich auf seinen Hocker und kritzelte auf eine der leeren Seiten des Buch des Todes, um zu sehen, ob der Stift auch schrieb. Er stellte erleichtert fest, dass er funktionierte. Dann nahm er das Handy wieder hoch. »Okay«, sagte er. »Schieß los.«

»Der Typ nennt sich Rameses Gaius. Ein verdammt großer, kräftiger Typ ist das, ehrlich.«

»Rameses Gaius?« Sanchez dachte angestrengt nach. Es war kein Name, den er kannte, doch eine schnelle Recherche im Internet würde vielleicht den einen oder anderen Treffer zutage fördern. Doch zuerst die wichtigen Dinge. Indem er das Handy unter sein Kinn klemmte, benutzte er den Kugelschreiber, um den Namen auf der leeren Seite des vor ihm liegenden Buches zu notieren – damit er ihn nicht wieder vergaß. »Danke, Rick. Sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Ja. Diese Frau, diese Jessica? Ihr Nachname lautet Xavier, wie es scheint.«

In all der Zeit hatte Sanchez nie herausgefunden, wie Jessica mit Nachnamen hieß. Auch diesen Namen schrieb er – mit einer Internet-Recherche im Sinn – unter den von Rameses Gaius ins Buch des Todes.

Rameses Gaius

Jessica Xavier

»Noch mal danke, Rick. Ich schätze, ich bin dir die Flasche Whiskey schuldig, wie?«

»Worauf du wetten kannst, Sanchez«, antwortete Rick scharf.

»Was darf’s denn sein?«

»Jack Daniels. Ich komme gleich morgen vorbei und hol sie ab.«

»Okay. Warte, ich schreib’s mir auf, damit ich es nicht vergesse«, sagte Sanchez. Er schrieb ein J auf die Seite unter die Namen von Rameses Gaius und Jessica Xavier. Dann kam ihm eine Idee. Jack Daniels war ein ziemlich teures Zeug. Vielleicht konnte er mit Rick einen Kompromiss aushandeln?

»Rick? Bist du sicher, dass du nicht lieber eine Flasche Jim Beam möchtest?«

 

ENDE
(vielleicht …)

 

[1]

Sehr, sehr tief in seinem Herzen

Das Buch ohne Staben - Anonymus: Buch ohne Staben - The Eye of the Moon
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