Vierundzwanzig
Nach einer weiteren Nacht im Nightjar unter den Untoten saß Peto allein in seiner Wohnung. Er hatte immer noch keine Informationen über den Bourbon Kid aufgeschnappt, doch eigenartigerweise hatte er diesen jungen Burschen gesehen, diesen Dante Vittori, den er im Jahr zuvor kennen gelernt hatte. Während Petos damaligem Besuch in Santa Mondega hatte Dante ihm angeboten, ihm und seinem Mönchskollegen Kyle bei der Suche nach dem Auge des Mondes zu helfen. Rein technisch gesehen hatte er ihnen tatsächlich geholfen, bis er sich im allerletzten Moment gegen Peto gestellt und mit einer Waffe auf seinen Kopf gezielt hatte, just als der Mönch den Bourbon Kid hatte erschießen wollen. Hätte Peto den Bourbon Kid damals getötet, er hätte – ohne es zu wissen – das Leben all seiner Brüder auf Hubal gerettet, die kurze Zeit später auf brutale Weise ermordet worden waren.
Und trotzdem hatte Peto das Gefühl, dass Dante im Grunde genommen ein guter Mensch war. Cromwell hatte das Gleiche gesagt, und seine Meinung schien in dieser Gegend einiges zu gelten. Peto erinnerte sich, wie Dante ihn nach der Sonnenfinsternis des vergangenen Jahres mit dem Auge des Mondes aus der Tapioca Bar fortgeschickt hatte mit dem Versprechen, sich um den Bourbon Kid zu kümmern. Nach allem, was der Mönch seither herausgefunden hatte, hatte Dante überhaupt nichts gegen den Bourbon Kid unternommen. Stattdessen hatte er ihm dabei geholfen, Hunderte von Kugeln in den am Boden liegenden Leichnam des jungen Mädchens im Catwoman-Kostüm zu pumpen.
Sein Gefühl, was Dante anging, hatte sich bestätigt, als er in dem Buch, das Bertram Cromwell ihm gegeben hatte, ein Bild von einer Frau mit einer verblüffenden Ähnlichkeit mit Jessica im Catwoman-Kostüm entdeckt hatte. Das Buch mit dem Titel Ägyptische Mythologie enthielt eine ganzseitige Reproduktion eines Gemäldes von ihr und verriet zugleich ihren richtigen Namen: Jessica Gaius.
Nachdem Peto endlich etwas in dem Buch gefunden hatte, das wert war, gelesen zu werden, bereitete er sich einen Becher Kaffee und machte es sich in seinem Einzelbett in der Ecke seiner kleinen, spärlich möblierten, unbeheizten Wohnung gemütlich. Nackt bis auf das um seinen Hals baumelnde Auge des Mondes lag er gegen das Kopfende gelehnt unter dem dünnen Baumwolllaken. Er zog das kostbare Amulett niemals aus – ein nächtlicher Eindringling, der ihn im Schlaf zu töten versuchte, war zum Scheitern verdammt, solange Peto den Stein trug. Die Heilkräfte des Auges des Mondes waren, gelinde gesagt, phänomenal. (Ein besonderer Nutzen des Steins bestand auch darin, dass sein Träger nach einer durchzechten Nacht frei von Kopfschmerzen und jeglichem Kater aufwachte.)
Das sanfte blaue Leuchten des Auges des Mondes ermöglichte Peto, bei ausgeschalteter Nachttischlampe zu lesen. Und so lag er mit seinem abkühlenden Kaffee und dem kostbaren Auge im Bett und las die Geschichte über Jessicas Herkunft. Es war eine äußerst interessante Geschichte. Und eine äußerst bestürzende obendrein.
Nach dem trockenen und stellenweise akademischen Text zu urteilen, war sie die Tochter von Rameses Gaius, dem ägyptischen Herrscher, dessen mumifizierte Überreste angeblich aus der ägyptischen Ausstellung des Santa Mondega Museum of Art and History geflohen – oder gestohlen worden – waren. Cromwell hatte erzählt, dass Rameses Gaius nicht nur das Auge des Mondes besessen, sondern auch das volle Ausmaß seiner Kräfte beherrscht hatte. Fasziniert las Peto weiter. Er erfuhr, dass Rameses Gaius im ersten Jahrhundert nach Christus der oberste Mönch eines ägyptischen Tempels gewesen war. Aus dieser Position gewaltiger Macht heraus hatte er alles kontrolliert, einschließlich der Berufung des Pharaos. Er war im Volk als »der Mond« bekannt, weil er immer nur des Nachts aus dem Tempel kam.
Als junger Mann hatte Rameses Gaius bei einem Kampf ein Auge verloren. Einige Jahre später hatte er in einer der Großen Pyramiden einen blauen Stein gefunden, von dem es hieß, er habe dereinst Noah gehört. Mit seinen Kräften war es dem Patriarchen des Alten Testaments Jahrhunderte zuvor möglich gewesen, die Gezeiten der Sintflut zu kontrollieren. Als Rameses Gaius erst die Kräfte des Steins erkannte, trug er ihn nicht mehr wie viele, viele andere vor ihm um den Hals, sondern in seiner leeren Augenhöhle, und so wurde der Name »Auge des Mondes« geboren.
Mit diesem Auge lernte Rameses Gaius, viele Dinge zu kontrollieren. Seine beeindruckendste Fähigkeit war es, unbelebte Objekte allein mit der Kraft seiner Gedanken zu manipulieren. Beispielsweise eine Beethoven-Puppe, dachte Peto bei sich. Als wäre das nicht genug, hatte er außerdem seine eigene, korrupte ägyptische Version des Buchs der Toten erschaffen: Was einst ein Buch gewesen war, in welchem die notwendigen Riten für eine sichere Passage in das nächste Leben beschrieben wurden, hatte sich unter seiner Hand in das Buch des Todes verwandelt, seine mächtigste Waffe. Wann immer er Verrat witterte von einem seiner Ratgeber, reichte es aus, wenn er den Namen der betreffenden Person zusammen mit einem Datum auf einer der Seiten dieses Buchs vermerkte. Das Leben der fraglichen Person endete unausweichlich genau zum niedergeschriebenen Zeitpunkt, auch wenn die Opfer auf die unterschiedlichste Weise starben. Manche wurden ermordet, andere fielen einfach tot um oder schliefen friedlich in ihrem Bett ein. Die bloße Existenz des Buchs des Todes stellte sicher, dass Gaius der unangefochtene wahre Herrscher von Ägypten war, gleichgültig, wer gerade als Pharao an der Macht war. (Abgesehen davon wurde der jeweilige Pharao ohnehin von Rameses Gaius selbst bestimmt.) Er vertraute das Buch einem loyalen Untertanen zur Verwahrung an, und dieser hielt es in einem Versteck unter Verschluss.
Der Sturz von Rameses Gaius spiegelte das Ende zahlreicher Tyrannen. Nach Professor Cromwells Buch wurde Rameses Gaius genau wie viele andere extrem mächtige Menschen paranoid und vertraute denjenigen in seiner unmittelbaren Umgebung nicht mehr. Er hatte sich mit seiner Tochter zerstritten, nachdem diese erkannt hatte, dass sie niemals über Ägypten herrschen würde, denn das Auge des Mondes bescherte ihm Unsterblichkeit. Und weil er niemals sterben würde, konnte es auch niemals einen Nachfolger für ihn geben, also würde sich Jessicas Wunsch, den Thron zu besteigen, niemals erfüllen. Wütend war sie aus dem Land geflohen und mehrere Jahre lang verschwunden.
Während ihrer Abwesenheit waren zwei von Rameses Gaius’ frühen Jüngern, Armand Xavier und Ishmael Taos, von einer Suche nach dem Heiligen Gral zurückgekehrt. Sie behaupteten, das Blut von Jesus Christus getrunken und deswegen eine Unsterblichkeit ähnlich der erlangt zu haben, an der sich Rameses Gaius durch das Auge erfreute. Das waren äußerst unwillkommene Neuigkeiten für den Herrscher von Ägypten, insbesondere als die beiden einen Teil seiner Macht für sich beanspruchten.
Um sich ihrer zu entledigen, wollte er ihre Namen in sein Buch schreiben, doch Xavier und Taos hatten damit gerechnet, und eines Nachts, bevor er sich schlafen legte, überfielen sie ihn in seinen privaten Gemächern. Während der eine ihn niederhielt, raubte ihm der andere das kostbare Auge aus seiner Augenhöhle. Anschließend wickelten die beiden ihn wie eine Mumie ein und begruben ihn unter seinem eigenen Tempel, mit einem billigen grünen Stein in der leeren Augenhöhle, der seine Demütigung vollends werden ließ.
Rameses Gaius verhungerte schließlich in dem Grab, in das die beiden ihn eingesperrt hatten. Der oberste ägyptische Mönch hatte immer gewusst, dass der Tag kommen würde, da jemand ihn austrickste, und er hatte für diesen Fall Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Indem er die gewaltigen Kräfte des Auges des Mondes beschwor, hatte er einen Fluch erschaffen, der später bei den wenigen, die die Geschichte über die Jahrhunderte erfuhren und weitergaben, als der »Fluch der Mumie« bekannt geworden war. Im Falle seiner Ermordung oder des Diebstahls seines kostbaren »Auges« sorgte ein mächtiger Spruch dafür, dass er in dem Moment wiedergeboren wurde, in dem seine Mörder selbst starben.
Peto nahm einen letzten Schluck von seinem Kaffee. Hmmm. Genau das ist jetzt passiert, sinnierte er. Armand Xavier und Ishmael Taos waren beide kurz nach der letzten Sonnenfinsternis vom Bourbon Kid getötet worden. Und jetzt war die Mumie in der ägyptischen Ausstellung des Museums zum Leben erwacht und entkommen. Das könnte übel werden, dachte der Mönch. Dieses Ding ist hinter dem Auge des Mondes her. Und das bedeutet, es ist hinter mir her.
Aus einer intensiven Studie von Hollywood-Filmen während seiner Zeit abseits der ruhigen Pazifikinsel Hubal hatte Peto gelernt, dass diese Mumie der Vater aller Untoten war. Niemand, den man in seinem Leben haben wollte, und erst recht nicht auf seinen Fersen.
Zuerst hatte Peto gegen die einschläfernde Wirkung der langatmigen und schwer verständlichen Konstruktionen der Ägyptischen Mythologie ankämpfen müssen, doch je weiter er las, desto mehr begann ihn die Geschichte des Auges des Mondes zu fesseln, und jetzt war er hellwach. Er las noch einige Minuten länger, bevor er sich zum Schlafen fertig machte. Das Buch enthielt sonst nichts mehr von Interesse, und er war enttäuscht darüber, dass nicht erwähnt wurde, was nach der Mumifizierung von Rameses Gaius aus Taos und Xavier geworden war.
Er schlief nicht gut nach dem vielen Lesen. Sein Verstand war aufgewühlt. Was war aus Jessica geworden? War sie inzwischen tot? Und falls ja, würde sie sich wieder mit ihrem Vater Rameses Gaius vertragen, nachdem dieser zurückgekehrt war? Eine Sache war sicher, sie würden alle beide hinter dem Auge des Mondes her sein.
Noch etwas war sicher. Sobald er seine Mission abgeschlossen und den Bourbon Kid gefunden und mit Hilfe des Auges des Mondes von allem Bösen erlöst hatte, würde er zusehen, dass er so schnell wie möglich aus dieser Stadt verschwand.