Vierundvierzig
Josh arbeitete erst seit einem Monat in der Santa Mondega City Library, und es war die reinste Hölle. Die Leiterin der Bibliothek, Ulrika Price, war eine strenge Zuchtmeisterin, und sie machte ihn nervös. Und wenn Josh nervös wurde, hatte er die unglückselige Neigung, die Kontrolle über seine Körperfunktionen zu verlieren. Das konnte sich auf mancherlei unterschiedliche Art und Weise zeigen, beispielsweise durch Rotz, der ihm plötzlich aus der Nase schoss, oder einen Mundvoll Speichel, der sich über der Person ergoss, mit der er gerade redete – oder, im Extremfall, eine nasse Hose, wenn sich seine Blase unbeabsichtigt ein wenig entleerte.
Ulrika hatte vom ersten Tag an das größte Vergnügen daran gehabt, ihm die Arbeit zu vermiesen, und sie genoss die Macht, die sie über ihn hatte. Einen fünfzehnjährigen Knaben wie Josh einzuschüchtern verschaffte ihr echte Befriedigung von der Art, wie sie sonst in ihrem traurigen, langweiligen und einsamen Leben nicht vorkam.
Heute war einer von jenen Tagen, an denen sie noch überspannter war als ohnehin, und Josh hatte kurz davor gestanden zu kündigen. Er hatte sowieso noch einen anderen Job, und er konnte es sich leisten, diese Stelle als Bibliothekslehrling zu verlieren. Seine einzige Verantwortung bestand darin, die zurückgegebenen Bücher an ihren Platz in den Regalen zu stellen, und nach Mrs. Prices Meinung war er selbst dazu zu dumm. Sie hatte ihn an diesem Tag bereits einmal ermahnt, weil er einen Roman von Dan Brown in die Sachbuch-Abteilung und – noch schlimmer – eine Biographie von Barbra Streisand in die Humor-Abteilung gestellt hatte. Es schien, als könnte er nur wenig richtig machen, wenigstens in Ulrikas Augen. Natürlich war es ihre eigene Schuld, wenn sie ihn unter so großen Druck setzte und verlangte, dass er die Bücher noch in der gleichen Minute zurückbrachte, in der sie die Titel als zurückgegeben einbuchte. Eine Sache, die sie auf den Tod nicht vertragen konnte, waren in den Himmel wachsende Stapel zurückgegebener Bücher auf ihrem Schreibtisch.
Die schwarzen Schuluniformhosen, aus denen Josh rasch herauswuchs, rutschten ihm allmählich in die Poritze wegen all dem Schweiß vom dauernden Hin- und Herrennen zwischen Schreibtisch und Regalen, und sein weißes Hemd war nahezu durchsichtig. Nachdem er ein Buch mit dem Titel Abnehmen für Kleinwüchsige auf den obersten Regalboden der Kochbuchabteilung gestellt hatte, kehrte er zum Schalter zurück, um herauszufinden, was die alte Miesepeterin als Nächstes für ihn hatte.
Als er dort eintraf, war sie am Telefonieren, und weil er wusste, wie sehr sie ihre Privatsphäre schätzte, blieb er ein wenig abseits stehen und wartete geduldig, bis sie ihr Gespräch beendet hatte. Sie saß in einem gepolsterten Plastiksessel hinter der Empfangstheke, mit dem Gesicht dem Eingang zugewandt, so dass sie genau sehen konnte, wer kam und wer ging. Sie war ständig auf der Lauer, um sicher zu sein, dass niemand ein Buch mitnahm, ohne dass die Ausleihe vorher vermerkt worden war.
Josh hütete sich davor, ihr Gespräch zu belauschen. Ulrika Price erhielt manchmal höchst zweifelhafte Anrufe von äußerst anrüchigen Charakteren, die sehr ungemütlich werden konnten. Josh wusste dies, weil er bei einer Gelegenheit, als sie nicht am Empfang gesessen hatte, mit verstellter Stimme ein Gespräch angenommen hatte. Ein Mann mit einer zutiefst unangenehmen Stimme hatte sich am anderen Ende gemeldet und eine Liste von vier Namen und ein Datum durchgegeben, bevor er ohne weiteres Wort den Hörer wieder auf die Gabel geknallt hatte. Der Junior-Bibliothekar hatte sich nichts dabei gedacht, doch als Ulrika Price einige Tage später herausfand, was er getan hatte, war sie an die Decke gegangen und hatte ihn mit einer Hand an der Gurgel gegen die Wand gedrückt. Danach hatte er sich nie wieder ans Telefon gewagt.
Jetzt, spät am Tag, schielte sie über ihre Lesebrille hinweg und kritzelte Notizen auf einen Block, während sie am Telefon m-hmmmte und a-hate. Josh war nicht sicher, ob sie ihn bemerkt hatte, deswegen räusperte er sich laut, um sie wissen zu lassen, dass er in Hörweite war. Das Geräusch zog einen bösen Blick von Mrs. Price nach sich, und sie zog ihre graue Strickjacke enger um die Schultern und wandte sich weit genug von ihm ab, um sicherzugehen, dass er nicht lesen konnte, was sie schrieb. Schließlich, nach weiteren zehn Sekunden des Nickens und m-hmmmens legte sie den Hörer zurück auf die Gabel des weißen, altmodischen Telefons und wandte sich zu ihrem Lehrling um.
»Ist alles erledigt, was ich dir aufgetragen hatte?«, brummte sie ihn missmutig mit in tiefe Falten gelegter Stirn unter dem blonden, straff nach hinten gekämmten und zu einem Dutt zusammengesteckten Haar an. Für eine Frau Mitte dreißig sah sie nicht sehr frisch aus.
»Jawohl, Miss. Ich habe gerade das Diätbuch für Kleinwüchsige zurückgestellt.«
»Auf das unterste Regal, damit Kleinwüchsige es auch finden?«
»Nein, nicht direkt, Miss. »
Ulrika verzog das Gesicht noch mehr und sprang aus ihrem gepolsterten Plastiksessel auf.
»Es ist zum Verzweifeln!«, seufzte sie. »Es ist wirklich zum Verzweifeln! Ich gehe und stelle es selbst an seinen richtigen Platz zurück.« Sie umrundete ihren Schreibtisch und kam durch eine gefederte Klappe hinter dem Empfangsschalter hervor zu Josh.
»Entschuldigung«, stammelte er, als sie an ihm vorbeirauschte zur Kochbuchabteilung im hintersten Teil des riesigen Saals voller Bücherregale. Sie hörte sein Gemurmel und blieb für eine Sekunde oder so wie angewurzelt stehen, ohne sich zu ihm umzudrehen. Er konnte sehen, wie die schrecklichen blauen Adern unter dem Rocksaum ihres blauen knielangen Kostüms zuckten. Nach einer kurzen Pause wandte sie sich um.
»Mach dir keine Gedanken. Eines Tages wirst du besser … vielleicht. Bis dahin kannst du schon einmal das Sesamstraße-Jahrbuch wegräumen. Danach kannst du nach Hause gehen. Ich ertrage deinen Anblick heute nicht mehr länger.«
»Was denn für ein Sesamstraße-Jahrbuch?«
»Es liegt hinter dem Schalter irgendwo. Es ist nicht schwierig zu erkennen, wirklich nicht!« Ulrika Price war verärgert, und sie gab sich keine Mühe, es vor Josh zu verbergen.
»Okay, ich lege es zurück, und dann bin ich weg. Danke, Miss. Und gute Nacht.«
Ulrika antwortete nicht, sondern ging einfach weiter zur Kochbuchabteilung, während sie Ausschau hielt nach jungen Leuten, die sie entweder beraten oder des Diebstahls von Büchern beschuldigen konnte.
Josh beugte sich über den Tresen, um nach dem Sesamstraße-Jahrbuch zu suchen. Das einzige Buch jedoch, das er sehen konnte, war ein schwarzer Band auf dem unteren Teil des Schreibtischs, an dem Ulrika bei ihrem Telefongespräch gesessen hatte. Er streckte die Hand danach aus und nahm es hoch. Es war schwer und groß, und er benötigte all seine Kraft, um es in seiner ungünstigen Lage halb über dem Tresen hochzuheben. Sobald er das Buch sicher in den Händen hielt, warf er einen Blick auf den Titel. Das Buch des Todes stand dort.
Heilige Scheiße!, dachte er bei sich. Diese Sesamstraße-Jahrbücher haben sich aber auch ein ganzes Stück verändert seit meiner Kindheit.
Weil er Ulrika nicht weiter verärgern wollte, dachte er erst einmal gründlich nach, wohin er das Buch am besten stellte. Die Kinderbuchabteilung schien ihm wirklich nicht geeignet. Also wo dann?
Nachschlagewerke. Wenn du Zweifel hast, stell ein Buch in die Abteilung für Nachschlagewerke. Es war eine Regel, die ihm während seiner Zeit in der Bibliothek gute Dienste geleistet hatte. Warum jetzt etwas daran ändern? Weil er nicht mehr in der Nähe sein wollte, wenn Ulrika aus der Kochbuchabteilung zurückkehrte, eilte er zu den Nachschlagewerken, schob das Buch in eine freie Lücke im Regal und flüchtete anschließend mit wehenden Rockschößen aus der Bibliothek, um noch schnell irgendwo eine Kleinigkeit zu essen, bevor er sich auf den Weg zu seiner nächtlichen Arbeitsstelle machte.
Als Ulrika zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte, stellte sie erschrocken fest, dass das Buch des Todes verschwunden war, zusammen mit Josh. Das kam einer Katastrophe gleich. Das Buch war nicht für die Augen der Öffentlichkeit gedacht. Es war ein ganz spezielles Buch, das sie in einem Safe aufbewahrte und nur hervornahm, wenn sie die entsprechende Anweisung erhielt. Ihr Herr und Meister, der große Rameses Gaius, hatte ihr die Ehre erwiesen, Bewahrerin des mächtigsten Buches in der Geschichte der Menschheit zu sein. Und heute Abend war einer jener Abende. Er hatte sie instruiert, das Buch aus dem Safe zu nehmen und einige Namen hineinzuschreiben.
Wenn sie weiterhin seine Geliebte sein wollte und wenn sie die Unsterblichkeit und immerwährende Schönheit erlangen wollte, die er ihr als Belohnung für ihre Dienste versprochen hatte, dann musste sie das Buch finden, bevor es in die falschen Hände gelangte. Und wenn Rameses Gaius jemals herausfand, wie unvorsichtig sie gewesen war, dann, so befürchtete sie, würde ihre Zeit auf der Erde ein abruptes und sehr schmerzvolles Ende erfahren.