Dreiunddreißig
Sanchez hatte die ewig gleiche Leier satt. Kaum ein Monat verging, ohne dass er zum Polizeihauptquartier zitiert wurde, um sich die Fotos von Verbrechervisagen anzusehen, die vielleicht, vielleicht auch nicht den Bourbon Kid zeigten. In der Vergangenheit war es immer der alte, müde Cop Archie Somers gewesen, der ihm dieses Ritual aufgezwungen hatte. Die Ergebnisse waren stets die gleichen: Die Gesichter erschienen auf dem Computerbildschirm, Sanchez erkannte sie alle, und keiner unter ihnen war der Bourbon Kid.
Bei dieser Gelegenheit nun war er von Detective Hunter herbestellt worden, einem der drei Cops, die am Tag zuvor in der Tapioca Bar gewesen waren. Sanchez hatte ihm in einer Geste völlig untypischer Freundlichkeit eine Flasche von seinem »Selbstgebrannten« mitgebracht, weil der Detective das Zeug bei seinem letzten Besuch in der Bar so sehr genossen hatte. Hunter hatte die Flasche eifrig entgegengenommen und trank inzwischen häufige kleine Schlucke von der dunkelgelben Flüssigkeit. In seiner Hast, die Flasche an die Lippen zu setzen, hatte sogar sein Pullover ein paar Spritzer abbekommen.
Sanchez war nicht sicher, was ihn mehr ärgerte – dass man ihn aus seinem Laden gezerrt hatte, damit er sich noch mehr der ewig gleichen alten Verbrecherfotos ansah, oder die Tatsache, dass Hunter offensichtlich mit Genuss seine frische Pisse von diesem Morgen trank. »Hören Sie, Mann – das ist eine beschissene Zeitverschwendung, okay?«, seufzte er. Hunter ignorierte ihn und klickte mit der Maus auf ein Feld. Auf dem Bildschirm erschien ein neues Gesicht.
Der Verhörraum war ein kleines Scheißloch, um es noch gelinde auszudrücken. Es war das einstige Büro, das Archie Somers für kurze Zeit mit Miles Jensen geteilt hatte, bevor die beiden in der Nacht des Feuerwerks unter höchst ungewöhnlichen Umständen verschwunden waren. Hunter saß hinter dem Schreibtisch. Die Vorhänge waren zugezogen, so dass der maximale Verhöreffekt entstand. Sein Computerbildschirm war herumgedreht, so dass Sanchez, der ihm gegenüber und vor dem Schreibtisch saß, einen genauen Blick auf die Verbrecherfotos werfen konnte, die in einer Diashow über den Bildschirm flimmerten.
Es war offensichtlich, dass der Barmann mit den Gedanken ganz woanders weilte. Sein schmuddeliges weißes T-Shirt war mit einem einzelnen Logo verziert, dessen Botschaft direkt auf Hunter zielte. »Fuck off! – Verpiss dich!«, stand dort in großen schwarzen Buchstaben.
»Das ist Marcus das Wiesel«, sagte Sanchez mit einem flüchtigen Blick auf das jüngste Bild auf dem Schirm. »Aber er ist tot, verdammt, Mann, schon seit ungefähr einem Jahr! Du meine Güte, aktualisiert ihr denn eure Fahndungsfotos nie?«
Hunter klickte mit der Maus, und auf dem Bildschirm erschien das nächste Bild.
»Tot.«
Das nächste Bild.
»Tot.«
Und noch ein Bild. »Tot«, sagte Sanchez.
»Unsinn!«, widersprach Hunter aufgebracht. »Dieser Typ war erst letzte Woche hier!«
»Wenn Sie das sagen …« Sanchez zuckte die Schultern.
Ein weiteres Fahndungsfoto erschien.
»Tot.«
Hunter ließ die Maus los und schürzte die Lippen, während er Sanchez wütend anstarrte. »Sagen Sie zu allen ›tot‹, um mich zu ärgern?«
»Jepp.«
»Du dämliches Arschloch! Du glaubst, es macht mir Spaß, meine Zeit mit derartigem Mist zu vertändeln?«
»Hören Sie, Kumpel«, sagte Sanchez und beugte sich über den Schreibtisch nach vorn. »Sie verschwenden sowohl meine als auch Ihre Zeit. Es gibt in Ihrer Datenbank keine beschissenen Bilder vom Bourbon Kid, klar? Es hat nie welche gegeben, und es wird nie welche geben. Ich habe Ihren Leuten mehr als oft genug Beschreibungen geliefert.«
»Ich hab sie alle gesehen«, entgegnete Hunter. »Sie sind ein richtiger beschissener Komiker, wissen Sie?«
Der Detective spielte auf eine ganz besonders ärgerliche Angewohnheit von Sanchez an. Dieser hatte bei nicht weniger als fünf Gelegenheiten den Polizeizeichnern Beschreibungen geliefert und sie dahingehend manipuliert, dass sie sich selbst gemalt hatten anstatt den Bourbon Kid. Es war ein lausiger Gag, doch es war die einzige Möglichkeit für ihn, es den Kerlen heimzuzahlen, die ihn immer und immer wieder hierher ins Polizeihauptquartier schleppten. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Sind wir endlich fertig?«
»Nichts da.«
Hunter rief einen weiteren Kandidaten auf den Bildschirm. Dieser erhaschte Sanchez’ Aufmerksamkeit, und er beugte sich vor und nahm die Arme von der Brust.
»Mein Gott!«, flüsterte er. »Das ist er!«
Hunters Miene hellte sich auf. »Der Bourbon Kid?«
»Unsinn, mein Zeitungsjunge. Der Mistkerl war diese Woche dreimal zu spät dran!«
»Ah. Das reicht!«, brüllte Hunter auf. »Ich bringe dich um! Ich meine es ernst! Ich bringe dich um!« Er wollte gerade mit einem Satz über den Schreibtisch springen, als sich die Tür im Rücken des übellaunigsten Barmanns von ganz Santa Mondega bewegte. Ein Ausschnitt glitt zur Seite, und Michael De La Cruz kam herein. Er trug ein bis zum Hals zugeknöpftes, frisch gebügeltes weißes Hemd und dazu schicke, weit geschnittene schwarze Hosen.
»Und? Was gefunden?«, fragte er.
»Machst du Witze? Dieser Mistkerl ist störrisch wie die Nacht. Ein Witzbold! Er erzählt uns den letzten Scheiß.«
De La Cruz packte Sanchez bei der Schulter und drückte zu. »Du weißt, dass der Bourbon Kid irgendwann wieder in deine Bar reinschaut, wenn wir ihn nicht schnappen? Und diesmal lässt er dich vielleicht nicht am Leben. Du bist die einzige Person, die ihn gesehen hat und weiß, wie er aussieht, und rein technisch betrachtet bist du die einzige Person, die verhindern kann, dass er dich umbringt, wenn er das nächste Mal in deinen Laden kommt.«
Sanchez drehte sich zu De La Cruz um. »Soll das vielleicht Ironie sein?«, fragte er.
»Nein. Es soll keine sein. Es ist Ironie.«
»Hören Sie«, sagte der Barmann, der die Unterhaltung schon wieder leid war. »Es gibt zwei Dinge im Leben, die ich niemals sehen möchte. Und eines davon ist das Weiß in den Augen dieses Mannes. Nicht einmal auf einem beschissenen Foto, okay?«
»Schön, dann solltest du dich vielleicht ein wenig kooperativer verhalten«, schlug De La Cruz vor. »Zu deinem eigenen wie auch unserem Nutzen, okay?«
»Okay.«
»Du hast also gesagt, es gibt zwei Dinge, die du nie im Leben sehen möchtest. Richtig?«
»Richtig.«
»Und was ist das zweite?«
»Wie man Fleischkuchen macht.«
De La Cruz versetzte Sanchez einen Schlag gegen den Hinterkopf. »Nichtsnutziges Arschloch.«
»Darf ich ihn erledigen?«, fragte Hunter.
»Die Versuchung ist groß, keine Frage. Aber wir haben größere Probleme. Es hat einen Zwischenfall gegeben.«
»Einen Zwischenfall?«
»Ja. Du kennst Dr. Molands Irrenanstalt am Stadtrand, oder? Den Laden, wo Igor und MC Pedro den Bruder vom Bourbon Kid entführt haben?«
»Jepp.«
»Der Bourbon Kid hat einen Bruder?«, rief Sanchez dazwischen. »Sie nehmen mich auf den Arm, oder? Das kann nur ein Witz sein! Wer ist es?«
»Das geht dich einen Scheißdreck an!«, schnappte Hunter.
Sanchez war noch nicht fertig mit seinen Fragen. »Ist das der Typ, den ihr und die Werwölfe gestern Nacht erledigt habt, nachdem ihr sein Blut aus dem Heiligen Gral getrunken habt?«
Die beiden Officer starrten ihn an.
»Woher zum Teufel weißt du davon?«, fragte Hunter.
»Ich weiß es nicht. Es ist nur ein Gerücht. Genau genommen ein Gerücht, das ich selbst noch gar nicht gehört habe. Vergessen Sie, was ich gesagt habe, okay?«
»Weißt du was?«, sagte Hunter. »Diese vorlaute Zunge in deinem Mund wird dich eines Tages in Schwierigkeiten bringen, aus denen du dich nicht mehr so einfach herauswinden kannst.«
»Wenigstens weiß meine Zunge, wie richtiger Whiskey schmeckt.«
»Was zum Teufel soll das nun schon wieder heißen?«
De La Cruz hatte genug von dem Gezänk. »Könnt ihr beide mal eine verdammte Minute lang die Schnauze halten!«, schimpfte er. »Ihr wollt doch hören, was in diesem Sanatorium passiert ist, oder nicht?«
»Sicher. ’tschuldigung«, brummte Hunter. »Erzähl weiter.«
»Der Laden ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Gestern Nacht.«
»Was?«
»Bis auf die Grundmauern. Die Feuerwehr hat einhundertfünfundzwanzig verkohlte Leichen gefunden.«
»Scheiße.« Hunter schüttelte den Kopf. »Diese verdammten Werwölfe. Warum haben sie die Bude angesteckt?«
»Irrtum«, sagte De La Cruz und winkte ab. »Es waren nicht die Werwölfe. Sie haben den Laden so verlassen, wie sie ihn vorgefunden haben. Nein, das Feuer ist in den frühen Morgenstunden ausgebrochen. Lange nachdem MC Pedro und Igor wieder weg waren.«
»Dann war es ein Unfall oder was?«
»Nichts da. Das war kein Unfall.«
»Wie viele Überlebende?«
»Nicht ein einziger.«
»Nicht ein einziger?«
»Nicht ein einziger.«
Sanchez saß zwischen den beiden Detectives und lauschte aufmerksam. Informationen aus erster Hand – eine absolute Rarität. Und De La Cruz sah aus, als hätte er noch eine ganze Menge Informationen mehr.
»Nicht ein einziger Überlebender. Und willst du auch wissen, warum?«
»Sämtliche Feuertreppen waren komplett blockiert?«, mutmaßte Hunter.
»Nein.«
»Du willst mir erzählen, dass alle hundertfünfundzwanzig Leute in der Irrenanstalt bei lebendigem Leib verbrannt sind, als der Laden in Flammen aufgegangen ist? Nicht ein einziger Überlebender?«
De La Cruz schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht bei lebendigem Leib. Es war eine Feuerbestattung.«
»Hä? Ich verstehe nicht.«
»Sämtliche hundertfünfundzwanzig Personen waren bereits tot, als das Feuer ausbrach.«
Hunter zuckte in seinem Stuhl zusammen. »Was zur Hölle … Wie denn das?«
»Dreimal darfst du raten.«
Der südafrikanische Detective mit dem schütteren Haar runzelte ein paar Sekunden lang die Stirn, bevor er antwortete. »Eine undichte Gasleitung.«
»Schon mal gehört, dass eine undichte Gasleitung jemandem die Augen ausgestochen hätte? Die Kniescheiben weggeschossen? Den Kehlkopf herausgerissen? Oder ihn enthauptet?«
»Was?«
»Du hast mich genau verstanden.«
Hunters Unterkiefer sank herab. »Soll das heißen, dass irgendjemand diese Leute vorher umgebracht hat? Alle hundertfünfundzwanzig? Und danach erst das Gebäude angesteckt?«
Sanchez räusperte sich, bis er die Aufmerksamkeit der beiden Detectives hatte, dann zeigte er auf das Bild des Zeitungsjungen auf dem Computerschirm. »Er ist es jedenfalls auch nicht«, sagte er.
De La Cruz versetzte ihm einen Schlag an den Hinterkopf und wandte sich wieder seinem Kollegen zu.
»Hunter, es war der Bourbon Kid. Keine Frage. Es ist seine Handschrift.«
»Sicher, aber warum? Keiner der Leute in diesem Sanatorium hat ihm etwas getan. Außer vielleicht den Sicherheitsleuten, die Igor und Pedro durchgelassen haben. Das ist ein sinnloses Blutbad an hundertfünfundzwanzig unschuldigen Leuten. Was für einen Sinn soll das haben, verdammt noch mal!«
De La Cruz zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Wer weiß schon, wie dieser Typ tickt und warum er was macht?«
»Ich weiß es«, sagte Sanchez.
«Was?», fragte De La Cruz.
»Ich weiß, warum er all diese Leute erledigt hat. Und ich weiß auch, warum er so brutal und erbarmungslos vorgegangen ist.«
»Dieser Typ ist ein beschissener Clown!«, sagte Hunter. »Los, Sanchez, lass deinen dämlichen Witz vom Stapel und dann mach, dass du verschwindest. Warum hat der Bourbon Kid diesmal wieder alle umgebracht, eh? Na komm schon, lass uns deine Pointe hören.«
»Es gibt keine Pointe«, erwiderte Sanchez. »Es ist blutiger Ernst. Sie wollen wissen, warum er all die unschuldigen Leute umgebracht hat, richtig? Und Sie wollen wissen, warum er all die unschuldigen Leute auf die unterschiedlichste Weise gefoltert hat, bevor sie starben? Oder nicht?«
»Los, rede weiter.« De La Cruz interessierte sich eindeutig mehr für Sanchez’ Antwort als Hunter. Und damit lag er vollkommen richtig, denn ausnahmsweise machte Sanchez einmal keine dämlichen Witze.
Der Barmann erhob sich und nahm die schmutzig braune Wildlederjacke von der Lehne des Stuhls, auf dem er gesessen hatte. Er begann sie anzuziehen, während die beiden Detectives auf seine Antwort warteten. Nachdem er fertig war und bereit zu gehen, redete er schließlich.
»Er hat diese Leute umgebracht, weil er eine Aussage machen wollte. Und diese Aussage lautet folgendermaßen: Der größte lebende Massenmörder braucht kein Motiv, um Leute umzubringen. Er tut es aus reinem Spaß. Aber ihr Typen – ihr habt seinen Bruder umgebracht und ihm ein Motiv geliefert. Ich schätze, er will sagen, dass ihr schlimmer leiden werdet als diese hundertfünfundzwanzig unschuldigen Leutchen, die überhaupt nichts gemacht haben, um ihn zu ärgern, absolut nichts.« Sanchez schob sich auf dem Weg zur Tür um De La Cruz herum. »Ich schätze, ich verschwinde für eine Weile aus der Stadt und mache ein paar Einkäufe«, grinste er.
»Hey! Warte, einen gottverdammten Moment noch!«, brüllte Hunter von seinem Platz hinter dem Schreibtisch. »Wie kommt es, dass er dich in Ruhe lässt, eh? Warum bringt er dich nicht um? Du bist diesem Typen schon zweimal begegnet und hast beide Male überlebt. Was bist du? Seid ihr vielleicht Freunde oder was?«
Sanchez blieb stehen, während er über das nachdachte, was Hunter ihn gefragt hatte. Beide Officer warteten auf seine Antwort.
»Ah, wissen Sie«, sagte Sanchez nach kurzem Überlegen. »Der Grund, warum ich noch am Leben bin? Ich überspanne den Bogen nicht bei ihm, das ist alles.«
Hunter winkte geringschätzig ab. »Was für ein Quatsch! Den Bogen nicht überspannen? Du weißt ja nicht einmal, was das bedeutet!«, schnarrte er.
»Ich weiß ganz genau, was es bedeutet, zumindest beim Bourbon Kid«, antwortete der Barmann leise.
»Aha? Und was?«
»Am besten, Sie drehen sich einfach um und werfen einen Blick hinter sich.«