Sieben
Sanchez bereute längst, dass er den mental beeinträchtigten Jungen mit sich zu Boden gerissen hatte. Der Junge umklammerte ihn wie ein geiler Köter, der sich am Bein irgendeines armen Bastards rieb. Er hatte beide Arme um den Hals des Barmannes geschlungen und starrte ihn anbetungsvoll an.
»Du hast mich gerettet!«, sagte Casper und grinste dümmlich.
»Ja. Ja, das ist richtig«, sagte Sanchez. Wenn der Junge glauben wollte, dass Sanchez ihn um seiner eigenen Sicherheit willen zu Boden gerissen hatte, warum sollte er ihm dann seine Illusionen nehmen, indem er die Wahrheit sagte? In Wirklichkeit hatte er den Knaben lediglich als Schild missbraucht, um sich vor herabjagenden Vampiren zu schützen. Wie es der Zufall wollte, hätte er sich die Mühe sparen können, weil die Vampire sich ausnahmslos auf Elvis konzentrierten und ihn angriffen, während sie gleichzeitig bemüht waren, seinen tödlichen Pfeilen zu entgehen. Zwei unterschiedliche Emotionen schlugen über Sanchez zusammen. Erstens ein Gefühl von Erleichterung, dass er bis jetzt überlebt hatte. Und zweitens, wenn er ehrlich sein wollte, akute Verlegenheit darüber, dass sich ein junger Bursche in aller Öffentlichkeit an ihn kuschelte.
»Du bist mein Held!«, strahlte Casper.
»Ja, ja, ja. Schon gut, okay? Mach verdammt noch mal, dass du von mir runterkommst, ja? Ich will nicht, dass uns irgendjemand so sieht, klar? Das ist einfach nur peinlich, verstehst du?«
Sanchez’ Verlegenheit schien Casper noch weiter zu beflügeln, und er drückte sich noch fester an ihn. Die beiden lagen praktisch in Löffelstellung zwischen zwei Reihen von Bänken, die Beine ineinander verschlungen, und sahen ganz und gar aus wie ein junges Liebespaar.
»Ich hab gesagt, du sollst aufhören mit dem Scheiß!«, giftete Sanchez und bog die Hände des Jungen gewaltsam auseinander. »Los, weg von mir, verdammt!«
Mit einer kraftvollen Bewegung schob er den Jungen weg und unter die Kirchenbank hinter sich. Kaum hatte er dies getan, stieß ein Vampir von oben auf Sanchez herab, packte ihn mit einer Hand am Hals und zerrte ihn auf die Beine.
»Scheiße!«
Der Blutsauger holte aus, das Maul weit aufgerissen, die Fänge bösartig spitz und bereit, sich in das zarte Fleisch von Sanchez’ Hals zu bohren. Der junge Barmann schloss angstvoll die Augen, als er sich wand und zuckte. Ein scharfes, knallendes Geräusch folgte, doch er spürte keinen Schmerz. Keine Zähne im Hals. Und dann lockerte sich zu seiner großen Erleichterung auch noch der Griff des Vampirs. Er öffnete die Augen und konnte kaum fassen, was er sah. Der Vampir hatte das Ende einer Bullenpeitsche um den Hals und wurde fauchend vor Wut mit großer Geschwindigkeit rückwärts zu dem Mann gezerrt, der den Peitschengriff schwang. Es war kein gewöhnlicher Mann, nein. Es war der Reverend, Herrgott noch mal! Sanchez mochte diesen neuen Prediger. Er hatte frischen Wind in die Stadt gebracht, seit er hergekommen war, doch niemand hätte es für möglich gehalten, dass er es, nur mit einer Bullenpeitsche bewaffnet, mit einem Vampir aufnehmen würde! Okay, Reverend, du hast mich überzeugt, dachte Sanchez. Von jetzt an pinkle ich nicht mehr in die Weihwassertröge bei den Eingängen.
Sowohl Sanchez als auch der immer noch unter der Kirchenbank kauernde Knabe verfolgten ehrfürchtig, wie der unrasierte heilige Mann den sich wehrenden Vampir ganz dicht zu sich heranzog, die Peitschenschnur immer noch fest um den Hals der Kreatur gewickelt. Als sie mit dem Gesicht nahe genug heran war, dass sie die Stoppeln am Kinn des Reverends hätte spüren können, geschah etwas noch viel Unwahrscheinlicheres. Der Reverend zog eine abgesägte Schrotflinte aus irgendeiner verborgenen Tasche in seinem dunklen Gewand und drückte den Lauf direkt unter das Kinn des Blutsaugers.
BOOOM!
Blut und Hirnmasse und Schädelsplitter spritzten durch die Luft. Dann explodierten die Überreste des Vampirs und sanken brennend zu Boden. Ungerührt blickte sich der Priester nach seinem nächsten Opfer um.
Im Verlauf der nächsten beiden Minuten verfolgten die betäubten Mitglieder der Glaubensversammlung, wie Elvis und der Reverend die restlichen Vampire erledigten. Elvis spielte die ganze Zeit weiter seinen Steamroller Blues auf der Gitarre, um gelegentlich mit dem Kopf des Instruments auf einen Vampir zu zielen und einen oder zwei Pfeile abzufeuern. Sanchez hatte vor Staunen vergessen, den Mund zu schließen.
Beeindruckend.
Schließlich war der einseitige Kampf zu Ende, und ehrfürchtige Stille senkte sich auf die geschockte Gemeinde herab. Der Friedhofsgestank war blauem Pulverdampf und dem Geruch nach verschmortem Fleisch gewichen. Der Reverend ging umher, um sich zu überzeugen, dass keines seiner Schäfchen gebissen oder sonst wie verletzt worden war. Als er bei Sanchez ankam – der Knabe Casper klammerte sich schon wieder an ihn –, sah er den jungen Barmann von oben bis unten an.
»Ich bin stolz auf dich, mein Sohn«, sagte er. »Das war wirklich sehr tapfer, was du da getan hast.«
»Hä?«
»Ich habe gesehen, wie du den Jungen mit zu Boden gerissen und unter die Bank geschoben hast, als die Vampire sich auf ihn stürzen wollten. Es braucht Mumm in den Knochen, so etwas zu tun. Du solltest stolz auf dich sein.«
Sanchez sah keine Notwendigkeit, der Meinung des heiligen Mannes zu widersprechen.
»Ach, das war doch gar nichts, Reverend. Jeder andere hätte das Gleiche getan.« Er zuckte die Schultern, auch in der Hoffnung, die Bewegung würde den klammernden Jungen abschütteln. Vergeblich. Der Reverend lächelte die beiden an.
»Nicht nötig, Reverend zu sagen. Meine Freunde nennen mich einfach Rex«, sagte der Reverend.
»Reverend Rex? Das ist aber ein außergewöhnlicher Name für einen Priester, oder nicht?«, bemerkte Sanchez.
»Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich bin eigentlich gar kein Priester. Genau genommen erledige ich nur böses Gesindel in Gottes Namen. Verstehst du?«
»Ah, ja. Richtig. Ich verstehe.«
»Was ist jetzt mit euch beiden? Wollt ihr ein Zimmer hinten oder was?«
Das war das Stichwort für Sanchez. Er unternahm einen neuen Versuch, den Jungen in dem Parka von sich abzuschütteln.
»Sanchez hat mich gerettet!« Casper strahlte Rex an.
»Jepp, hat er. Ich schätze, du bist ihm was schuldig.«
Casper grinste seinen neuen Helden Sanchez an. Das Grinsen war zwar ein wenig irre und erneut begleitet von einem zuckenden Blitz und krachendem Donner von draußen, doch es war auch halbwegs liebenswert. Zusammen mit dem Ausdruck von Hilflosigkeit und gewaltiger Dankbarkeit begann dieses Grinsen tatsächlich, Sanchez’ Herz zu erweichen. Der arme Kerl war eigentlich ganz niedlich … für einen Irren jedenfalls.
»Okay, das reicht jetzt, Kumpel«, schnappte Sanchez. »Solltest du nicht längst zu Hause sein und im Bett liegen?«
»Da hat er nicht ganz Unrecht«, sagte Rex, indem er sich aufrichtete und die immer noch völlig fassungslose Gemeinde von Kirchgängern ansah, von denen viele erst jetzt wieder zwischen den Bänken auftauchten. »Alles herhören!«, sagte er. »Ich schlage vor, ihr geht jetzt entweder ganz schnell nach Hause, oder ihr legt euch für die Nacht hier in der Kirche schlafen. Draußen zieht ein mächtiger Sturm auf, und es wird von Minute zu Minute schlimmer.«
Trotz des schlechten Wetters konnte sich niemand mit dem Gedanken anfreunden, nach den grauenvollen Ereignissen, deren Zeugen sie alle soeben geworden waren, in der Kirche zu übernachten. Aus diesem Grund machte sich der größte Teil der Versammlung auf den Weg nach draußen. Während sie einer nach dem anderen durch die Tür ins Freie traten und sich aufgeregt flüsternd über das unterhielten, was sie soeben gesehen hatten, sprang Elvis von der Bühne.
»Danke sehr!«, rief er der von dannen ziehenden Menge hinterher. »Ich danke euch wirklich sehr, euch allen!« Dann, nachdem er seine Gitarre beiseitegelegt hatte, kam er den Mittelgang hinunter zu der Stelle, wo Sanchez, Rex und der Junge Casper standen.
»Jo, Rex, ich schätze, ich bin fertig hier für heute Abend. Ist das okay, wenn du alleine aufräumst?«
»Scheiße, Mann!«, stöhnte Rex. »Willst du mich echt schon alleine lassen?«
»Ich muss noch ein paar Mistkerle erledigen heute Nacht, Kumpel«, protestierte Elvis.
Rex zuckte die Schultern und lächelte seinen tödlichen Partner an. »Klar, Mann. Du tust, was du tun musst und so.«
»Ich freu mich schon richtig drauf, weißt du«, sagte der King. »Da ist so eine Boygroup in der Stadt, die ich erledigen soll.«
Dieser Typ Elvis war echt cool, und Sanchez konnte nicht verbergen, wie beeindruckt er vom Selbstvertrauen und dem Getue des King war. »Wow!«, pfiff er leise. »Diese Boygroup – sind das auch Vampire?«
Elvis zog eine seiner berühmten Sonnenbrillen aus der Brusttasche und setzte sie auf.
»Nein, nur eine ganz gewöhnliche Boygroup«, sagte er mit ausdrucksloser Miene, die Augen hinter dunklen Gläsern verborgen.
»Ah, richtig. Ja. Natürlich«, stammelte Sanchez der Barmann.
Elvis nickte ihm zu, dann setzte er sich in Richtung Tür in Bewegung. Genau in diesem Moment kam ein junger Mann und kämpfte sich durch die Menge der heimwärts strebenden Kirchenbesucher. Er war als Vogelscheuche verkleidet – eine ziemlich nasse und schmuddelige Vogelscheuche –, und er sah sich in der Kirche um, als suchte er voller Panik nach jemandem.
»Casper!«, rief er laut.
Es war unverkennbar, dass er jemand war, der dem Jungen Casper eine Menge bedeutete. Denn der Knabe, der so verliebt an Sanchez gehangen hatte, schien seinen Retter mit einem Mal zu vergessen. Er rannte den Mittelgang hinunter zu der Vogelscheuche und überholte Elvis dabei. Sanchez beobachtete, wie der Knabe die Vogelscheuche ansprang. Der junge Mann fing den Knaben auf und wäre von der Wucht des Aufpralls beinahe hintenübergefallen.
»Was zur Hölle ist denn hier passiert, Casper?«, fragte er. »Die Leute sind ja völlig verrückt draußen! Sie erzählen, eine Bande von Vampiren wäre in die Kirche gekommen. Stimmt das? Ist alles in Ordnung? Bist du unverletzt?«
»Ja, alles okay, Bruder. Ich bin nicht verletzt.«
Casper klammerte sich an seinen älteren Bruder. Erst jetzt, da er wusste, dass er in Sicherheit war, begann er zu schluchzen angesichts der ungeheuerlichen Gefahr, der er gerade noch einmal entkommen war.
»Schon gut, Casper, schon gut. Alles in Ordnung, kleiner Bruder. Ich bin ja da. Möchtest du nach Hause?« Der Junge antwortete nicht, sondern drückte seinen Bruder nur noch fester. »Komm, ich bringe dich nach Hause. Wir beeilen uns besser, draußen hat es ziemlich heftig angefangen zu regnen, und ich hab keinen Mantel dabei.«
»Du kannst meinen haben«, sagte Casper lächelnd und machte Anstalten, seinen Parka auszuziehen, um ihn seinem Bruder anzubieten.
»Sei nicht albern, Casper«, sagte JD freundlich und fuhr ihm durch die Haare. »Du brauchst deinen Parka mehr als ich. Mom würde mich wahrscheinlich umbringen, wenn ich mit deinem Parka zu Hause auftauche und du von oben bis unten durchnässt bist.«
Elvis hatte die beiden auf seinem Weg den Mittelgang hinunter erreicht. Er blieb stehen und musterte die Vogelscheuche von oben bis unten.
»Hey, weißt du eigentlich, dass du den beiden Jungs dahinten dankbar sein solltest? Sie haben deinen Bruder vor den Vampiren gerettet.«
»Ja«, sagte Casper. »Sanchez hat mich gerettet.«
»Sanchez, wie?«, sagte JD und musterte den Barmann, der inzwischen in eine Unterhaltung mit dem Reverend vertieft war. »Ich schätze, wir schulden ihm was.«
»Da schätzt du richtig«, sagte Elvis. »Du solltest seinem Laden irgendwann einen Besuch abstatten, weißt du? Die Tapioca Bar. Er kann neue Kundschaft gebrauchen. Aber vergiss nicht, eine Waffe mitzunehmen. Ist ein rauer Laden, manchmal.«
»Was … wie? Ah, ja, okay, Mann.« JD war völlig verwirrt.
Casper ließ seinen Bruder gehen und zeigte auf den Reverend. »Du musst den neuen Pfarrer kennen lernen, ehrlich. Er ist ein total cooler Typ«, sagte er aufgeregt und zupfte seinen älteren Bruder am Arm.
»Ja, sicher, vielleicht ein andermal, Bubba. Wir müssen los.«
Obwohl der Regen draußen keinerlei Anstalten machte nachzulassen, war JD alles andere als glücklich darüber, dass sein Bruder in einer Kirche herumhing, deren Wände und Böden stellenweise mit Blut vollgespritzt waren. Je schneller er seinen kleinen Bruder aus der Kirche heraushatte, desto besser. Schon jetzt drohte eine ganze Serie schlafloser Nächte, falls Casper anfing, Albträume zu entwickeln wegen dem, was er gesehen hatte.
»Willst du nicht wenigstens dem neuen Prediger die Hand schütteln?«, fragte Elvis, während JD seinen Bruder zum Ausgang zu schieben versuchte.
»Sicher ergibt sich ein andermal eine Gelegenheit«, sagte JD und lächelte höflich, während er Casper mit sich zum Ausgang zog.
»Hey, Vogelscheuche, du wirst ja klatschnass in dem Schweinewetter da draußen!«, rief Elvis. »Zieh wenigstens das hier an.«
Der King hatte einen dunklen Umhang vom Boden aufgehoben und warf ihn dem jungen Mann zu. Es war ein Kapuzenmantel, den einer der jetzt toten Vampire getragen hatte. JD fing ihn auf und sah ihn nachdenklich an.
»Danke, Elvis«, rief er dann.
»Kein Problem, Mann. Pass nur gut auf deinen kleinen Bruder auf, okay?«
Während JD den Umhang zurechtzupfte, so dass er ihn überstreifen konnte, ohne sich zu verheddern, ging Elvis an ihm vorbei und verschwand draußen in der Nacht. Er hatte andere Dinge zu erledigen, eine Boygroup aus der Gegend beispielsweise.
JD mühte sich einen Moment mit den Ärmeln des langen dunklen Umhangs ab. Als er ihn schließlich umgelegt hatte, stellte er fest, dass er sich um seine Schultern schmiegte und bis kurz über die Knöchel reichte, wie für ihn gemacht. Und nachdem er ihn mit einem schmalen Ledergürtel geschlossen hatte, schlug er die Kapuze hoch und folgte seinem aufgeregten kleinen Bruder in den Regen hinaus.