Eins

Samstag, 2. Juli

St. John’s Wood

Die Freiheiten, die man als Junge genoss, so überlegte Mary, waren zahlreich. Sie konnte beim Gehen die Arme pendeln lassen. Sie konnte rennen, wenn sie das wollte. Sie sah anständig genug aus, um bei der Polizei kein Misstrauen zu erregen, und schäbig genug, um auch sonst niemandem aufzufallen. Dazu kam das alte Gefühl der Leichtigkeit, das man verspürte, wenn man die Haare kurz geschnitten trug; es war ihr gar nicht aufgefallen, wie schwer ihr eigenes Haar war, bis sie es abgeschnitten hatte. Ihr Busen war fest umwickelt, und wenn das auch etwas unangenehm war, so konnte sie sich im Gegenzug ganz ohne Scham kratzen. Sich in aller Öffentlichkeit zu kratzen war eine der Jungs-Freiheiten, die sie genießen sollte, solange es ging. Deshalb war es eigentlich schade, dass sie die Situation nicht mehr genoss. Jungenkleider zu tragen war bequem und machte Spaß und während ihres ersten Einsatzes hatte sie ihre Ausflüge in Hosen sehr genossen. Aber das hier – heute – war eine ganz andere Situation. Eine ernste Angelegenheit, und sie wusste immer noch nicht, worum es ging.

Ihre Anweisungen waren einfach genug: sich als zwölfjähriger Junge zu verkleiden und um drei Uhr nachmittags zu einem Treffen in der Agentur zu erscheinen. Sie hatte keine weitere Erklärung erhalten, und inzwischen war Mary zu klug, um nachzufragen. Anne und Felicity gaben nur exakt so viel Information preis, wie sie für nötig hielten. Obwohl Mary das wusste, hatte sie das nicht davon abgehalten, den gestrigen Tag, die Nacht über und den ganzen Vormittag darüber nachzugrübeln, was sie wohl erwartete. Im vergangenen Jahr hatte sie mit Freude ihr Training absolviert: Tests, Lektionen sowie kleine Einsätze, die einen Vorgeschmack auf ihr zukünftiges Leben boten. Aber am heutigen Morgen empfand sie wenig Freude. Was wollten Anne und Felicity von ihr? Und was für ein Einsatz war wohl mit dieser Verkleidung verbunden?

Die Agentur war von Frauen gegründet worden und beschäftigte nur Frauen. Der geniale Gedanke dahinter lag darin, sich allgemeine Vorurteile über Frauen zunutze zu machen. Die Geheimagentinnen verkleideten sich als Hausangestellte, Erzieherinnen, Sekretärinnen, Gesellschafterinnen … kurz, als Leute ohne Macht und Einfluss. Auch in den gefährlichsten Situationen kamen die wenigsten Menschen auf die Idee, eine Frau in untergeordneter Stellung könnte intelligent und aufmerksam oder gar eine professionelle Spionin sein. Angesichts dieser Leitlinien der Agentur kam es Mary besonders absurd vor, als Junge verkleidet zu sein.

Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, hielt jedoch mittendrin inne: Das war eine typische Mädchengeste. Und das Einzige, das schlimmer war, als ihren Auftrag nicht zu verstehen, war, ihn auch noch schlecht auszuführen. Während sie sich der Acacia Road, dem Sitz der Agentur, näherte, presste Mary die Lippen aufeinander und holte ein paarmal tief Luft. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre noch ein letztes Mal um den Regent’s Park gelaufen, um ein wenig mehr Zeit zu haben und die Sache noch einmal zu durchdenken. Dabei lief sie schon seit zwei Stunden in St. John’s Wood durch die Gegend! Als ob körperliche Bewegung ihr Gemüt und ihre Nerven hätten beruhigen können! Als ob sie überhaupt in der Verfassung wäre, um die verwirrenden Gefühle, die sie bedrückten, zu ordnen.

Es war an der Zeit zu handeln, statt zu grübeln. Mit ein paar raschen Schritten erreichte sie das Haus mit seinem schmiedeeisernen Tor und dem polierten Schild aus Messing: MISS SCRIMSHAWS MÄDCHEN-Institut. Das Institut war schon seit Jahren ihr Zuhause. Aber heute zwang sie sich, das Haus so zu betrachten, wie es ein Fremder wohl getan hätte; vor allem ein zwölfjähriger Junge. Das Haus war groß und in gutem Zustand, hatte einen gepflegten Garten, durch den ein Plattenweg lief. Anders als bei den Nachbarhäusern waren die Stufen allerdings nur gefegt und nicht weiß getüncht. Dass sich die Akademie diesem Brauch – aller Welt zu zeigen, dass man Bedienstete hatte, die man damit beschäftigte, die Stufen neu zu weißeln, sobald sie von einem Besucher mit Fußabdrücken beschmutzt worden waren – nicht anschloss, war das einzige Zeichen für die andersartige und ungewöhnliche Institution, die dort ansässig war.

Plötzlich flog die Tür auf und spuckte zwei Mädchen aus – oder besser, zwei junge Damen. Sie waren adrett gekleidet, nicht allzu modisch, aber auch keineswegs ärmlich. Sie unterhielten sich angeregt. Und sie sahen Mary neugierig an, die immer noch vor dem geschlossenen Eisentor stand.

»Hast du dich verlaufen?«, fragte die Größere der beiden, als sie auf das Tor zukamen.

Mary schüttelte den Kopf. »Nein, Miss.« Ihre Stimme kam höher heraus, als ihr lieb war, und hastig räusperte sie sich. »Man hat mich herbestellt.«

Ein leichtes Runzeln kräuselte die Stirn der Mädchen. »Wer hat dich herbestellt?«

»Ich meine, ich soll einen Brief abliefern.«

Das Mädchen streckte die Hand aus. »Den kannst du mir geben.«

Wieder schüttelte Mary den Kopf. »Geht nich, Miss. Hab den Auftrag, ihn Mrs Frame zu geben und keinem anderen. Ist das hier, wo sie wohnt?« Den ganzen Morgen hatte sie diesen speziellen Tonfall geübt und gleichzeitig versucht, etwas tiefer zu sprechen.

Das Mädchen sah sie hoheitsvoll an. »Du kannst mir ruhig vertrauen; ich bin Schülersprecherin an dieser Akademie.«

Mary wusste genau, wer Alice Fernie war. Schülersprecherin der Akademie, ha! Sie war nur Sprecherin ihrer Klasse. »Geht nich, Miss. Befehl.«

Das Gesicht der Schülersprecherin verzog sich zu einem finsteren Drohen, doch ehe sie wieder etwas sagen konnte, mischte sich ihre Begleiterin ein: »Lass doch, Alice. Wir kommen noch zu spät, wenn wir hier rumstehen und mit ihm streiten.«

»Ich streite doch nicht, ich sage nur –«

Das zweite Mädchen klinkte das Tor auf und nickte Mary freundlich zu. »Geh ruhig rein.«

Mary zog respektvoll ihre Kappe, schlüpfte an den beiden Mädchen vorbei und ließ die finster blickende Alice stehen. Während sie auf den Seiteneingang zusteuerte – die Haustür kam für einen bescheiden gekleideten Botenjungen nicht infrage –, grinste sie übers ganze Gesicht. Alice Fernie und Martha Mason waren auf ihre Verkleidung hereingefallen. Das war doch ein guter Anfang.

Ihr kleines Polster an Zuversicht schwand jedoch, als sie die vertrauten Gänge entlangging und ihre schweren Stiefel auf den Läufern scharrten. Zwei Schulmädchen zu täuschen, war eine Sache, den Leiterinnen der Agentur gegenüberzutreten, eine ganz andere. Als sie sich der schweren Eichentür von Anne Treleavens Büro näherte, zog sich ihr Magen zusammen und ihr wurde etwas schwummerig. Sie war zu aufgedreht gewesen, um etwas zu frühstücken. Und auch, um gestern zu Abend zu essen.

Als sie die Hand hob, um anzuklopfen, fiel ihr wieder ein, dass sie vor etwas mehr als einem Jahr genau das Gleiche getan und sich genauso gefühlt hatte. Damals hatte sie von der Existenz der Agentur erfahren und mit der Ausbildung zur Geheimagentin begonnen. Und nun stand sie wieder hier und fühlte sich genauso verwirrt und beklommen wie damals. Die Erinnerung machte ihr Mut. Sie war nicht mehr das gleiche Mädchen, das sie letzten Frühling gewesen war – unerfahren, hitzköpfig, ohne Ausbildung. Während des letzten Jahres hatte sie so viel gelernt. Aber es waren nicht die körperlichen Fähigkeiten – Fingerfertigkeit, Verkleidungskunst, Kampftechnik. Es war ihr besseres Verständnis der Menschen, des kalkulierten Risikos, das bewies, wie sie sich verändert hatte – und was sie noch alles lernen musste. Und das verdankte sie alles diesen Frauen. Sie vertraute ihnen. Und das Vertrauen würde die Angst in ihrem Magen besiegen.

Irgendwie.

***

»Sie hätten den Auftrag nicht annehmen dürfen, Mrs Frame.«

Felicity Frames selbstsicheres Lächeln wankte nicht. »Der Auftrag ist exzellent: interessant, lukrativ, und außerdem macht er diejenigen, die in Westminster das Sagen haben, auf uns aufmerksam. Wenn sie unsere Arbeit an diesem Fall zur Kenntnis nehmen, könnte es der Beginn einer ganz neuen Ära für die Agentur sein.«

Anne Treleaven bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. »Solche vollmundigen Behauptungen ändern nichts an der Tatsache, dass Sie sich unangemessen verhalten haben. Nie zuvor haben wir einen Auftrag angenommen, ohne gemeinsam zu entscheiden.«

»Ich hatte keine Zeit, Sie zurate zu ziehen; ich musste schnell handeln, um uns den Kunden zu sichern.« Felicity verstummte und sah Anne eindringlich an. »Sie sind immer noch ungehalten.«

»Ich bin nicht ›ungehalten‹.« Annes Stimme bebte vor unterdrückter Spannung. »Aber mich versetzen sowohl Ihr Handeln als auch Ihr Plan bezüglich der Durchführung dieser Aufgabe in Sorge.«

Felicity wirkte plötzlich erschöpft. »Sagen Sie bloß nicht –«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie. Vier zögernde kurze Klopfzeichen, um genau zu sein.

Felicity warf Anne einen Blick zu. »Erwarten Sie jemanden?«

»Nein.« Die Uhr auf Annes Schreibtisch zeigte an, dass es kurz vor elf war. »Herein.«

Die Tür öffnete sich. Dort stand ein schmaler, etwas ungepflegter Junge. Er trug saubere, doch überall geflickte Kleider, eine Kappe mit rundem Schild und ungeputzte Schuhe, die bei seinem Herantreten auf dem Dielenboden laut polterten.

Anne runzelte die Stirn. »Wer bist du?«

Der Junge zog langsam seine Kappe und klemmte sie zwischen Ellbogen und Rippen. Sein Haar war dunkel und schlecht geschnitten. »Mark, Ma’am.« Er zögerte, dann grinste er schief. »Mark Quinn.«

Anne fiel der Unterkiefer herunter.

Felicity ließ ein merkwürdig hohes Quieken vernehmen.

Nach ihrer anfänglichen Starre sprang Anne auf und packte Mary an den Schultern. »Nun sieh dir das mal an! Ich kann nicht – du – wie –?«

Mary grinste und drehte sich ganz unjungenhaft im Kreis. Noch nie hatte sie Anne um Worte ringen hören.

Felicity trat ebenfalls hinzu, um sie genau anzusehen. »Dreh dich noch mal.«

Anne beruhigte sich rasch. »Wirklich, meine Liebe«, sagte sie bewundernd, »du gibst ja einen reizenden Burschen ab.«

»Hast du dir die Haare selbst geschnitten?«, wollte Felicity wissen.

»Ja, Mrs Frame.«

Zurückhaltende Befriedigung zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Eine ziemlich drastische Maßnahme, findest du nicht?«

»Ich habe angenommen, dass Sie mir nur wegen einer ernsten Angelegenheit auftragen, mich als Junge zu verkleiden.«

»Absolut richtig.«

»Wir hatten ausgemacht, dich am Nachmittag zu empfangen«, sagte Anne. »Ich nehme an, dass du einen Grund hast, früher zu erscheinen?«

Mary nickte. »Ich fand, dass man so die Verkleidung besser testen könnte.«

»Ein gut durchdachter Entschluss.«

»Danke, Miss Treleaven.« Mary errötete über das verhaltene Lob. Anne war nie überschwänglich in ihren Komplimenten, daher bedeutete Mary so eine maßvolle Zustimmung schon viel.

»Da du nun schon mal hier bist, können wir unsere Besprechung auch gleich abhalten«, sagte Felicity mit offensichtlicher Genugtuung. »Es sei denn, Sie haben einen Einwand, Miss Treleaven …?«

Ein Blickwechsel, den Mary nicht entschlüsseln konnte, zuckte zwischen den beiden Akademieleiterinnen auf. Es folgte ein längeres Schweigen, das schließlich von Anne gebrochen wurde. »Fangen Sie doch an, Mrs Frame.«

Felicity lächelte und reichte Mary eine farbig gedruckte Zeitung. »Am besten, wir beginnen damit.«

 

THE EYE ON LONDON

Freitag, 1. Juli 1859

 

DER FLUCH DES UHRENTURMS! Hat der Geist des Parlamentsgebäudes erneut zugeschlagen?

 

Gestern Abend zu später Stunde hat sich vor dem Parlamentsgebäude erneut eine Tragödie ereignet: Zimmermeister John Wick aus Lambeth, 32 Jahre, stürzte von der Spitze des zum Parlamentsgebäude gehörigen St. Stephen’s Turmes, besser bekannt unter dem Namen Big Ben. Ungeklärt ist, wie es dazu kam, dass er von dem 100 Meter hohen Turm fiel, der sich noch im Bau befindet. Die Polizei gibt keine Auskunft darüber, ob der Tod ein Unfall war, aber das Baugelände wurde diesen Morgen abgesperrt und bleibt es wohl auch bis zum Abend. Bei ihrer grausigen Arbeit wurden die Polizeibeamten von einer großen Zahl Bauarbeitern und anderen Handwerkern beobachtet.

Mrs Betty Hawden, die eine kleine Kaffeestube gegenüber des Parlaments betreibt, wurde Zeugin, als die Leiche des Unglückseligen am frühen Morgen abtransportiert wurde. »Es war schrecklich, einfach fürchterlich«, sagte sie, auch Stunden später noch immer ganz erschüttert. »Sein armer zerschmetterter Körper … und der Ausdruck auf seinem Gesicht!« Wegen der günstigen Lage in der Nachbarschaft des Baugeländes trafen sich in Mrs Hawdens Kaffeestube viele der Arbeitskollegen und Bekannten des Toten, um »das Neueste« zu hören. Dabei ging es fast ausschließlich um ein Thema, das von offizieller Seite hartnäckig geleugnet wird, das The Eye on London aber zu verfolgen verspricht – DEN FLUCH DES UHRENTURMS.

 

Es folgten mehrere Bilder, die Kampf, Blut und Schrecken darstellten und nur oberflächlich mit dem Artikel in Zusammenhang standen.

Mary schüttelte den Kopf und sah Anne und Felicity an. »Ich muss wohl den falschen Artikel gelesen haben«, sagte sie. »Haben Sie wirklich den über den Geist vom Parlamentsgebäude gemeint?«

Anne nickte.

Mary überflog die Bilder rasch noch einmal und schüttelte wieder den Kopf. »Tut mir leid, ich verstehe nicht, was das alles mit der Agentur zu tun haben könnte. Oder offen gesagt, warum wir dieses Skandalblatt überhaupt ansehen.« Ihre Fingerspitzen waren bereits schwarz von der billigen Druckerschwärze.

Felicity neigte den Kopf zur Seite. »Du meinst, dass wir aus der Skandalpresse nicht lernen können?«

»Also, zumindest keine Fakten«, sagte Mary. »Kann sein, dass der Blickwinkel, den sie bietet, nützlich ist: Irgendjemand irgendwo in London glaubt vielleicht an den Geist im Uhrenturm. Aber wir wissen es doch besser.« Sie sah ihre beiden Arbeitgeberinnen fragend an. »Nicht wahr?«

Felicity grinste übers ganze Gesicht und entblößte dabei undamenhaft die Zähne. »Das meine ich auch. Aber diese Nachrichtenmeldung hat auf jeden Fall etwas mit der Agentur zu tun, und ganz besonders mit dir.«

Wenn sie mit Felicity allein gewesen wäre, hätte Mary riskiert, einen Scherz über eine Agentur zur Überwachung übernatürlicher Phänomene zu machen. Aber Annes Anwesenheit verbot ihr das. Daher sagte sie nur: »Erzählen Sie mir mehr.«

»Lassen wir die Frage nach dem Geist mal außer Acht«, begann Felicity, »aber vor zwei Nächten ist es im St. Stephen’s Turm zu einem verdächtigen Todesfall gekommen. Der Unfall ereignete sich trotz der Anwesenheit von Wachleuten vorm Parlament. Und der Todesfall fand nach Arbeitsschluss statt, was einen doch auf jeden Fall aufhorchen lässt.«

Mary schluckte. Sie hatte wohl zu voreilig angenommen, dass die ganze Geschichte erfunden war, mitsamt Leiche und allem Drum und Dran. »Der Tod des Zimmermanns – dieser Mr Wick – beschäftigt also die Polizei?«

»Mr Wick war Maurer, nicht Zimmermann, erwartungsgemäß strotzt der Artikel vor Fehlern.« Felicity verzog amüsiert die vollen Lippen. »Aber sein Tod muss aufgeklärt werden. Das ist natürlich normalerweise die Aufgabe der Polizei. Scotland Yard hat das Gelände in Augenschein genommen und keine aussagekräftigen Hinweise gefunden. Zeugen haben sich auch nicht gemeldet. Am Mittwoch findet eine gerichtliche Untersuchung statt, aber wenn keine weiteren Beweise auftauchen, wird das Gerichtsurteil auf Tod durch ein Missgeschick hinauslaufen.«

Missgeschick. Was für eine gezierte, alberne Art, um ›grausiger Unfall‹ zu umschreiben.

»Und die Agentur …?«, fragte Mary. Die Sache wurde allmählich klarer, aber nachdem sie schon einmal voreilige Schlüsse gezogen hatte, zögerte sie jetzt, weitere Vermutungen anzustellen.

»Wir sind vom leitenden Beauftragten des Parlamentsausschusses für die Bauarbeiten gebeten worden, in zwei miteinander verknüpften Richtungen zu recherchieren: Zunächst sollen wir alles Gerede oder mögliche Unruhe bezüglich Mr Wicks Tod verfolgen. Wir können auf Informationen stoßen, die Scotland Yard verborgen bleiben, einfach deshalb, weil wir in inoffizieller Funktion vor Ort sein können.«

Marys Haut kribbelte bei dem Wort »wir«. Es bestand die Aussicht, dass sie in etwas mehr als sechs Monaten ein vollwertiges Mitglied der Agentur wurde.

Wenn sie fleißig arbeitete.

Wenn sie sich weiter verbesserte.

Wenn Anne und Felicity zustimmten.

»Was die zweite Seite angeht: Der neue Beauftragte des parlamentarischen Arbeitsausschusses macht sich Sorgen über die hohe Unfallrate auf dem Baugelände, verbunden mit der Tatsache, dass sich der Bau des Turmes stark verzögert hat. Hier liegt der Kern der hysterischen Spekulationen über »Geister« und einen »Fluch« in dem Skandalblatt: Offensichtlich wird von einigen behauptet, dass ein Mann, der in dem Feuer, bei dem die Parlamentsgebäude von 1834 abbrannten, umkam, als Geist auf der Baustelle herumspukt. Das hat anscheinend zu fatalen Folgen für die Arbeitsmoral auf der Baustelle geführt.

Der Abgeordnete sieht sich natürlich außerstande, dieser Sache formell nachzugehen. Niemand würde bei einer Befragung zugeben, dass er an den Geist glaubt. Daher meint der Abgeordnete, dass es nützlich sein könnte, jemanden gewissermaßen ›vor Ort‹ zu haben. Vielleicht steckt der Glaube an den Geist hinter den Verzögerungen. Oder die Männer sind nicht in der Lage zu arbeiten; vielleicht sind die Sicherheitsvorkehrungen mangelhaft, und die Vorarbeiter dulden das stillschweigend; vielleicht …« Felicity machte eine vielsagende Geste. »Viele Aspekte kommen infrage.«

»Und unsere Kenntnis vom Baugewerbe ist begrenzt«, sagte Anne. »Daher war ich höchst erstaunt, als der Abgeordnete die Agentur ansprach.«

Mary erschrak. »Er hat nicht gewusst …?«

Felicity schüttelte den Kopf. »Nein. Die Tatsache, dass wir eine rein weibliche Agentur sind, ist immer noch streng geheim.«

»Das habe ich mich schon immer gefragt, Mrs Frame: Wie gelingt es Ihnen, diese Tatsache geheim zu halten, wenn Sie sich mit Klienten treffen?«, fragte Mary schüchtern. Felicity war normalerweise mitteilsamer als Anne, aber diese Frage war vielleicht doch zu neugierig.

Wieder grinste Felicity. »Auf verschiedene Weise. In vielen Fällen korrespondieren wir per Post; bei persönlichen Begegnungen treten Anne oder ich bisweilen in der Rolle als Angestellte oder Sekretärinnen auf, die die Agentur vertreten; und wenn es nötig ist, kann ich auch einen sehr überzeugenden Mann abgeben.«

Mary unterdrückte einen erstaunten Ausruf. Felicity war groß und kurvenreich und hatte ein schönes und ausgeprägt feminines Gesicht. Es überstieg Marys Vorstellungskraft, sie sich mit Krawatte und einem Bart auszumalen. Bestimmt konnte Anne Treleaven, eine magere und herb wirkende Frau Mitte dreißig, glaubwürdiger einen Mann darstellen.

»Um zum Punkt zurückzukehren«, sagte Anne. »Die Aufgabe erfordert einen Agenten, der sich unerkannt auf einer Baustelle herumdrücken kann, wobei wir uns mit den Gegebenheiten vor Ort wenig auskennen.« Sie machte eine Pause. »Wir hätten den Auftrag meiner Meinung nach auch ablehnen können …« Sie warf Felicity einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Haben wir aber nicht«, sagte Felicity bestimmt, »aus mehreren exzellenten Gründen, die ich jetzt nicht aufzählen will. Die Sache ist die: Kein gestandener Mann kann auf einer Baustelle arbeiten, ohne ein Handwerk zu beherrschen oder ohne grundlegende Erfahrung. Und es würde außergewöhnlich schwierig sein für eine gestandene Frau – für mich zum Beispiel –, sich als jugendlicher Lehrling einzuschmuggeln.« Aus Felicitys Stimme klang Bedauern.

»Die Agentur kennt sich in ausschließlich männlichen Berufsbereichen nicht aus«, sagte Anne schlicht. Wieder flackerte eine gewisse Spannung zwischen den beiden Leiterinnen auf.

Felicity beugte sich vor. »Uns bleiben zwei Möglichkeiten: eine Agentin in der Nähe der Baustelle zu postieren – zum Beispiel als Angestellte in einem nahe gelegenen Pub oder Laden oder als Imbissverkäuferin am Straßenrand; oder eine Agentin zu finden, die als relativ junger Bursche durchgeht, der seine erste Stelle als Hilfsbauarbeiter antritt.«

Mary blinzelte nervös. »Verstehe.« Was sie auch tat – vielleicht mehr, als ihr lieb war. Sie hatte so ein seltsam hohles Gefühl in der Brust, das sie besser nicht weiter ergründen wollte.

Anne beugte sich vor und nahm Mary mit unverwandtem Blick ins Visier. »Ehe Mrs Frame zu den Einzelheiten kommt, werde ich die übliche Frage stellen: Möchtest du deine Erfahrungen erweitern? Oder den Auftrag lieber ablehnen?« Es war beunruhigend, wie es Anne bisweilen gelang, Marys Gedanken so genau zu erraten. »Du kannst es dir einen Tag lang überlegen.«

Annes sanfter Ton – umso erstaunlicher, da sie sonst immer so knapp war – ließ Mary trotzig reagieren. »Nicht nötig. Ich nehme den Auftrag an.« Ihre Stimme war fast ungehalten.

Anne sah sie eindringlich an. »Bist du sicher? Ich muss dich nicht daran erinnern, dass es unklug ist, einen Auftrag anzunehmen, auf den man sich nicht voll und ganz einlassen kann, körperlich und seelisch.« Sie legte eine unmerkliche Betonung auf das letzte Wort. »Wenn du –«

»Ich bin einverstanden«, fiel ihr Mary zum ersten Mal, seit sie sie kannte, ins Wort. In der Vergangenheit hatte sie immer viel zu viel Ehrfurcht gehabt, um so unhöflich zu sein. »Bitte – sagen Sie mir, was dieser Auftrag mit sich bringt. Ich tue alles, was Sie wollen.«

Es folgte ein kurzes Schweigen und Anne und Felicity tauschten einen raschen Blick. Mary umklammerte den Rand ihres hölzernen Stuhls und zwang sich, das bedrängende Gefühl in ihrer Brust auszublenden.

Schließlich begann Felicity mit einem Räuspern: »Du verkleidest dich als elf- oder zwölfjähriger Junge, der seine erste Stelle auf dem Bau antritt. In diesem Alter wird man dir verzeihen, dass du keine Erfahrung besitzt. Deine Aufgabe ist es, Informationen einzuholen, die sich auf den Tod von Mr Wick beziehen oder die auf mögliche Gründe für Zwischenfälle und Verzögerungen auf der Baustelle hindeuten. Das schließt auch eine Untersuchung der Geistergerüchte ein.

Du fängst an, indem du die Männer und Jungen ausfragst und einfach die Ohren spitzt. Der zuständige Bauingenieur vor Ort, ein Mr Harkness, erstattet dem Beauftragten bereits direkt Bericht, und sein Schriftverkehr geht an den Arbeitsausschuss weiter. Alles, was du herausfindest, wird inoffiziell sein. Deine Erkenntnisse bestimmen dann natürlich, wie du weiter verfährst. Wie du sehen kannst, ist es eine Aufgabe mit offenem Ende, die auf ganz konventionelle Weise beginnt.« Felicity machte eine Pause, doch als Mary nicht sofort antwortete, fuhr sie eilig fort: »Du hast ja schon bewiesen, dass du als Junge durchgehst, und ich werde dir noch die Feinheiten beibringen. Wie du weißt, ist es vor allem eine Sache der Haltung und der Bewegungen, nicht der Verkleidung. Du bist jung und schlank und kräftig, es besteht also schon eine Grundanlage, und viele Jungen sind in dem Alter noch nicht im Stimmbruch.«

Mary nickte. Ihre Finger waren inzwischen ganz kalt und seltsam taub. Felicity war immer überzeugend – ein Trick ihrer Stimme, nicht so sehr ihrer Worte –, und Mary hasste es, andere zu enttäuschen. »Also gut«, sagte sie. »Wann muss ich anfangen?«

Anne kräuselte leicht die Stirn, vielleicht wegen ihrer Ausdrucksweise. »Es müssen noch ein paar Vorbereitungen getroffen werden – zum Beispiel muss sichergestellt werden, dass es auf der Baustelle eine Stelle für dich gibt. Mr Harkness wird zwar als verlässlich erachtet, doch er soll nicht in deine wahre Identität eingeweiht werden. Dazu kommt die Zeit, die wir für deine Unterweisung in die Rolle benötigen … Ich würde sagen, dass du nicht vor Mittwoch oder Donnerstag anfangen kannst.«

Felicity presste die Lippen zusammen. »Zu spät, denke ich. Idealerweise fängst du Montag an.«

Mary nickte. »In Ordnung.«

»Melde dich morgen nach dem Mittagessen hier bei uns«, sagte Felicity. Sie nickte Mary kurz zu und warf Anne einen Blick zu. Das Treffen war beendet und Mary war entlassen.

Sie erhob sich unbeholfen und zerknüllte die Zeitung in ihrer Hand wie mechanisch. »Danke.« Wofür sie sich bedankte – sie hatte keine Ahnung.