Fünfundvierzig
Hunter drehte sich um. Kaum dass er die Nummer des »Großen Bruders« gewählt hatte, klingelte direkt vor ihm ein Handy. Er hielt immer noch Caspers Handy ans Ohr. Vor ihm stand ein Mitglied der Shades und hielt ein klingelndes Handy in der Hand. Es war der naive Trottel, der immer das tat, was man ihm sagte, Obedience.
Hunter zog die Pistole aus dem Schulterhalfter und zielte damit auf Obediences Kopf. Obedience für seinen Teil hob einen Finger und bedeutete Hunter, einen Moment zu warten, während er das Gespräch annahm.
»Hallo, wer ist da?«, fragte er, indem er sich das Handy ans Ohr hielt.
»Ich, du Arschloch«, antwortete Hunter und beendete den Anruf.
Obedience starrte verwirrt auf sein Handy und legte ebenfalls auf. Die ganze Bar sah zu, und alle fragten sich, was das zu bedeuten hatte.
»Das, meine Freunde, ist der Bourbon Kid«, verkündete Hunter der staunenden Menge, indem er mit dem Revolver auf Obedience zeigte.
Dante, der gleich neben Obedience stand, sprach im Namen aller. »Sind Sie verrückt geworden?«
»Nein. Ich meine es todernst. Dieses Handy hier hat die Nummer vom Bourbon Kid eingespeichert. Ich habe die Nummer soeben gewählt, und dieser scheinbare Trottel ist rangegangen. Er ist der Bourbon Kid. Er hat sich die ganze Zeit über mitten unter uns versteckt, während er Pläne geschmiedet hat, wie er uns alle umbringen kann.«
Fritz trat vor, um seinen Freund zu verteidigen, wenn es sein musste, mit körperlichem Einsatz. Ein Vampir sollte stets bereit sein, für ein anderes Mitglied seines Clans einzustehen, und Fritz war der loyalste Freund, den sich ein Vampir nur wünschen konnte.
»BLÖDSSSINN!«, brüllte er Hunter ins Gesicht und duschte ihn mit unwesentlichen Mengen Speichel.
»Hör mal, ich bin nicht der Bourbon Kid«, sagte Obedience mit beeindruckender Gelassenheit. »Und das ist nicht mein Handy. Ich halte es nur für jemanden fest.«
Hunter spannte den Hahn seiner Pistole und zielte damit auf das unglückselige Tattoo über Obediences Augen.
»Versuch nicht, mich zu belügen.«
»Ich lüge nicht.«
»DASSS SSSTIMMT!«, brüllte Fritz. »SSSEINE MAMA HAT IHM GESSSAGT, DASSS ER NICHT LÜGEN DARF, UND WEIL ER IMMER TUT, WASSS MAN IHM SSSAGT, ISSST ESSS DEFINITIV DIE WAHRHEIT.«
»Und wessen verdammtes Handy ist es dann?«, wollte Hunter wissen, indem er die Waffe hob und dichter vor Obediences Gesicht hielt.
»Das darf ich nicht verraten. Der Besitzer hat mir Geheimhaltung auferlegt.«
»Du hast drei Sekunden, um es auszuplaudern, oder ich schieße dir eine Kugel mitten durch deine dämliche Fresse!«
»Hey, wissen Sie was?«, warf Dante ein. »Sie erinnern mich an diesen Kerl aus der Sesamstraße …«
»Halt’s Maul, Trottel«, knurrte Hunter und wedelte mit der Waffe in Dantes Richtung. Dante hob hastig die Hände und wich einen Schritt zurück. Er rief sich in Erinnerung, dass Kacy es nicht gerne sehen würde, wenn er seine Lieblings-Beleidigung aus der Sesamstraße schon wieder zum Besten gab, und dass außerdem nicht sein Leben in Gefahr war, sondern das von Obedience. Es war wirklich nicht nötig, dass er sich tiefer als nötig in die Angelegenheit einmischte, erst recht nicht angesichts der Tatsache, dass Obedience ihm die Freundschaft aufgekündigt und wahrscheinlich vorgehabt hatte, ihn zu töten, bevor Hunter gekommen war. Außerdem würden Fritz und Silence sich für ihren Freund starkmachen, kein Zweifel.
»WARTE!«, brüllte Fritz wie auf ein Stichwort hin. »WENN DU OBEDIENCE ETWASSS TUSSST, DANN VERSSSICHERE ICH DIR, DASSS DIE SHADESSS DICH JAGEN WERD’N, BISSS SSSIE AN DIR RACHE GENOMM’N HAB’N!«
»Siehst du das hier?«, fragte Hunter und zeigte auf seine Füße. Der linke Schuh tappte leicht auf dem Boden. »Das bin ich, wie ich in meinen Stiefeln erzittere vor Angst. Jagt mich meinetwegen, solange ihr wollt. Es ist mir egal. Ich könnte euch beide zusammen mit hinter dem Rücken gefesselten Händen erledigen, wenn ich wollte. Ah, das bringt mich auf eine Idee …«
Er zog ein Paar Handschellen aus der Jacke und warf sie Silence zu, der sie lässig mit der linken Hand auffing.
»Hey, Quasselstrippe. Fessle deinen Freund damit.«
Silence bedachte Hunter mit einem finsteren Blick, bevor er tat wie geheißen und Obediences Hände vor dem Körper fesselte anstatt hinter dem Rücken, um es seinem Freund wenigstens ein klein wenig leichter zu machen. Als er fertig war, entspannte Hunter den Hahn seiner Pistole, dann packte er Obedience, wirbelte ihn herum und schob ihn zum Ausgang des Nightjar.
Loyalität war eine extrem wichtige Eigenschaft unter Vampiren, zumindest was Fritz anging. Als er sah, dass Hunter nicht länger seine Pistole in der Hand hielt, sah er seine Chance gekommen. Der Deutsche sprang vor und holte zum Schlag gegen den Detective aus. Seine rechte Faust zuckte mit blendender Geschwindigkeit durch die Luft. Sie zielte geradewegs auf Hunters Kiefer, doch der Filthy-Pig-Vampir war dieser Tage aus härterem Holz geschnitzt. Er sah den Schlag kommen, noch bevor Fritz richtig ausgeholt hatte, und wich ihm mit spielerischer Leichtigkeit aus. Seine Vergeltung war schnell und schmerzhaft. Für einen winzigen Moment ließ er Obedience los und schlug Fritz mit solcher Wucht in den Magen, dass der Deutsche von den Füßen gerissen wurde und gut zehn Meter durch die Luft segelte. Die Menge sprang vor ihm auseinander, so dass Fritz ungebremst fliegen konnte. Er war so schnell, dass er über die halbe Straße hätte segeln können, wäre nicht die Wand auf der anderen Seite der Bar im Weg gewesen. Genau in diese Wand krachte er mit voller Wucht, prallte zurück und landete auf einem Tisch mit drei Mitgliedern des Punk-Ladys-Clans daran. Der Tisch zerbrach in zwei Teile. Fritz fiel hindurch und landete auf dem Boden darunter. Die Drinks der Punk Ladys ergossen sich über ihn.
Silence wartete nicht auf eine Einladung. Er sprang vor und umklammerte Hunter mit beiden Armen von hinten. Die Muskeln an seinen Armen wölbten sich, als er mit all seiner Kraft zudrückte, doch Hunter blieb völlig unbeeindruckt. Er besaß dieser Tage weit überlegene Kräfte und schüttelte Silence ohne Mühe ab. Dann drehte er sich um, fauchte ihn an, packte ihn an der Kehle und schleuderte ihn in die gleiche Richtung wie zuvor den Deutschen. Silence segelte auf dem gleichen Weg durch die Luft wie vor ihm Fritz, prallte an der gleichen Stelle gegen die Wand und landete zu Füßen der Punk Ladys, wo sein Freund sich gerade wieder aufrappelte.
Dante wurde nun entschieden nervös, denn ohne Vanity oder Déjà-Vu in der Nähe würde jeder darauf warten, dass er den nächsten Angriff startete. Zu seinem Glück jedoch tauchte Chip hinter ihm auf, gekleidet in seine übliche schwarze Karate-Montur, und fiel Dante in den zum Schlag erhobenen Arm. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit. Sei nicht dumm«, sagte er.
Diesmal erkannte Dante die Stimme. Er drehte sich um und blinzelte angestrengt durch die Dreadlocks und den Schleier hindurch, der so viel von Chips Gesicht verbarg. Er mochte diesen Jungen, und er vertraute ihm – halbwegs zumindest –, und so hatte er sich das Recht erworben, Dante zu sagen, was er tun sollte. Zumindest dieses eine Mal.
Also senkte Dante die halb geballte Faust und trat zurück. Obwohl er darauf verzichtete, seinen Clan zu verteidigen und zu unterstützen, war es nun höchst unwahrscheinlich, dass ihm jemand daraus einen Vorwurf machen würde. Hunter hatte sich als richtig harter Brocken erwiesen. Jeder einzelne Vampir im Nightjar war bestürzt angesichts der Vorstellung, dass ein derart unangenehmer, herrschsüchtiger und mieser Kerl plötzlich so viel Macht besaß. Es schien, als hätten die Dinge in Santa Mondega eine hässliche Wendung genommen, und nicht nur für diese Nacht. Hunter und das, wofür er stand, konnten ein langfristiges Problem werden.
Alle beobachteten schweigend, wie Hunter Obedience in Richtung Tür schubste und ihm folgte, während er jeden aggressiv musterte, der auch nur annähernd danach aussah, als könnte er Einwände erheben. Als sie die Tür des Nightjar erreicht hatten, schob Jericho hastig die Riegel zur Seite und ließ sie nach draußen. Dann schloss er die Tür wieder und verriegelte sie hinter ihnen. Die Menge in der Bar stieß einen kollektiven Seufzer aus.
Es dauerte nicht lange, bis die Unterhaltungen wieder in Gang kamen. Alle diskutierten über die Ereignisse, deren Zeugen sie soeben geworden waren. Sie spekulierten, ob Obedience nun der Bourbon Kid war oder nicht und wie besorgniserregend es war, dass so ein widerliches Arschloch wie Hunter plötzlich so unglaublich stark geworden war, dass er ohne erkennbare Mühe zwei ziemlich harte Typen wie Fritz und Silence zehn Meter weit durch das Lokal schleudern konnte.
In der allgemeinen Erleichterung, dass es vorbei war, verlor Dante seinen Retter Chip bald aus den Augen. Er suchte in der Menge nach ihm, während er sich sehr unbehaglich der Tatsache bewusst war, dass das blutkühlende Serum an diesem Abend, aus welchen Gründen auch immer, nicht wirkte. Er musste sich von Fritz und Silence fernhalten, und nicht nur von ihnen, sondern auch von allen anderen Vampiren im Lokal. Er musste von hier verschwinden. Und zwar schnell.
Nicht mehr als zwei Minuten waren vergangen, bevor im Lokal erneut verstörte Stille eintrat. Draußen vor der Tür war ein mächtiger Tumult ausgebrochen. Schreie und Lärmen, und es klang ganz danach, als wäre erneut eine Schlägerei im Gang. Ein paar Gäste stürzten zu den getönten Fenstern und spähten nach draußen. Dort war zweifellos etwas Großes im Gange, doch niemand konnte genau erkennen, was es war. Es war zu dunkel auf der Straße und zu hell im Laden, um etwas zu sehen. Doch es war offensichtlich, dass sich das, was auch immer sich dort entwickelte, rasch entwickelte.
Und dann ertönte ein Schlag, der das Gebäude erzittern ließ. Jemand oder etwas hatte die mächtige, verriegelte Tür von außen gerammt. Die Gäste am Fenster wichen erschrocken zurück. Selbst die Gäste, die nicht am Fenster standen, wichen erschrocken zurück.
Rums! Ein weiterer Schlag ließ die Tür erbeben. Putz bröckelte vom Rahmen. Alle wichen noch ein paar Zentimeter weiter vom Eingang zurück. So weit es irgendwie ging, um genau zu sein.
Die massive Eichentür drohte aus den Angeln zu brechen. Da war es schon besser, nicht im Weg zu stehen. Oder auch nur in der Nähe.
Die Psychics, die der Verlockung nie widerstehen konnten, ein Stück zu spielen, wenn etwas im Gange war, versuchten die Stimmung mit ihrem nächsten Stück zu heben. Sie spielten einen alten Klassiker der Animals, We Gotta Get Out of This Place.
Rums! Die Tür knarrte protestierend, als sich die massiven Metallangeln unter der Wucht der wiederholten Schläge verbogen.
Irgendetwas rannte mit der Wucht eines von einem Dutzend Männer geführten Rammbocks gegen die Tür an. Was auch immer dort draußen war, es wollte herein.
Inzwischen hatten sich die Gäste ausnahmslos an der Rückwand versammelt, so weit weg von der Tür wie nur irgend möglich. Diese Tür würde sich jeden Moment aus ihrer Verankerung lösen und in die Bar fliegen.
Rums! Der Moment war gekommen.
Die Tür riss aus den Angeln und flog aufrecht durch das Lokal. An der Außenseite klebte Hunter. Irgendetwas hatte ihn dermaßen hart getroffen, dass er rückwärts gegen die Tür geflogen war und nun mitsamt ihr durch den Laden segelte. Der Flug endete abrupt, als das untere Ende gegen den Tresen krachte. Die Tür kippte und flog über die Bar, und Hunter wurde in die Regale mit den Flaschen und Gläsern an der Wand dahinter katapultiert. Langsam rutschte er zu Boden, und Gläser und Spirituosen und Bretter brachen über ihm mit einem Geräusch zusammen wie von einem Zug, der einen Glaserwagen erfasste. Die am nächsten stehende Person war Dino, der das Glück – oder den Verstand – besessen hatte, sich am anderen Ende der Bar zu ducken.
Für einen Moment standen sämtliche Gäste mit offenen Mündern da und starrten fassungslos und schockiert auf das Geschehen, während der benommene Hunter hinter der Theke schwankend auf die Beine kam, bedeckt von Glas und Alkohol und verschiedenen anderen Bruchstückchen. Er wirkte plötzlich überhaupt nicht mehr so verdammt hart und gefährlich. Dann dämmerte es den Gästen, und sie wandten sich unisono, wie eine Zuschauermenge bei einem Tennismatch, um und starrten zu dem großen Loch, wo noch Sekunden vorher die massive eichene Eingangstür des Nightjar gewesen war.
Dort erschien nun eine Gestalt.
Eine ungehaltene, missmutige Gestalt, die äußerst verstimmt dreinblickte und bereit, den Kampf bis zum Ende fortzusetzen.
Dantes Mund stand genauso offen wie der von jedem anderen. Vielleicht noch mehr. Er hatte gesehen, wie dieser Typ vor einem Jahr während einer Sonnenfinsternis eine ganze Bar voller Leute ausgelöscht hatte. Und es sah ganz danach aus, als würde sich diese Geschichte jetzt wiederholen. Dante hatte dieses allzu vertraute Gefühl …
Déjà-Vu.
Der Vampir aus dem Clan der Shades im Eingang des Nightjar trug keine ärmellose Lederjacke, sondern einen langen dunklen Umhang mit einer Kapuze über den Schultern. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass jedermann zu ihm sah, zog er sich die Kapuze über den Kopf, quasi als Bestätigung, wer er wirklich war. Für den Fall, dass noch irgendjemand den leisesten Zweifel gehabt hatte.
Doch es gab keinen Zweifel. Déjà-Vu war der Bourbon Kid. Dante hatte sein Gesicht nicht gesehen während der Sonnenfinsternis vor einem Jahr, doch jetzt, mit der Kapuze über dem Kopf, erkannte er ihn nur zu deutlich. Der Bourbon Kid war zurück, und er war bereit zum Kampf.
Hunter für seinen Teil rechnete sich immer noch Chancen aus. Mehr noch, er konnte es sich nicht leisten, vor all den Vampiren das Gesicht zu verlieren, die er in Zukunft zu beherrschen gedachte. Er klopfte sich die Glassplitter und sonstigen Scherben von der Kleidung und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf, während er jeden anfauchte, der es wagte, ihm in die Augen zu sehen. Dann sprang er vor. In einer einzigen fließenden Bewegung schoss er über den Tresen und auf den Bourbon Kid zu, der in die Mitte des Lokals getreten war.
»Du verdammtes Schwein! Du bist ein toter Mann!«, brüllte Hunter und stürzte sich mit selbst für einen Vampir unvergleichlicher Kraft und Geschwindigkeit auf seinen Gegner. Doch sein Hieb ging daneben. Der Bourbon Kid duckte sich und konterte mit einem gleichermaßen schnellen und kraftvollen Schlag, doch mit sehr viel größerer Präzision. Hunter mochte so schnell und stark sein wie der Bourbon Kid, doch was Geschick und Können als Kämpfer anging, war er nichts weiter als ein Amateur, der gegen einen Profi im Ring stand.
Die Faust des Kid landete mit einem knirschenden Krachen in den Rippen Hunters, der wie ein Messer zusammenklappte. Doch seine Widerstandskraft und die Geschwindigkeit, mit der er sich erholte, waren beeindruckend. Er richtete sich auf und holte zu einem weiteren Schwinger in Richtung des Kid aus. Erneut vorbei. Und erneut zeigte der Kid ihm und den Zuschauern, wie man einen Angriff konterte. Diesmal zielte er höher, wenn auch mit gleicher Geschwindigkeit und Akkuratesse.
Krack! Nase gebrochen.
Hunter ignorierte den Schmerz und schlug erneut zu.
Verfehlte seinen Gegner erneut.
Krack! Ein weiterer Schlag gegen die Rippen. Hunter hatte jetzt wenigstens drei gebrochene Rippen, die tief in seinen Magen und die Lungen drückten, ihm die Sauerstoffzufuhr abschnürten und ernste innere Blutungen verursachten.
Er holte ein weiteres Mal aus, doch viel von seiner Kraft und seiner Schnelligkeit waren verflogen. Ein weiteres Mal duckte sich der Kid zur Seite, bevor er einen drohenden Schritt näher an seinen Gegner herantrat. Wie seine Absicht auch sein mochte, es war jedem Anwesenden klar, dass der Kampf hier und jetzt zu Ende gewesen wäre, hätte es einen Schiedsrichter gegeben. Unglücklicherweise jedoch für Hunter gab es keinen Mann in schwarz-weißen Streifen, der einen Abbruch hätte verhängen können, und keinen Sekundanten, das Handtuch zu werfen.
Der verhüllte Killer packte seinen verwundeten Gegner an der Kehle und drückte zu. Hart. Dann hob er Hunter mit einer Hand von den Beinen und trug den inzwischen verängstigten Detective vom Clan der Filthy Pigs am ausgestreckten Arm zu der halb demolierten Theke. Er sprang auf den Tresen und riss den geschlagenen Cop mit sich. Dann hob er ihn am Hals hoch und höher, zu den riesigen Blättern des Metallventilators an der Decke. Hunter verdrehte die Augen angstvoll nach oben, als ihm klar wurde, wohin sein Skalp ging. Doch er hatte sein Pulver verschossen. Es gab nichts mehr, was er hätte tun können, um den Bourbon Kid aufzuhalten.
Der Kid fand sicheren Halt auf dem Tresen und hob Hunters Schädel in den Weg der sich rasch drehenden Ventilatorblätter. Die gesamte Bar sah zu wie die Gaffer bei einem Autounfall. Alle wollten entsetzt den Blick abwenden, doch ihre morbide Neugier gewann die Oberhand.
Vielleicht zehn Sekunden lang hob der Bourbon Kid Hunters Kopf immer höher in den Weg der rasiermesserscharfen Propellerblätter, die zischend durch die Luft wirbelten. Ohne jede Emotion verfolgte er die Konsequenzen.
Zuerst wurden die dünnen blonden Locken des Filthy Pig abgeschnitten und in der Bar verteilt wie Rauchwölkchen. Als die Haare weg waren, folgte der Skalp, zuerst abgerissen von einem Ventilatorblatt und dann vom nächsten sauber durchtrennt. Dann kam die Schädeldecke und dann das Gehirn. Hunters Kopf wurde mit hoher Geschwindigkeit in dünne blutige Scheiben geschnitten, Blut, Hirnmasse, Knochen und Augenstücke spritzten durch das Lokal.
Als der Kopf bis fast zum Hals abgeschnitten war, ließ der Kid los, und Hunter, der sich irgendwie in einem Blatt verfangen hatte, wirbelte mit dem Propeller herum. Dann, nach einer vollen Dreihundertsechzig-Grad-Drehung, löste er sich vom Ventilator und krachte auf die Bar hinunter, wo sein Schwung ihn über die polierte, vom Blut glitschig nasse Oberfläche trug, wobei er die restlichen Flaschen und Gläser herunterriss.
Zu spät begriffen die Gäste des Nightjar, dass der Blutrausch des Bourbon Kid gerade erst angefangen hatte. Diesmal würde er alle Untoten erledigen, endgültig. Ohne Ausnahme und ohne Erbarmen. Er zog zwei Skorpions von irgendwo aus den Tiefen seines Umhangs und sprang auf Hunters Torso, während der Leichnam langsam über den Tresen schlitterte. Indem er mit den Skorpions auf die Gaffer zielte, benutzte er den Torso wie ein Surfbrett, während er anfing zu feuern. Jeder Schuss ein Treffer. Vampire rannten in heilloser Flucht zu dem aufgebrochenen Ausgang.
Keiner schaffte es bis nach draußen. Jeder Schuss wurde abgefeuert im Gedanken an Casper. Der verhüllte Killer feuerte seine automatischen Waffen mit gnadenloser Perfektion, getrieben von unbändigem Hass auf alle Untoten. Sein Verlangen, jeden einzelnen von ihnen zu töten, war in sein Gesicht unter der Kapuze gemeißelt. Jeder einzelne von ihnen würde leiden für das, was sie und ihresgleichen getan hatten.
Als der Kid das Ende des Tresens erreichte, trat er von Hunters übel zugerichtetem Kadaver hinunter und ließ ihn herunterrutschen und auf einen leeren Tisch in der Ecke krachen, wo er mehrere herrenlose Biergläser gegen die Wand schmetterte. Dann ging er über den Tresen zurück, während er mit kalter Präzision seine Ziele ausschaltete. Mit einer automatischen Waffe in jeder Hand feuerte er auf jeden, der es wagte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Bis er auf halber Höhe der Theke war, hatte er beide Skorpions leergeschossen. Er ließ sie fallen und zog keine Sekunde später zwei kleinere Pistolen aus verborgenen Halftern unter seinem Umhang. Während er aus diesen Waffen weiterfeuerte, sprang er mitten im Raum von der Theke und schoss einer Reihe flüchtender Gäste in den Rücken, von denen die meisten Vampire waren. Natürlich bestand immer die Möglichkeit, dass der eine oder andere von ihnen ein unschuldiger Zivilist war, doch darüber zerbrach sich der Schütze nicht großartig den Kopf.
Als er damals mit seinem letzten Amoklauf fertig gewesen war, war das Lokal übersät gewesen von Leichen, die langsam zu Asche zerfielen, und nur hie und da die Leiche eines unglücklichen Zivilisten, der kein Vampir, sondern nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war.[1] Alles, was blieb – abgesehen vom Bourbon Kid selbst –, waren die schockierten, halb tauben Gestalten von Dante, Dino dem Wirt und Chip vom Clan der Dreads.
Dante suchte sich von oben bis unten nach Löchern ab und war erleichtert, als er feststellte, dass irgendwie sämtliche Kugeln vorbeigegangen waren. Chip auf der anderen Seite war zweimal mitten in der Brust getroffen und blutete ein wenig, doch eigenartigerweise schien es ihm nichts auszumachen. Seine weiten schwarzen Karatehosen waren ebenfalls blutbesudelt, doch nicht alles davon war sein eigenes.
Der Bourbon Kid hatte unterdessen die Kapuze wieder zurückgeschlagen. Er steckte seine Pistolen in die verborgenen Halfter zurück und bückte sich dann nach den leer geschossenen Skorpions, die ebenfalls unter seinem Umhang verschwanden. Dann stieg er über ein paar zerbrochene Gläser und schwelende Leichen hinweg und näherte sich Chip. Er blieb einen halben Meter vor ihm stehen, und für ein paar Sekunden starrten sich die beiden in die Augen. Der weiße Rastafari in seiner Karate-Montur schien keinen Hauch von Angst vor dem berüchtigten Killer zu haben. Schließlich, gerade als der Bourbon Kid anfangen wollte zu reden, riss Chip eine Pistole hervor, die er hinten in seiner Hose versteckt getragen hatte. In einer einzigen, blitzschnellen Bewegung zielte er auf den Kopf des Kid und feuerte. Die Kugel sauste am linken Ohr des Killers vorbei.
Reuben, der Anführer der Clowns, hatte sich mit einer Machete in der Faust heimtückisch von hinten an den Bourbon Kid anzuschleichen versucht. Während der letzten Minuten hatte er reglos am Boden gelegen und sich tot gestellt in der Hoffnung, lange genug am Leben zu bleiben, bis dem Bourbon Kid die Munition ausgegangen war. Es war ihm gelungen, doch dann hatte er den Fehler begangen anzunehmen, die größte Gefahr wäre vorüber. Als er den Kid von hinten anspringen wollte, hatte Chip ihm eine einzelne Kugel ins Gesicht geschossen. Mitten zwischen die Augen. Im nächsten Moment war der Clown wieder am Boden, nur dass er sich diesmal nicht mehr nur tot stellte.
Der Bourbon Kid drehte sich gar nicht erst um, um zu sehen, auf wen Chip gefeuert hatte. Stattdessen zückte er ein Päckchen Zigaretten, hielt es an den Mund und nahm mit den Zähnen eine heraus.
»Willst du dich nicht wenigstens bei mir bedanken?«, fragte Chip mit einem Nicken in Richtung des schwelenden toten Clowns mit der grünen Perücke auf dem Boden hinter dem Kid.
»Ich hatte ihn kommen sehen.«
»Blödsinn!«, schnappte Chip. »Eine Sekunde später, und er hätte dich in zwei Stücke gehauen!«
»Hast du nicht seine Stiefel gesehen?«
Chip sah nach unten und bemerkte die braunen Stiefel an Reubens Füßen – jeder einzelne davon fast einen Meter lang. Sie ragten schräg in die Luft und bildeten ein stumpfes V. Um mit der Machete in Reichweite zu gelangen, hatte der Clown die Füße so stellen müssen, dass die Schuhspitzen einige Zentimeter über die Spitzen der schwarzen Stiefel des Kid hinausragten.
»Oh«, sagte Chip dümmlich. »Ich verstehe.«
Der Kid musterte ihn von oben bis unten. »Jetzt weiß ich, wer du bist«, sagte er und nickte zu sich selbst. »Du bist dieser Mönch.«
»Ich heiße Peto«, stellte sich der dreadlockige ehemalige Mönch von Hubal vor.
»Wenn ich hier fertig bin, musst du mir diesen blauen Stein borgen, den du um den Hals trägst.«
Peto nickte. »Ich weiß.«
Er beobachtete, wie der Kid seine Zigarette durch festes Ziehen entzündete, doch bevor er und der Mönch sich über das Rauchen unterhalten konnten, musste er ein paar Dinge in Erfahrung bringen. Beispielsweise, warum er unschuldige Leute umbrachte? Und ob er Bedauern spürte wegen dem, was er tat. Vielleicht zeigte sich der Kid als Gegenleistung dafür, dass er Peto ein paar Geheimnisse verriet, beispielsweise wie man eine Zigarette ohne Feuerzeug anzündete, vernünftigen Worten zugänglich und ließ sich von dem Mönch über Dinge wie Moral und Ethik aufklären. Peto hoffte inständig, dass er die Seele dieses Mannes retten konnte. Schließlich war er, auch wenn er ein Massenmörder war, der Sohn von Ishmael Taos, also musste auch etwas Gutes in ihm stecken, oder? Peto wusste, dass Taos gewollt hätte, dass sein Sohn Recht und Unrecht unterscheiden konnte, dass er Mitleid empfand und Reue und nach Buße strebte, wenn er gesündigt hatte. Peto schuldete seinem einstigen Lehrer wenigstens den Versuch, dessen Sohn diese Dinge zu lehren. Das kostbare Auge des Mondes würde sich als unschätzbare Ressource für diese Bemühungen erweisen. Seine heilenden Kräfte konnten den Bourbon Kid von all seinen bösen, hässlichen Gedanken befreien. Doch zuerst wollte Peto wissen, wie böse diese Gedanken tatsächlich waren und ob sich unter dieser unheimlichen dunklen Kutte eine Spur von Bedauern verbarg.
»Eines sage ich dir, Mister«, begann der Mönch mit erhobenem Zeigefinger, während er versuchte, eine Art Augenkontakt mit dem Kid herzustellen. »Du hättest Ishmael Taos nicht töten dürfen.«
»Ah?«
Peto war augenblicklich verärgert über das augenscheinliche Fehlen jeglichen Bedauerns darüber, dass der Bourbon Kid den großartigsten Mönch ermordet hatte, der jemals gelebt hatte. Er hatte in der Vergangenheit genug über den Kid herausgefunden, um zu akzeptieren, dass er seine Gründe hatte und dass es gut war, sich mit ihm zu verbünden wegen seines Hasses auf die Untoten, doch er konnte einfach nicht akzeptieren, dass dieser Bursche keine Spur von Gewissen zu haben schien.
»Du hättest ihn nicht einfach töten sollen. Das ist alles, was ich dir zu sagen versuche.«
»Okay. Sonst noch etwas?«
»Nein.«
»Gut. Dann lass uns ein paar Drinks nehmen.« Der Kid ging zur Theke, wo Dino in diesem Moment den Kopf aus seinem Versteck hinter dem Tresen gehoben hatte und sich Glassplitter aus dem schwarzen Haarschopf schüttelte. »Hey! Mach mir ’nen dreifachen Bourbon, okay?«
»Selbstverständlich«, seufzte der zitternde Besitzer des Nightjar, indem er zu dem Scherbenhaufen an der Wand humpelte, um nach einer heilen Flasche und nicht zerbrochenen Gläsern zu suchen. Seine Bar war ruiniert, und so gut wie alle seine Stammgäste waren tot. Aber er hatte irgendwie überlebt. Er überlegte, dass das etwas Positives sein musste.
Der Bourbon Kid drehte sich zu Peto und Dante um. »Wollt ihr auch etwas?«
»Ich nehme ein Bier, bitte, Dino«, rief Dante dem Wirt zu.
»Ich auch«, schloss sich Peto an. »Und bitte, ich hätte gerne einen Schuss Bourbon in meinem Bier.«
Dante hatte in betäubtem Staunen die atemberaubende Serie lebensbedrohlicher Ereignisse verfolgt, die alles überstiegen, was er je zuvor erlebt hatte, und das wollte wirklich etwas heißen. Mit einem Blick auf das Massaker ringsum atmete er tief durch. Er würde wohl eine Weile benötigen, um die Ereignisse der letzten Minuten zu verdauen. Er hatte eine Menge Fragen, so viel war sicher. Beispielsweise hatte der Mann mit der Kapuze vor ihm soeben wenigstens hundert Leute umgebracht, und einige von ihnen waren Dantes Freunde gewesen. Quasi. Fritz und Silence und noch ein paar andere Untote hatten im Kugelhagel des Bourbon Kid ihr Leben ausgehaucht. Wer war dieser Bourbon Kid überhaupt, verdammt?
»Wie nennst du dich denn nun?«, fragte er den Killer. »Déjà-Vu, Bourbon Kid oder wie?«
»Ist mir scheißegal. Nenn mich meinetwegen, wie du willst.«
»Okay, Dave. Übrigens danke, dass du mich nicht auch erschossen hast.«
Der Kid blies eine Lunge voll Zigarettenrauch aus und hob einen Hocker vom Boden auf, um sich vor der Theke daraufzusetzen. »Ich meine mich erinnern zu können, dass ich dir was schuldig war, weil du mir während der Sonnenfinsternis letztes Jahr geholfen hast. Das warst doch du in dem Terminator-Kostüm, oder?«
»Ja, das war ich. Danke, Mann. Ich schätze, damit sind wir quitt, wie?«
»Nicht ganz. Ich hab vor zwei Nächten einem Clown in den Kopf geschossen, um deinen Arsch zu retten. Jetzt bist du mir was schuldig.« Er zögerte, dann sah er Dante und Peto abwechselnd an. Seine nächsten Worte überraschten beide. »Ich möchte, dass ihr beide mir bei etwas helft, das ich erledigen muss. Ein paar richtig üble Vampir-Bosse, die ich eliminieren muss. Seid ihr dabei oder was?«
Der Bourbon Kid war nicht gerade dafür bekannt, andere um Hilfe zu bitten, doch ein Mönch von Hubal mit dem Auge des Mondes und ein Typ, der ihm geholfen hatte, Jessica die Vampirkönigin zu erledigen, konnten sich als nützliche Verbündete erweisen. Und weil er selbst gegenwärtig ein Vampir war, konnte er nicht auf seinen alten Trick zurückgreifen und sich das Buch ohne Namen auf die Brust binden, um den Chefblutsauger zu erledigen, wer auch immer das gerade war.
»Ich bin dabei.« Dante zuckte die Schultern. Er war wie immer bereit für den Kampf. Abgesehen davon war er nicht sicher, was geschehen würde, sollte er auf die Idee kommen, die Bitte des Bourbon Kid abzuschlagen.
»Hat es etwas mit diesem Rameses Gaius zu tun?«, fragte Peto leise.
Der Kid runzelte die Stirn. »Was zum Teufel soll es mit dem zu tun haben? Er ist seit Jahrhunderten tot.«
»Er war jahrhundertelang tot«, pflichtete Peto ihm teilweise bei. »Doch er wurde mumifiziert, und nach allem, was ich gehört habe, ist er von den Toten auferstanden, als du Ishmael Taos und Armand Xavier getötet hast, was den Fluch von ihm nahm.«
»Ihr verdammten Rastafaris! Du solltest die Finger von diesem Gras lassen.«
»Kein Witz.«
»Es ist mir egal.«
»Sollte es aber nicht. Irgendwo in dieser Stadt läuft nämlich eine Mumie frei herum. Aber wenn dir Rameses Gaius egal ist, dann meinetwegen. Und ja, ich bin dabei, wenn du diese anderen Vampire erledigst, aber anschließend schlage ich vor, wir verschwinden aus der Stadt, bevor die Mumie auftaucht.«
»Danke«, sagte der Bourbon Kid mit seiner charakteristischen rauen Stimme. »Und jetzt lasst uns ein paar Drinks nehmen, zum Abschalten. Und Mönchsjunge – steck ein paar Münzen in die Jukebox, ja? Mir scheint, ich hab die Band ebenfalls erledigt.«
Die Kadaver der toten Bandmitglieder lagen schwelend auf der Bühne inmitten ihrer Instrumente und verwandelten sich langsam in Asche. Die Instrumente selbst waren durchsiebt von Einschusslöchern. Peto verspürte Bedauern darüber, dass es die Psychics nicht mehr gab – sie hatten so ein Talent besessen, immer und zu jeder Gelegenheit einen passenden Song zu spielen. Peto ging an ihnen vorbei zur Jukebox an der Wand links von der Bühne. Es war eine ziemlich alte, heruntergekommene Maschine, die schon seit einem halben Jahr nicht mehr benutzt worden war und das Feuer überraschenderweise ohne Beschädigung überstanden hatte. Damals waren die Psychics aufgetaucht und hatten versprochen, des Nachts ohne Gage zu spielen. Dino hatte den Apparat mitten in einem Song abgeschaltet, ohne die geringste Absicht, ihn jemals wieder einzuschalten.
Peto blieb vor dem Gerät stehen und drehte sich zu den anderen um. Dann versetzte er ihm einen Schlag mit dem Ellbogen, wie er es bei Fonz in der Fernsehserie Happy Days gesehen hatte. Der Apparat erwachte zum Leben, und bis Peto an die Theke zurückgekehrt war und auf einem Hocker neben Dante und dem Kid Platz genommen hatte, spielte Thin Lizzy bereits den Refrain von The Boys Are Back in Town.
Es ist eine Eigenart der Physiologie von Vampiren, dass ihre Leichen sich nicht immer auf die gleiche Weise zersetzen. Nach dem Gemetzel im Nightjar entflammten einige Überreste kurz und unter Rauchentwicklung, bevor sie zu Asche zerfielen. Andere verflüssigten sich unter grausigem Gestank, schmolzen dahin und sickerten durch die Dielenbretter, und wiederum andere blieben einfach liegen, wo sie gefallen waren, um auf den natürlichen Lauf der Verwesung zu warten.