Sechsundfünfzig
Kacy saß zusammen mit Roxanne Valdez auf dem gemütlichen cremefarbenen Sofa vor dem Fernseher der Suite. Robert Swann war seit einer Viertelstunde im Bad verschwunden. Er hatte schon den ganzen Abend über Magenschmerzen geklagt, und sie schienen schließlich ihren Tribut zu fordern. Seine Kollegin hatte diskret die Lautstärke des Fernsehers ein wenig erhöht, um die laut trompetenden Geräusche aus dem Badezimmer zu übertönen.
Sie sahen einen Spielfilm mit George Clooney, Burn After Reading – Wer verbrennt sich hier die Finger? Valdez schien sich zu amüsieren, doch Kacy war nicht imstande gewesen, sich auf den Film zu konzentrieren. Sie hegte die Hoffnung, dass dies die letzte Nacht war, die sie im Hotel verbringen musste. Wenn Dante es in einem Stück zurück schaffte und die Informationen brachte, die sie von ihm verlangten, dann durften Kacy und Dante vielleicht nach Hause zurück. Oder nicht? Sie war nicht sicher. Sie mochte Valdez nicht und vertraute ihr noch weniger, und Swann hatte angefangen, sie anzustarren und zu grinsen, wann immer er sie sah, was ihr allmählich unheimlich wurde.
Der Film war vielleicht eine Stunde gelaufen, als Valdez’ Handy summte. Sie nahm das Gespräch hastig an. So hastig, dass Kacy keine Chance hatte, den Klingelton zu identifizieren.
Sie hatte gehofft, dass Dante der Anrufer war, doch er war es offensichtlich nicht. Doch wer auch immer auf der anderen Seite der Verbindung war, er hatte offensichtlich wichtige Informationen, denn Valdez erhob sich und ging in das kleinere der beiden Schlafzimmer, um sicher zu sein, dass Kacy nicht hören konnte, was der Anrufer zu sagen hatte.
Weil Kacy aber zu der neugierigen Sorte gehörte, packte sie die Fernbedienung und drehte George Clooney mitten im Satz den Ton ab. Dann lauschte sie angestrengt in dem Bemühen, alles aufzuschnappen, was Valdez zu sagen hatte.
»Déjà-Vu? Tatsächlich? … Ja, ich kenne ihn … Ich kann seine Adresse innerhalb von fünf Minuten besorgen … Ich weiß, dass er irgendwo auf der South Side wohnt … Sicher. Mache ich.«
Nichts von alledem ergab einen Sinn, trotzdem versuchte Kacy, sich jedes Wort einzuprägen für den Fall, dass Dante bei seiner Rückkehr mehr damit anzufangen wusste. Endlich hörte sie Valdez etwas sagen, das Kacy für die Mühe des Lauschens belohnte.
»Was ist mit den beiden? … Danke. Und mit dem Mädchen? … Okay, ich sage ihm Bescheid.«
Kacy hörte, wie die Agentin zurückkam, und drehte hastig die Lautstärke des Fernsehers wieder hoch. Gott sei Dank war die Stelle gerade ruhig, so dass der Übergang von Stumm zu Laut nicht weiter auffiel. Wie dem auch sein mochte, Valdez schien es nicht bemerkt zu haben, als sie aus dem kleinen Zimmer kam.
»Hab ich was verpasst?«, fragte sie Kacy.
»Nein. Es passiert irgendwie nicht viel in diesem Film, schätze ich.«
»Hmmm. Wenn das so ist, gehe ich ein wenig an die frische Luft. Erzählen Sie mir, wie der Film ausgegangen ist, ja?«
»Mach ich.«
Roxanne Valdez schlüpfte in eine eng sitzende braune Lederjacke, die sie aus dem Schlafzimmer mitgebracht hatte, und ging zur Tür. Noch bevor sie dort ankam, zog sie erneut ihr Handy aus der Tasche und begann auf den Tasten zu tippen. Dann schlüpfte sie ohne einen letzten Blick zu Kacy durch die Tür nach draußen auf den Gang und war verschwunden.
Kacy fühlte sich unbehaglich und paranoid. Irgendetwas würde passieren, vermutete sie, irgendetwas überhaupt nicht Gutes. Sie warf einen Blick zum Hoteltelefon in der Ecke des Zimmers, während sie fieberhaft nachdachte. Sie konnte Dante anrufen und ihm sagen, dass der Job erledigt war, und ihn bitten, sich irgendwo mit ihr zu treffen. Mit Swann im Bad und Valdez irgendwo draußen mit Gott weiß wem, hatte sie eine gute Chance zu entkommen. Und zum ersten Mal, seit sie hergebracht worden war, dachte sie ernsthaft über diese Möglichkeit nach, weil sie eine Menge Sinn ergab. Falls Valdez, wie Kacy vermutete, durch den unbekannten Anrufer erfahren hatte, dass die Mission vorbei war, spielte es keine Rolle mehr, ob Dante und Kacy im letzten Augenblick flüchteten. Falls sie nicht flüchteten, würde man sie mit großer Wahrscheinlichkeit in schönster B‑Movie-Manier ausschalten. Schließlich hatten sie mit Abschluss der Mission ihren Zweck erfüllt.
Sie schlich auf Zehenspitzen zu dem kleinen Tisch vor dem Badezimmer und nahm behutsam den Hörer von der Gabel des Telefons. Als sie ihn ans Ohr hielt, war kein Freizeichen zu hören. Sie drückte ein paar Tasten, bis ihr dämmerte, dass die Leitung unterbrochen war. Mist.
Panik stieg in ihr auf, und ihr wurde heiß. Dann hörte sie im kleineren der beiden Schlafzimmer ein leises Piepsen. Swanns Handy hatte eine Textnachricht empfangen. Er hatte sein Handy wohl liegen lassen, als er zum längsten Scheißhausbesuch der Welt aufgebrochen war. Sie schlich auf Zehenspitzen – ein wenig eiliger diesmal – in das kleine Zimmer. Swanns Handy lag auf der Frisierkommode in der Ecke des Raums.
Sie schlich zu der Kommode. Ihr Herz hämmerte wie verrückt vor Angst und Aufregung. Sie holte einmal tief Luft, dann nahm sie mit zitternden Fingern das Handy hoch, voller Angst, dass Swann sie überraschen könnte. Auf dem Display stand eine Meldung, dass soeben eine Nachricht von Valdez eingegangen war. Das könnte eine interessante Nachricht sein, dachte sie.
Und es war eine.
Kacy öffnete die Textnachricht und las. »Auftrag erledigt. Das Mädchen gehört dir. Lass die Leiche verschwinden, wenn du fertig bist.«
Kacy hätte sich beinahe übergeben. Sie brauchte Dante, und zwar ganz dringend – etwas, das ihre Instinkte ihr immer sagten, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Er konnte das in Ordnung bringen, wenn er nur schnell genug hier war. Je schneller er zum Hotel zurückkam, desto besser. Es spielte keine Rolle, wie hart Agent Swann war oder wie stark. Dante konnte es mit einem Panzer aufnehmen und ihn mit bloßen Händen schlagen, wenn seine Kacy in Gefahr war und er sie retten musste.
Sie blätterte hastig durch das Menü des Handys, denn sie wusste, dass Swann irgendwo Dantes Nummer gespeichert hatte. Bald hatte sie sie gefunden, und sie drückte die Wahltaste. Ein tiefer Atemzug beruhigte sie vorübergehend, während sie das Handy an ihr Ohr hielt. Lass mich jetzt nicht im Stich, Baby. Bitte geh ran!, flehte sie in Gedanken. Die Worte gingen ihr wieder und wieder durch den Kopf wie ein Mantra oder wie eine kaputte Schallplatte, die an einer Stelle hing.
Das Handy läutete dreimal, und dann meldete sich Dante laut und deutlich am anderen Ende.
»Was willst du, Arschloch?«
»Baby, ich bin es!«, piepste Kacy.
»Oh, Scheiße! Bitte entschuldige, Kacy. Ich dachte, du wärst dieses Arschloch Swann.«
»Er ist im Bad. Ich benutze sein Handy.«
»Okay. Bleib ruhig, Baby, ich komme dich holen, klar? Ich hab Hilfe organisiert. Wir sind hier fertig und fahren nach Hause, hörst du? Ich komme dich holen.«
Kacy war so überglücklich, Dantes Stimme zu hören, dass sie in Tränen ausbrach. All ihre aufgestauten Gefühle brachen sich Bahn. »Honey, ich hab solche Angst! Ich habe gehört, wie Valdez gesagt hat, dass der Job erledigt ist. Ich glaube, sie wollen uns töten, Baby. Sie ist weggegangen, und sie hat Swann eine SMS geschickt und ihm gesagt, er soll meine … meine …« Die Angst gewann die Oberhand, und ihre Stimme brach vollends. Mit Dante zu reden machte ihr die Lage wieder bewusst, in der sie steckte. Es war einfach zu viel. Viel zu viel. Ihr Schluchzen wurde unkontrollierbar.
Am anderen Ende der Verbindung merkte ihr Liebhaber, dass es ihr sehr schlecht ging und dass sie ihn brauchte. Er wusste, dass sie unentschlossen wurde und zauderte, wenn sie in Panik geriet, also redete er in entschiedenem Tonfall weiter in der Hoffnung, sie ein wenig aufzurichten.
»Kacy, hör mir jetzt zu, okay? Mach, dass du aus dieser Suite verschwindest, und geh runter zum Empfangsschalter, klar? An irgendeinen öffentlichen Ort. Ich bin in zwei Minuten da, Baby. Wir sehen uns gleich.«
Dantes Stimme verriet, dass er rannte, denn sie war unterbrochen von scharfen Atemzügen und schwankte in der Lautstärke.
»Ich liebe dich«, schluchzte Kacy.
»Ich liebe dich auch, Baby. Und jetzt mach, dass du da wegkommst, als wäre der Teufel hinter dir her!«
Das Handy verstummte, als Dante die Verbindung unterbrach. Das Nächste, was Kacy hörte, war das Geräusch der Wasserspülung im Bad. Sie war sofort hellwach, und ihr Weinen verebbte. Stattdessen geriet sie in einen Zustand der Panik. Konnte sie noch aus dem Schlafzimmer und durch das Wohnzimmer in den Korridor fliehen, bevor Swann aus dem Badezimmer kam? Und was war mit seinem Handy? Sollte sie es dahin zurücklegen, wo sie es gefunden hatte?
Ihr Zögern kostete sie viel Zeit. Swann gehörte nicht zu der Sorte, die sich die Hände wusch, nachdem sie die Toilette benutzt hatte, und sie hörte, wie das Schloss der Badezimmertür klickte, als er Anstalten machte, das Bad zu verlassen. Dann fiel ihr wieder ein, was Dante gesagt hatte: Mach, dass du da wegkommst, als wäre der Teufel hinter dir her!
Dante wusste immer, was in einer Krise zu tun war. Tu, was Dante dir sagt, dachte sie. Sie atmete ein weiteres Mal tief durch und rannte los in Richtung Tür.
Unglücklicherweise hätte ihr Timing kaum schlechter sein können, denn genau in diesem Moment kam Swann durch die Badezimmertür nach draußen. Er sah sie zur Tür rennen und streckte instinktiv die Hand aus, um sie am linken Arm festzuhalten.
Sie wirbelte herum.
»Was glaubst du eigentlich, wohin du gehst?«, fragte er und blickte sie nicht wenig verwirrt an.
»Ähhh.« Jetzt war Kacy um Worte verlegen.
»Wohin ist Roxanne gegangen?«
»Ähhh.«
»Und überhaupt – was machst du mit meinem Handy?«
Swanns Gesicht war plötzlich eine Maske der Besorgnis. Er spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Er streckte die Hand aus, packte Kacys rechten Arm und entwand ihr das Handy. Ihr Gesicht verriet sie. Sie hatte furchtbare Angst, und er erkannte es an ihren Augen.
Ohne ihren Arm loszulassen, blätterte er durch die Menüs des kleinen Gerätes, und bald hatte er die SMS von Valdez gefunden. Während er las, sah Kacy, wie seine Augen aufleuchteten und sein Unterkiefer schlaff wurde. Schließlich breitete sich ein breites, hässliches Grinsen über sein Gesicht aus.
»So, so«, grinste er sie an. »Ich hoffe, du hast dir die Beine rasiert …«