Sechsundzwanzig
Als Dante zu seiner zweiten Nacht in Gesellschaft der Shades im Nightjar eintraf, fand er Obedience und Fritz bereits an der Theke. Er hatte die charakteristische Wraparound-Brille auf, die sie ihm in der vorangegangenen Nacht gegeben hatten, und er war in Jeans und einem dünnen schwarzen T-Shirt gekommen in Erwartung der coolen schwarzen Lederjacke, die ihn als Mitglied ihres speziellen Clans auswies.
An diesem Abend war es relativ ruhig im Laden, wenigstens im Vergleich zur vorangegangenen Nacht – trotzdem gelang es ihm nicht, sich bis zur Theke vorzuarbeiten, ohne jemanden anzurempeln. Diesmal allerdings war es wirklich nicht seine Schuld. Einer der weißen Rastafaris erschien wie aus dem Nichts und rammte Dantes Schulter.
»Hey! Sorry, Mann!«, sagte Dante instinktiv.
Der Rastafari war ein ziemlich kleiner Bursche in einer weiten schwarzen Karate-Montur. Er hatte dunkle Dreadlocks, die überall an seinem Kopf gleich lang herabhingen und den größten Teil seines Gesichts verbargen.
»Was machst du denn hier?«, fragte er Dante in drängendem Flüsterton.
»Was? Ich treffe mich hier mit den Jungs, auf einen Drink«, antwortete Dante verwirrt und starrte den Burschen an. Was glaubt er denn? Das hier ist eine verdammte Bar, Herrgott noch mal! Warum sonst sollte ich wohl hierherkommen?
Nervös darauf bedacht, nicht dabei erwischt zu werden, wie er mit einem Mitglied eines anderen Clans redete, wandte er dem Rastafari den Rücken zu und setzte seinen Weg zum Tresen fort, wo Obedience und Fritz bereits auf ihn warteten.
Er konnte nicht umhin zu denken, dass die Stimme des Burschen irgendwie vertraut geklungen hatte. Trotzdem. Was zerbrach er sich darüber den Kopf? Er hatte wichtigere Dinge zu tun. Beispielsweise Peto zu finden, den Mönch von Hubal. Und dafür zu sorgen, dass er selbst am Leben blieb.
Der Besitzer des Nightjar, Dino, saß in einem schicken blauen Anzug am anderen Ende der Bar und trank Rotwein aus einem Glas, während zwei junge Barkeeper in schwarzen Hosen und sauberen weißen T‑Shirts die Arbeit machten. Einer der beiden stand hinter der Theke und polierte Gläser, der andere säuberte soeben einen Tisch in der hintersten Ecke. Alles in allem waren nicht mehr als dreißig Gäste im Laden, die sich größtenteils mit gedämpften Stimmen unterhielten. Alle schienen mehr oder weniger normal angezogen zu sein. Keine Clowns, keine Maori-Stammesangehörigen, und soweit Dante es beurteilen konnte, auch keine Transen.
»Hey, Jungs, wie läuft’s denn so?«, fragte er, als er bei Fritz und Obedience angekommen war.
»Was wollte Chip von dir?«, fragte Obedience. Er klang misstrauisch.
»Wer?«
»Der Rastafari, mit dem du dich gerade unterhalten hast.«
»Ach, der. Er wollte mich überreden, seinem Clan beizutreten.«
»Tatsächlich?«, fragte Obedience. »Obwohl du keine Dreadlocks hast wie alle anderen?«
»Ja. Was für ein Trottel«, sagte Dante und schnitt eine überraschte Grimasse. »Wie sieht’s aus, Leute – jemand ein Bier?«, wechselte er hastig das Thema.
Trotz der beunruhigenden Fragen wegen Chip schienen die beiden Mitglieder der Shades erfreut, ihn zu sehen, was ein guter Anfang war. Dante erinnerte sich dunkel, dass der vorhergegangene Abend einigermaßen glimpflich abgelaufen war. Er schien sich ganz gut eingefügt zu haben, und wenn er sich nicht aufgrund des übermäßigen Alkoholkonsums der vergangenen Nacht völlig verschätzte, dann war so weit alles in Butter.
Obedience antwortete für sich und Fritz. »Wir wollten eigentlich gerade in die Stadt und ein wenig junges Fleisch aufgabeln«, sagte er.
»Junges Fleisch?«
»Ja. Wir wollten in einen Stripladen und ein paar Nutten zum Abendessen vernaschen. Bist du dabei?«
Das war ganz und gar nicht das, was Dante vorgeschwebt hatte. Nicht annähernd. Es war eine Sache, sich dank dem Serum in seinem Blut unbemerkt unter Vampire zu mischen, doch falls sie erwarteten, dass er die Fänge in den Hals einer ahnungslosen Nutte schlug, um ihr Blut zu trinken … dann waren sie reif für eine herbe Enttäuschung. Und er war bald ein mächtig toter Dante.
»Äh … ich weiß nicht, Jungs. Ich hab mir den Magen verdorben, glaub ich. Schätze, ich bleibe einfach hier und nehme noch ein paar Biere. Trotzdem, danke für die Einladung, okay?«
»UNSSSINN!«, brüllte Fritz. »Du wirssst mit unsss komm’n. Esss gibt da nämlich jemand’n, der dich ssseh’n will.«
»Ach ja? Wer?«
»Der Bosss! Vanity, der Anführer der Shadesss, will dich ssseh’n. Er will über die Modalität’n deiner Aufnahme in den Clan red’n!«
Es war unmöglich für irgendjemanden, Fritz zu überhören. Die ganze Bar verstummte schlagartig. Dreißig Gäste warteten auf Dantes Antwort, und weil die Psychics gerade Pause machten, gab es nicht einmal Hintergrundlärm, der sie abgelenkt hätte.
»Oh, richtig. Okay, meinetwegen«, sagte Dante. »Aber ich lasse das Abendessen ausfallen, denke ich.«
»Du bist nicht hungrig, so spät am Abend?« Obedience war unübersehbar verblüfft.
»Nein, ich hatte einen Chinesen, bevor ich hergekommen bin«, sagte Dante und rieb sich den Magen.
»Aaah.« Obedience und Fritz nickten unisono. Sie hatten beide in der Vergangenheit an Magenverstimmung gelitten, nachdem sie sich an Chinesen gestärkt hatten. Sie waren wohlschmeckend, aber sie spielten dem Verdauungssystem schwer mit.
»Wo sind die anderen Jungs alle?«, fragte Dante, indem er taktvoll das Thema zu wechseln versuchte.
»WaSSs interesssier’n dich die ander’n!«, bellte Fritz. »Wir hab’n CLEAVAGE und Moossse bei unSSs heute abend!« Er zeigte auf zwei weibliche Vampire, die gerade von den Toiletten auf dem Weg zur Theke waren. Eine war eine ziemlich umwerfende Brünette mit gewaltigen Titten, die in einem winzigen weißen T-Shirt eng zusammengepresst wurden. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, das ist Cleavage, dachte Dante. Ihre Freundin war eine pummelige, unattraktive Blondine mit einer viel zu großen Nase und einem Auge, das viel größer war als das andere. Und das ist Moose, dachte er.
Die beiden Vamps zogen eine Reihe bewundernder Blicke auf sich, als sie in ihren kurzen Röckchen zur Theke trotteten.
»Hi, Fritz – ist das Dante?«, fragte Cleavage, als sie bei ihnen angekommen waren.
»Ja, dasss issst der junge Bursche, den wir gessstern Abend kennen gelernt hab’n. Wir nehm’n ihn mit zum Bosss. Kommt ihr?«
»Sicher«, sagte Cleavage. Sie musterte Dante, als wäre er ein Stück Fleisch. »Hi, Dante. Ich bin Cleavage. Die Leute nennen mich so wegen meines fantastischen Dekolletees. Oder ist es dir vielleicht gar nicht aufgefallen?«
Dante war so gut wie nichts anderes aufgefallen. Er starrte auf ihre Brüste, als hätten sie ihn hypnotisiert.
»Was für prächtige Dosen«, sagte er laut anstatt nur im Geiste.
»Wie bitte?«
»Freut mich, dich kennen zu lernen.« Dante gab ihr die Hand und sah ihr zum ersten Mal in die Augen.
Cleavage erwiderte sein Lächeln. Sie war daran gewöhnt, dass die Kerle die ganze Nacht zu ihren Titten redeten, und es bedeutete eine angenehme Überraschung für sie, dass dieser hier ihr tatsächlich in die Augen blickte. »Das ist meine Freundin Moose«, sagte sie und zeigte auf ihre hässliche Begleiterin.
Dante schüttelte Moose die Hand, die ihn zuckersüß-klebrig anlächelte.
»Die Leute nennen mich Moose, weil ich mir jede Menge von diesem Zeug in die Haare tue, damit sie so bleiben«, sagte sie, indem sie ihren gewaltigen, toupierten Bouffant tätschelte, der aussah, als würde er von Marine Vanish gehalten.
»Hahaha! Ja, in der Tat!«, lachte Dante. Moose starrte ihn verunsichert an, und Dante wurde klar, dass er nicht hätte lachen dürfen. Sie hatte keinen Witz gemacht.
»Was ist daran so lustig?«, fragte sie.
»Großartig. Ich freue mich ja so, deine Bekanntschaft zu machen. Du hast eine großartige Frisur«, sagte er und schenkte ihr sein gewinnendstes Lächeln.
»Oh, danke«, antwortete sie einfältig und strahlte zurück. Das Kompliment hatte den erwünschten Effekt und löschte den vorhergehenden Fauxpas komplett aus ihrem Gedächtnis.
Im Verlauf all der Begrüßungen und Floskeln war Uncle Les, der ältere der beiden Türsteher, in den Laden gekommen und stand nun bei der Gruppe. An diesem Abend trug er Bluejeans und eine dazu passende ärmellose Denimjacke mit einem weißen T-Shirt, unter dem schwellende Muskeln und ein definierter Sixpack zum Vorschein kamen. Er hatte eine Rasur dringend nötig, doch niemand wagte es, eine Bemerkung in dieser Hinsicht fallen zu lassen.
»Wenn ihr nicht bald was zu trinken bestellt, Leute, dann muss ich euch auffordern, aus unserem Laden zu verschwinden«, sagte er streng.
»Wir wollten gerade gehen«, antwortete Obedience. »Wir gehen zu Vanitys Laden. Wenn Silence oder Déjà-Vu auftauchen, könntest du ihnen sagen, wo wir sind?«
»Kann schon sein.«
»Danke.« Obedience wandte sich an die anderen. »Kommt, lasst uns von hier verschwinden, bevor es hässlich wird.«
»Dazu ist es schon ein wenig zu spät, meinst du nicht?«, sagte Uncle Les mit einem Blick auf Moose. Glücklicherweise war sie unglaublich dickhäutig und sich ihrer Attraktivität so sicher, dass seine boshafte Bemerkung völlig an ihr vorbeiging.
Die Gruppe verließ das Nightjar, und Fritz führte sie durch die stillen Straßen zum Swamp, einem Strip-Club, der Vanity gehörte. Dante blieb mit Obedience ein wenig zurück.
»Schätze, dieser Rausschmeißer ist ein Arschloch der obersten Kategorie, wie?«, fragte Dante.
»Ja, und er ist ein richtig harter Brocken. Vertrau mir, du willst ihm bestimmt nicht in die Quere kommen«, antwortete der Vampir.
»Nein?«
»Nein, er ist ein harter Brocken.«
»Aber er ist kein Wade Garrett, oder?«
»Wer zum Teufel ist Wade Garrett?«
Dante schüttelte missbilligend den Kopf. »Vergiss es. Spielt keine Rolle.«
»Vielleicht sollten sie diesen Garrett hier unten beschäftigen. Gott weiß, wir könnten jemanden gebrauchen, der uns all die verdammten Werwölfe vom Hals hält.«
»Du magst Werwölfe nicht?«
Obedience war offensichtlich überrascht, dass Dante eine Frage wie diese stellte. »Scheiße, nein! Du vielleicht?«
»Nein. Natürlich nicht.«
»Gut. Diese haarigen, stinkenden Mistviecher sollen gefälligst auf ihrer Seite der Stadt bleiben. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist ein MC Pedro, der im Nightjar zur Musik der Psychics rappt. Ein verdammter Albtraum wäre das.«
Es war ein entnervendes Gefühl für Dante, dass jede Antwort auf irgendeine Frage, die er stellte, für einen Vampir, der auch nur einen roten Heller wert war, offensichtlich erschien. Wie zum Teufel sollte er mehr über das Auge des Mondes herausfinden oder den Mönch Peto oder auch nur irgendwelchen Mist über die Clans, ohne für alle zu klingen wie der letzte Narr? Oder, schlimmer noch, wie ein Hochstapler?
Nun, es gab wahrscheinlich keine Möglichkeit zu fragen, ohne einen dummen Eindruck zu erwecken. Und da er sich normalerweise auch nie sorgte, ob er sich nun zum Deppen machte oder nicht, fragte er einfach.
»Verrat mir eins, Obedience – hast du eine Idee, wo das Auge des Mondes abgeblieben ist?«
»Was?«
»Das Auge des Mondes. Du weißt schon, der blaue …«
»Ich hab gehört, was du gesagt hast!« Obedience blieb wie angewurzelt stehen und packte Dante beim Arm. Er hielt ihn fest, bis die drei anderen Vampire außer Hörweite waren. »Lass Vanity bloß nicht hören, dass du solche Fragen stellst, klar? Stell sie am besten niemandem, okay? Derartige Fragen bringen dich schneller um als ein silbernes Kruzifix. Die Leute hier reden nicht über diesen Stein. Er bringt nichts außer Unglück und Elend. Und wenn du Fragen über ihn stellst, denken die Leute am Ende noch, dass du ihn hast oder weißt, wo er ist. Und das wäre überhaupt nicht gut.«
»Scheiße, Mann, tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
»Mach dir keine Gedanken, klar? Frag einfach nicht mehr danach.« Obedience setzte sich wieder in Bewegung. »Frag niemanden, niemals, okay? Ich hab dich in den Clan gebracht, und wenn du mich hängen lässt, stecke ich in mächtigen Schwierigkeiten, ja? Sei einfach höflich, wenn Vanity dich irgendetwas fragt, und halte deine Antworten knapp. Stell bloß nicht selbst irgendwelche Fragen. Ganz einfach und simpel, und er nimmt dich in den Clan auf. Klar so weit?«
»Klar so weit. Ganz einfach und simpel ist kein Problem für mich. Simpel ist mein zweiter Vorname.«
Obedience blieb erneut stehen und nahm seine Sonnenbrille ab. Darunter kamen tiefliegende braune Augen zum Vorschein. »Mann, du bist ziemlich nervös heute Nacht, kann das sein? Du warst gestern Abend so cool, und jetzt? Wie ein Sack voller Katzen, total nervös und so. Verdammt, was zur Hölle ist los mit dir, Mann?«
»Ah, weißt du, ich hab noch nichts zu trinken gehabt, und ich will einen guten Eindruck machen, wenn ich den Boss treffe, diesen Vanity. Reine Nervensache, schätze ich. Nichts, was ein paar doppelte Tequilas nicht kurieren könnten.«
»Ah. Okay. Scheiß drauf«, sagte Obedience. »Wir machen einen Zwischenstopp bei der Painted Lady und nehmen erst mal ein paar Drinks zu uns. Bei der Gelegenheit kannst du mir sämtliche dämlichen Fragen stellen, die dir auf der Zunge liegen. Ich erzähle dir, was du nicht sagen darfst, wenn du vor Vanity stehst, und dabei tanken wir ein wenig nach. Wie klingt das?«
»Klingt nach einer fantastischen Idee, Mann. Die Painted Lady … ich hab noch nie von diesem Laden gehört.«
»Es ist ein Szene-Treffpunkt. Dort gibt es alles. Alkohol, Drogen, Glücksspiel, Stripper, Tattoos.«
»Tattoos?«
»Ja. Tagsüber ist es ein Tattoo-Studio, deswegen heißt es auch Painted Lady. Was hältst du von einem coolen Tattoo auf dem Arm? Ich weiß, dass Vanity im Swamp eine von unseren Jacken für dich bereithält. Es wäre ziemlich unhöflich, keine Farbe auf dem Arm zu haben, die du vorzeigen kannst, wenn du die Jacke trägst.«
»Cool. Ich wollte schon immer ein Tattoo.« Dante stellte sich vor, welche Überraschung es für Kacy wäre, wenn er sich ihren Namen auf den Arm tätowieren ließ. Es würde ihr gefallen, keine Frage. Vielleicht würde es sie sogar ein wenig aufmuntern.
Doch was dann geschah, als sie in der Painted Lady waren, hätte Kacy überhaupt nicht gefallen. Nicht ein Stück. Dante und Obedience blieben ein wenig zu lang. Sie tranken ein wenig zu viel. Sie nahmen ein paar Drogen, und sie sahen sich die Strip-Shows an.
Und als sie mit allem fertig waren, unterlag Dante in seinem betrunkenen Zustand einer ganz und gar grauenvollen Fehleinschätzung.