Neunundfünfzig
Dante und Peto waren durchweicht bis auf die Knochen und völlig durchgefroren, als sie schließlich das Santa Mondega International Hotel erreichten. Auch trugen ihre blutverschmierten Polizeiuniformen nicht gerade zu einem vorteilhaften Aussehen bei. Dante stieg zuerst die Steinstufen zum Eingang des zehnstöckigen Gebäudes hinauf. Er zitterte am ganzen Leib vom kalten Regen. Peto folgte ihm, während er versuchte, überschüssige Nässe aus seiner schweren dreadlockigen Frisur zu drücken. Die beiden konnten nicht schnell genug ins Warme kommen.
Sie durchschritten die Glastüren und fanden sich in der Lobby wieder. Es war eine rechte Erleichterung für beide, endlich im Warmen und Trockenen zu sein. In der Lobby war es sauber und gesittet wie immer, und der Anblick zweier durchnässter, schmuddeliger Officer, die den teuren ägyptischen Teppich beschmutzten, brachte ihnen ein missbilligendes »Tsss-tsss« von der jungen Frau hinter dem Empfangsschalter zu ihrer Linken ein. Sie war noch blutjung, kaum älter als zwanzig, und der Anblick von Dante und Peto, die sich schüttelten wie zwei Hunde, die sich im Dreck gewälzt hatten, brachte ein entschieden amüsiertes Grinsen in ihr Gesicht. Nicht, dass einer der beiden Männer etwas davon bemerkt hätte. Sie waren einfach nur erleichtert darüber, dass sie den Regen und den Sturm hinter sich gelassen hatten.
Die beruhigende Atmosphäre der Lobby sorgte dafür, dass sich ihre Stimmung rasch besserte. Die weiche Beleuchtung, der warme rote Läufer und der beigefarbene Teppichboden darunter sowie die überall herumstehenden braunen Ledersofas boten einen extrem behaglichen Anblick. Im Hintergrund spielte außerdem leise Musik, und Peto erkannte Andrea Bocellis Interpretation von Con te Partiro. Er hatte entschieden Geschmack an klassischer Musik und Oper gefunden, seit er die Insel Hubal hinter sich gelassen hatte, und Bocelli war einer seiner Lieblingsinterpreten, selbst wenn er Hits von Francesco Sartori sang.
Dante überhörte die Musik völlig. Er wollte nichts weiter, als so schnell wie möglich zu seiner Kacy. »Sie ist oben im dritten Stock«, sagte er zu Peto, und das Drängen in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich nehme die Treppe, du den Aufzug. Auf diese Weise sind wir sicher, dass wir sie erwischen, falls sie in der Zwischenzeit runterkommt.«
»Klar.«
Dante stürzte in Richtung des mit beigefarbenem Teppich ausgelegten Treppenhauses rechts vom Aufzug davon, während Peto den Knopf drückte, um den Lift zu rufen. Er sah, wie sein Freund hinter der ersten Biegung auf der Treppe verschwand, und dann stand er dort und wartete gut fünfzehn Sekunden, bevor die Kabine endlich im Erdgeschoss ankam und die Türen auseinanderglitten. Er genoss die Musik so sehr, dass er auch noch länger gewartet hätte. Bocelli sang ein Duett mit einer Frau, die die wunderschönste, engelsgleichste Stimme besaß, die Peto jemals gehört hatte.
Er blickte an sich hinunter und zupfte an seinem durchnässten, schmutzigen Polizeihemd, damit es nicht so an seiner Haut klebte. Dann, als die Lifttüren offen waren, wollte er in die Kabine steigen. Und stieß gegen ein Hindernis.
Er blickte auf. Ein dunkler Schatten ragte vor ihm auf. Eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, die zu seinem Erschrecken ein glänzendes zweischneidiges Schwert in seine Richtung stieß.
Petos Reaktionen waren schnell, doch nicht schnell genug für diesen unerwarteten Überfall. Die schwarz gekleidete Frau, die aus dem Aufzug gesprungen kam, war Jessica. Mit unglaublicher Schnelligkeit und Präzision stieß sie Peto das Schwert in die Brust und durchbohrte sein Herz, bis die Klinge auf der Rückseite durch das nasse blaue Hemd wieder austrat. Dann benutzte sie ihre unglaublichen Kräfte, um den nassen Mönch am Heft ihres Schwertes in die Höhe zu heben. Mit einem grausigen Grinsen sah sie ihm in die betäubten Augen, während sie ihm einen Tritt in den Magen versetzte und gleichzeitig das Schwert wieder herausriss. Blut bedeckte, was eine Sekunde vorher noch blanker Stahl gewesen war.
Peto brach in die Knie, während Blut seine Lungen füllte und durch seine Kehle nach oben in seinen Mund gurgelte. Seine Augen waren weit aufgerissen vom Schock dessen, was soeben passiert war. Er trug das Auge des Mondes um den Hals, daher hatte die normalerweise tödliche Wunde eine Chance zu heilen, auch wenn es diesmal eine lange Zeit dauern würde. Und die Zeit war nicht auf seiner Seite. Sich von einer solchen Wunde zu erholen war keine Sache, die in dreißig Sekunden erledigt war.
Das Einzige, was ihn daran hinderte, angesichts des unglaublichen Schmerzes laut aufzuschreien, war der Schock, der ihn vollkommen übermannt hatte. Er starrte hinauf in Jessicas grinsende Augen, als sie über ihm stand. Er konnte sehen, wie sein Blut von ihrem Schwert tropfte und wie sie, außerstande, ihren Durst zu kontrollieren, die Klinge an den Mund hob und mit der Zunge darüberleckte. Es reichte, ihre Gier ein klein wenig zu stillen. Rasch konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den vor ihr knienden, tödlich getroffenen Mönch.
»Da bist du also. Der Letzte der Mönche von Hubal.« Sie lächelte. Es war ein selbstgefälliges, blasiertes Lächeln, ein Lächeln, das den Hass seiner Besitzerin auf alles Lebendige nicht verbergen konnte. »Zeit, dich zu verabschieden, Mönch.«
Dann nahm sie wie ein Baseballspieler, der seinen Schlag vorbereitet, das Schwert in beide Hände und holte aus, bis es hoch über ihrer rechten Schulter war. Mit einer einzigen fließenden Bewegung sauste die Klinge nach unten und zielte auf Petos Hals.
Homerun.
Petos Kopf löste sich glatt von den Schultern. Kein zweiter Schlag war nötig. Der Kopf landete mit einem dumpfen Geräusch anderthalb Meter entfernt, sehr zum Entsetzen der jungen Frau an der Rezeption, die das Geschehen starr vor Schock mit offenem Mund verfolgt hatte. Petos kopfloser Rumpf kippte vornüber. Die Halskette mit dem Auge des Mondes fiel zu Boden und landete vor Jessicas Füßen. Das war es, worauf sie gewartet hatte. Endlich war er da, der kostbare blaue Stein, den sie schon so lange begehrte. Er lag vor ihren Füßen, einfach so. Sie vergaß alles um sich herum, als sie sich bückte, um ihn aufzuheben. Sie hob ihn vor das Gesicht, und ihre Augen blitzten wie ein Feuerwerk in tiefster Nacht.
»Endlich!«, zischte sie.
Doch das war noch nicht alles. Als sie sich endlich ein wenig von ihrer Verzückung erholt hatte, fiel ihr Blick auf einen goldenen Kelch, der aus einer Tasche in der Hose des toten Mönchs gerollt war.
Doppelter Jackpot!
Auf seinem Platz hinter der Theke der nun leeren Tapioca Bar fand Sanchez endlich die Seite, nach der er gesucht hatte. Die Seite im Buch des Todes. Drei Namen standen auf dieser Seite. Alle sollten am 1. November sterben. Ein Blick auf seine Uhr bestätigte, dass Mitternacht soeben vorbei war. Der erste Tag des November war angebrochen.
Die drei Namen lauteten wie folgt:
Peto Solomon
Dante Vittori
John Doe