Neunundzwanzig

Es war ein langsamer, quälender Aufstieg – viel schlimmer als der letzte. Obwohl James sich dankbar auf sie stützte, blieben sie zunächst immer nach zwanzig Stufen stehen, danach alle zwölf, schließlich alle paar Stufen. Er war kurzatmig und wackelig auf den Beinen und sein blasses Aussehen konnte nicht allein von dem trüben Schein der Gaslampen herrühren. Nach dem ersten Drittel ließ er sich auf den kühlen Steinboden sinken und blieb dort mehrere Minuten sitzen.

»James.«

»Gleich.« Er kramte in seiner Brusttasche und zog eine flache Pergamenttüte heraus. Er neigte den Kopf zurück, schüttete den Inhalt – irgendein Pulver – in den Mund, schluckte es und verzog das Gesicht. »Bah. So, jetzt. Was ist?«

Sie starrte die Papiertüte an. »Was – was zum Teufel war das?«

»Weidenrindenpulver natürlich. Was hast du denn gedacht?« Ein amüsiertes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Irgendein gefährliches Gift, das ich von meinen Reisen in den fernen Osten mitgebracht habe?« Er grinste. »Pulverisiertes Opium? Das dämonische Zeug, das mir Jugend und Schönheit raubt?«

»Hör mal«, sagte sie streng, »wir verlieren Zeit. Ich gehe schon mal voraus und schaue nach, was da los ist.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir gehen zusammen.«

»Das dauert noch eine Stunde, wenn nicht zwei. So lange können wir nicht warten. Keenan ist schon im Glockenstuhl und ich möchte ihm nicht auf seinem Rückweg begegnen.«

Er stand auf, etwas unsicher, aber mit mehr Energie als bei seiner Ankunft auf der Baustelle. »So lange brauche ich nicht. Es geht mir schon viel besser.«

Sie sah ihn misstrauisch an. »Du siehst nicht mehr ganz so fürchterlich aus, das stimmt.«

»Immer noch nicht gelernt zu schmeicheln.«

»Weidenrinde würde niemals so eine Wirkung haben. Vor allem nicht so schnell. Sie lindert nur Schmerz und senkt Fieber.«

Er zuckte die Schultern. »Na gut, es war nicht reines Weidenrindenpulver. Aber lass uns die Zeit nicht mit Nichtigkeiten vertun. Los.«

Sie konnte ihm nichts entgegenhalten. Sie stiegen jetzt die schmaleren Treppen hinauf, immer höher in die dunstige Luft, den Sonnenuntergang, die rasch einsetzende Nacht, was sie alles nicht sehen konnten. James schien zunehmend kräftiger zu werden. Der Druck seiner Hand auf ihrer Schulter ließ nach, sein Atmen wurde ruhiger, sein Schritt schneller.

»Was war denn nun genau in dem Pulver, James?«

»Für dich immer noch ›Mr Easton‹, Mark Quinn.«

»Ach, hör doch auf, der Frage auszuweichen.«

Er seufzte. »Vor allem Weidenrindenpulver, wie ich gesagt habe. Und etwas, was ein Freund von mir in Deutschland entdeckt hat. Ein mildes, anregendes Mittel aus irgendeinem tropischen Blatt. Nichts, weswegen man sich Sorgen machen muss.«

»Kommt mir aber gar nicht milde vor. Wie viel hast du genommen?«

»Du klingst ja wie ’ne alte nörgelnde Großmutter. Genug, um das hinter uns zu bringen.«

»Und hinterher muss ich dich wohl vom Kopfsteinpflaster kratzen.«

»Ach, dafür hab ich doch Barker.«

Schweigend stiegen sie bis zum letzten Treppenabsatz, wo James ihr die Hand auf den Arm legte. »Wir sollten einen Plan machen.«

»Wir wissen ja nicht mal, was uns erwartet. Das müssen wir doch wissen, ehe wir einen Plan machen können.«

»Also, meine Theorie lautet wie folgt: Harkness und Keenan sind da oben und wickeln ihr Geschäft ab. Ich würde gern wissen, ob Harkness tatsächlich in den Diebstählen mit drinsteckt und in welchem Ausmaß. Lass uns näher rangehen und möglichst lange zuhören, ehe wir eingreifen.«

»Selbstverständlich. Aber was hast du dann vor?«

»Ihn festhalten, bis die Polizei kommt.«

»Keenan festhalten? Viel Glück.«

»Wir beide zusammen – vielleicht sogar zu dritt …«

Mary sah ihn an. Seine Augen glänzten, selbst in dem Gaslicht. Glänzten möglicherweise von dem unterdrückten Fieber – aber wohl eher von den Auswirkungen des Mittels. Er bebte vor Ungeduld und Erregung, was eigentlich ganz untypisch für James war. Auf einmal fragte sie sich, ob er tatsächlich der beständige, intelligente Verbündete war, wie sie angenommen hatte – doch dann schob sie den Zweifel beiseite. Es war einfach keine Zeit dafür. Was immer passierte oder was er tat, sie musste einfach spontan reagieren und das Beste hoffen.

Als sie die letzten paar Stufen hinaufschlichen, war Mary sehr froh, dass sie schon einmal hier oben gewesen war. Die Sonne stand jetzt sicher schon ganz tief über dem Horizont, und sie wusste nicht, wie hell der Glockenstuhl erleuchtet sein würde. Ohne eine ungefähre Vorstellung von seiner Größe und der räumlichen Aufteilung hätte sie keine Ahnung gehabt, was vor ihr lag, und fast keine Chance, ungesehen zu bleiben. Es war kein großer Vorteil, beruhigte sie jedoch etwas.

»Mary?« James war so dicht hinter ihr, dass sein Flüstern sie am Ohr kitzelte.

»Ja?«

»Mein Arzt hat mir Aufregung jeglicher Art strikt verboten.«

Sie musste fast kichern. »Halt den Mund, James.«

»Kannst du was sehen?«

»Nein, und hören auch nicht!«

Aber dann hörte sie doch etwas. Männliche Stimmen, klar und ganz in der Nähe.

»Zahlen Sie nun oder nicht? Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.«

»Ich auch nicht, Keenan.« Harkness klang seltsam ruhig. »Ich auch nicht.«

Die Stimmen waren so nah, dass sich Mary instinktiv zurückzog und an den warmen Körper von James stieß. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Falls es beruhigend gemeint war, hatte es eher den gegenteiligen Effekt: Seine Finger zitterten, und sie fragte sich erneut, was er da eingenommen hatte.

»Also, was ist?«

»Du bekommst schon, was du verdienst, Keenan. Dafür sorge ich.«

»Sie können mir nicht drohen, Harkness. Ich hab keine Angst vor Ihnen.«

»Ach wirklich! Aber jetzt kommt das Interessante: Ich habe auch keine Angst mehr vor dir.«

Es entstand eine Pause.

»Das hast du nicht erwartet, was? Was passiert, wenn der dumme, alte Harkness keine Angst mehr vor dir hat?«

Wieder eine Pause.

»Keine schlaue Erwiderung von dir, Keenan? Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen.«

»Hören Sie mit Ihrem Gequatsche auf. Zahlen Sie nun oder nicht?«

»Ich zahle nicht.« Harkness holte tief Luft, und Mary konnte an seiner Stimme hören, dass er lächelte. »Verstehst du? Ich zahle nicht mehr, du dreckiger Erpresser.«

James zog scharf die Luft ein. Mary erstarrte – es klang so laut an ihrem Ohr –, aber Keenan und Harkness fuhren fort, völlig vertieft in ihre Auseinandersetzung.

»Ich habe vorhin ein bisschen gerechnet«, sagte Harkness in leichtem Ton. »Weißt du eigentlich, wie viel du aus mir rausgepresst hast, Keenan? Die Summe, die ich dir und Wick über die letzten zehn Monate gezahlt habe?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Zuerst hat sich das nicht nach viel angehört. Ein Pfund pro Woche. Dann zwei. Oder auch noch fünf. Fünf hab ich auch noch geschafft. Allerdings nehme ich an, dass es zwischen euch dreien aufgeteilt werden musste, deshalb ist es dir nach einer Weile nicht mehr so viel vorgekommen. Aber zehn Pfund – zehn Pfund pro Woche! –, das hat mir den Hals gebrochen. Eigentlich ja eine läppische Summe: ein paar neue Kleider für meine Töchter, die Kosten für eine Gesellschaft, die meine Frau gibt. Aber alles in allem sind dabei mehr als zweihundert Pfund rausgekommen.

Und nun möchte ich mal Folgendes wissen: Ich kann dir erklären, wofür ich das ausgegeben hätte. Ich habe Frau und Familie. Töchter sind teuer und Söhne noch mehr. Und ich weiß ja, dass Wick auch Familie hatte – die armen Teufel. Aber was hast du mit deinen achtzig Pfund angestellt, Keenan? Das ist es, was ich nicht verstehe.«

»Zur Hölle mit Ihnen«, fauchte Keenan. »Wenn Sie nicht zahlen, wissen Sie, was mit Ihnen passiert.«

»Die Sache mit der Hölle liegt in den Händen des Allmächtigen. Aber du hast inzwischen vielleicht mitbekommen, Keenan, dass ich mich nicht mehr davor fürchte, was du mir antun könntest. Um genau zu sein, ich freue mich fast darauf.«

Es folgte ein langes Schweigen. Mary lugte vorsichtig durch den Eingang. James ebenfalls. Wie sie erwartet hatte, befanden sich die beiden Männer in einer entlegenen Ecke des Glockenstuhls. Harkness hatte die Hände auf die halbhohe Mauer gestützt, als ob er den Sonnenuntergang über den Londoner Straßen betrachtete. Seine Haltung täuschte Unbekümmertheit vor, aber seine hochgezogenen, verkrampften Schultern verrieten seine eigentliche Anspannung. Im Gegensatz dazu beugte sich Keenan, der hinter ihm stand, leicht vor, bereit, auf ihn loszugehen. Dennoch hatte seine Haltung etwas seltsam Starres, als wisse er nicht genau, wie er mit der Situation umgehen sollte. Harkness’ Gleichgültigkeit beraubte ihn seiner wirksamsten Waffe: der Androhung von Gewalt.

»Warum haben Sie mich dann herbestellt?«, knurrte Keenan. Er ballte immer wieder seine Fäuste, als könne er Harkness’ weichen, schlaffen Hals schon zwischen den Händen spüren.

»Na, um dir meinen Entschluss mitzuteilen natürlich.«

»Hier oben? Warum nicht im Büro?«

Harkness lächelte und blickte über die Stadt. »Es ist so ein schöner Abend. Ich wollte den Ausblick genießen.«

»Der Ausblick ist mir scheißegal.«

»Das sollte er nicht sein, wenn du bedenkst, was die Zukunft für dich bereithält.«

»Was denn?«

»Steine klopfen bestenfalls.«

Einen kurzen Moment blinzelte Keenan verwundert. Dann brach er in bellendes Gelächter aus. »Jetzt haben Sie sich mal wieder übertroffen, Harky. Sie wissen doch, wenn ich ins Gefängnis komme, dann Sie auch! Ich würde mich dem Teufel verkaufen, um zu erreichen, dass Sie eine längere Strafe kriegen als ich.«

Harkness lächelte ebenfalls – mit seltsam verzerrten Lippen, was ebenso wenig mit Humor zu tun hatte wie Keenans Gelächter. »Du bist ja doch nicht so schlau, wie ich gedacht habe, Keenan. Ich muss sagen, dass ich etwas enttäuscht bin. Weißt du«, fuhr er fort, richtete sich auf und lehnte sich jetzt an die Brüstung des Glockenstuhls, »du verfügst über eine gewisse kriminelle Schläue. Dein Problem ist jedoch, dass dir Fantasie fehlt. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, was ich gerade denke oder fühle. Und das ist dein Untergang.«

»Blödsinn«, knurrte Keenan und wandte sich mürrisch ab. »Alles Blödsinn. Wie zum Teufel wollen Sie mir Schwierigkeiten machen und gleichzeitig Ihre Beteiligung vertuschen? Sie haben den halben Profit eingesackt; Sie haben die Rechnungsbücher gefälscht.«

Harkness’ Blick war immer noch unbeirrt auf den leuchtenden Horizont gerichtet. Diese überzeugte Gelassenheit veränderte sein ganzes Gesicht, er hatte wieder etwas Farbe und sah sogar jünger aus. Und dann fiel Mary der größte Unterschied auf: Das Zucken war verschwunden. Harkness’ linke Wange war ganz still und glatt. »Ich will meine Schuld gar nicht vertuschen. Im Gegenteil. Ich habe einen Brief mit allen Einzelheiten des Verbrechens zurückgelassen.« Er drehte sich um und sah in Keenans überraschtes Gesicht. »Genau, alles von dem Moment an, als ich dich beim Klauen erwischt habe. Ich habe dargelegt, warum ich bereit war, die Augen zu verschließen und sogar die Abrechnungen zu fälschen für die Hälfte des Profits. Und auch, wie dein Freund Wick uns auf die Schliche kam und anfing, mich zu erpressen. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich darauf kam, dass du dahinterstecktest, weißt du – wie du ihn auf mich angesetzt hast. So eine Hinterhältigkeit war mir bis dahin fremd.«

»Jetzt aber nicht mehr«, sagte Keenan höhnisch.

»Da hast du völlig recht.« Harkness’ Ton war nüchtern, schulmeisterlich. »Ich habe Unrecht begangen, schlimmes Unrecht. Und ich werde dafür büßen.«

»Wie?« Keenan klang auf einmal misstrauisch. »Was ist das für ein Brief und wo ist er?«

»Aha: Da kommen die niederen Überlebensinstinkte mal wieder an die Oberfläche. Es reicht wohl, wenn ich sage, dass der Brief an einem sicheren Ort ist. Den findest du nicht. Die Polizei aber schon; darauf kannst du dich verlassen. Und sie werden genau wissen, was da gelaufen ist.«

»Na gut. Angenommen, den Brief gibt es wirklich, und angenommen, irgendein Bulle findet ihn, und angenommen, er glaubt den ganzen Mist: Wer sagt, dass er mich findet? London ist groß – angenommen, ich bleibe überhaupt hier.« Er starrte Harkness an, der unbewegt dastand und über die dunkel werdenden Straßen blickte. »Na? Bisschen viele Annahmen?«

Harkness blinzelte und lächelte, als erwache er aus einem Traum. »Willst du wissen, was mit Wick passiert ist?«

Keenans Gesicht wurde ganz starr. »Ich weiß, was ihm passiert ist. Er ist abgestürzt.«

»Aber wie kam es dazu?«, bohrte Harkness weiter. »Und wann und warum?«

»Er ist eben gefallen, basta! Unfälle passieren nun mal – vor allem hier, wie’s aussieht.«

»Schon möglich. Aber du fragst dich doch sicher, warum er hier oben war.«

»Nein, tu ich nicht.« Seine Stimme, kalt und versteinert, ließ den Anflug eines Zitterns heraushören.

Mary spürte, wie James hinter ihr den Atem anhielt. Wenn Harkness vorhatte, Keenan zu einem Geständnis zu bringen, war das eine verzweifelte und törichte Art. Das konnte nichts werden. Es war nur ein Wunder, dass Keenan noch nicht ausgerastet war.

Sie schob sich ein paar Zentimeter weiter vor, um einen besseren Blick auf Keenans Gesicht zu erlangen. Sie stand inzwischen fast vollständig sichtbar für die beiden im Eingang. Im ganzen Glockenstuhl gab es keine Deckung, keine kleine Nische, in die sie unbemerkt schlüpfen konnte. Und über ihnen allen hing die große Glocke hoch oben in der Turmspitze – wie eine erhabene, richtende Gottheit, die darauf wartete, dass die unbedeutenden Menschen da unten etwas Entscheidendes taten. Handelten, statt zu reden.

»Ich sage es dir.«

»Ich habe doch gesagt, ich frage nicht!« Wie ein Peitschenschlag knallte Keenans Stimme durch den kleinen Raum und hallte in der großen Höhlung der Glocke wider.

»Es war sein Vorschlag – Wicks, meine ich –, sich hier oben zu treffen«, sagte Harkness. Er konnte doch nicht blind sein gegenüber der aufkommenden Panik von Keenan. Nein, er schien eher froh darüber. »Er bestand sogar darauf. Ich wollte mich gar nicht mit ihm treffen und versuchte ihn so lange wie möglich hinzuhalten. Er wollt ja doch nur seine Forderungen hochschrauben, weißt du. Natürlich weißt du das – du hast ihn wahrscheinlich dazu angestiftet. Stimmt das nicht, Keenan?«

Der Maurerpolier machte nur ein finsteres Gesicht, rührte sich jedoch nicht.

»Egal; wir trafen uns also auf Wicks Wunsch nach Einbruch der Dunkelheit hier im Turm. Es war ungefähr zehn Uhr. Ich kam etwas zu spät und Wick war verärgert. Er machte mir auf unflätigste Weise Vorwürfe. Und ich – ich hatte allen Mut verloren und ließ ihn gewähren.« Harkness’ linkes Auge zuckte, aber nur ein Mal. »Das bereue ich vielleicht am meisten: dass ich mich als Gentleman vergessen habe.« Er unterbrach sich einen Moment, dann holte ihn eine leichte Bewegung Keenans in die Gegenwart zurück. »Wie auch immer. Wick verlangte eine Erhöhung des bereits unverschämt hohen Bestechungsgeldes: zwölf Pfund pro Woche dafür, dass er über meine Fälschungen in der Buchhaltung schwieg.

Ich habe ja bereits gesagt, dass mir die zehn Pfund schon das Genick brachen. Ich war längst ruiniert, auch wenn ich das noch nicht erkannte. Aber ich wusste, dass ich diese Forderung nicht erfüllen konnte, und ließ den Schurken das ganz unmissverständlich wissen. Er hatte die Unverschämtheit zu sagen, er würde zu meiner Frau gehen und sie über die Situation aufklären, und sie wäre vielleicht bereit, ihren Schmuck zu verkaufen, um meinen guten Namen zu retten. Und er – er deutete auch noch an, wenn der Schmuck nicht ausreichen würde, um ihn zufriedenzustellen, dann … seine Worte waren eben die eines ordinären Schurken …« Harkness unterbrach sich erneut, um seinen Zorn hinunterzuschlucken. Als er weiterredete, klang seine Stimme kühl und gleichgültig. »Kein Gentleman würde sich solche Beleidigungen gefallen lassen. Ich habe die Beherrschung verloren und wir sind uns an den Hals gegangen. So standen wir da – Wick hier, und ich, wo du gerade stehst.«

Keenan machte eine erschrockene Bewegung, hatte sich aber gleich wieder im Griff. »Ich hab genug gehört«, sagte er mit einem tiefen Knurren. Aber er machte keine Anstalten zu gehen. Im Gegenteil, er rückte Harkness eher etwas näher, wie gebannt von der Geschichte.

»Wick war natürlich viel kräftiger als ich, von der vielen körperlichen Arbeit. Aber als er sich auf mich stürzte, ist es mir dennoch gelungen, ihm mit einer Stärke Widerstand zu leisten, von deren Existenz ich gar nichts wusste. Ein Handgemenge brach los«, sagte Harkness fast verwundert. »Ich kenne mich mit Zweikämpfen nicht aus – körperliche Gewalt hat mich immer abgestoßen –, aber ich hatte keine Angst. Es machte mir sogar Spaß.«

»Sie Teufel! Und das zu erzählen macht Ihnen auch Spaß.« Keenan warf sich auf Harkness und packte ihn bei der Kehle. Der Ältere taumelte zurück und krachte an die Steinmauer. Es musste ziemlich wehtun, denn er wurde rücklings über die Brüstung gedrückt, aber er ließ keine Schmerzens- oder Angstschreie verlauten, selbst als Keenan ihn mit hohen, wütenden Schreien zu würgen begann. »Sie verdammter Satan! Sie haben ihn gestoßen, richtig? Sie haben ihn hergelockt und ihn über die Brüstung gestoßen!«

»Aufhören!« Die laute, gebieterische Stimme kam von James. Sie hallte in der Höhlung von Big Ben wider und James sprang vorbei an Mary auf die beiden Männer zu. Mit ein paar Schritten war er bei ihnen.

Er war nicht schnell genug. Keenan zuckte bei dem Klang der Stimme zusammen; Harkness schlug wild um sich. Ihre plötzlichen Bewegungen reichten aus, um Harkness über die halbhohe Brüstung zu stoßen. Es war eine seltsame Art zu fallen, bemerkte Mary mechanisch. Harkness hätte eigentlich kopfüber darüberkippen und Keenan mitreißen sollen. Stattdessen hingen sie beide über die Brüstung, Harkness nach außen, Keenan mehr nach innen, wobei er gefährlich auf seinem Bauch wippte. Ein scharfer, erschrockener Schrei wurde ausgestoßen – ob von Harkness oder Keenan konnte Mary nicht genau sagen.

James warf sich nach vorn, landete hart auf dem Boden und bekam Keenans strampelnde Beine zu fassen. Alle rangen nach Luft. Dann war nur noch der Wind zu hören, der durch den offenen Raum pfiff.

Keenan rührte sich nicht in James’ Klammergriff. Die obere Hälfte seines Körpers hing über die Brüstung, und er machte keine Anstalten, sich hochzustemmen. Mary, die einen halben Schritt hinter James gestanden hatte, rannte auf die Brüstung zu und sah hinüber. Da hing Harkness, der seine großen, dicklichen Hände fest um Keenans fleischige Unterarme geschlungen hatte. Seine Füße baumelten über den Dachziegeln unter ihm und er spähte mit seltsam gefasster Miene herauf.

Doch als Mary das Gesicht über die Brüstung streckte, runzelte er die Stirn. »Quinn? Was zum Kuckuck machst du denn hier?«

Mary schluckte, und ihr fiel ein, dass sie ja noch in ihrer Verkleidung war. »Ich helfe Mr Easton, Sir. Halten Sie sich gut fest, wir holen Sie rauf.« Sie wollte noch hinzusetzen, er solle nicht in Panik geraten, aber das schien in Harkness’ Fall irgendwie nicht angebracht; er war gelassener, als sie ihn je gesehen hatte.

Keenan hingegen sah aus, als sei ihm vor Panik übel. Er hing kopfüber da und sein Gesicht wurde immer röter. »Zum Teufel, zieht mich rein!«, schrie er heiser. Es war eine seltsam passive Position für einen so aktiven und aggressiven Mann: Wenn er mit den Füßen um sich trat, riskierte er, dass James, sein Anker, ihn losließ. Und Harkness war schwer.

Harkness wirkte leicht verwirrt, als wüsste er nicht, wieso er hundert Meter über den Kopfsteinpflasterstraßen von Westminster baumelte. Doch dann klärte sich sein Blick auf. »Sind Sie das, Mr Easton? Halten Sie diesen Schurken fest, damit er nicht in den Tod stürzt?«

James stieß einen Laut aus, der zu gleichen Teilen auf seine Anstrengung und seine Belustigung schließen ließ. »Ja, Harkness. Ich bin nicht kräftig genug, um Sie beide hochzuziehen.«

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, erwiderte Harkness im Plauderton. »Ich bin darauf vorbereitet, vor meinen Herrn und Heiland zu treten.«

»Jetzt schon? Bestimmt nicht.«

Keenans düsteres Gesicht spiegelte Marys Erstaunen wider. »Das ist hier keine Teeparty!«, brüllte er. »He, Junge! Hilf, mich reinziehen, ehe mir die Arme abfallen!«

Mary packte eines von Keenans Beinen und zog, aber ihr geringes Körpergewicht richtete praktisch nichts aus. Harkness und Keenan wogen zusammen sicher hundertfünfzig Kilo und sie und James waren bedeutend leichter. Es war unmöglich, die beiden ohne Hilfsmittel reinzuziehen. Und es blieb keine Zeit, um Hilfe zu holen.

Sie sah James an. »Hier oben gibt es alle möglichen Seile. Die könnten wir nehmen.«

James nickte. Auf seiner Stirn begannen sich Schweißperlen zu bilden. »Gut. Ich sag dir, welche Knoten du machen musst.«

»Es gibt eine einfachere Lösung, mein Junge«, kam Harkness’ Stimme, die durch die Mauer und durch den Wind gedämpft klang. »Ich hatte zwar gehofft, Keenan mitzureißen, aber das soll wohl nicht sein, wenn Sie ihn halten. Aber sobald er mich loslässt, können Sie ihn ja retten und der Polizei zuführen.«

Es folgte ein allgemeiner Aufschrei.

»Er ist verrückt geworden!«

»Was zum Henker meinen Sie, Harkness?«

»Was meinen Sie, sobald er loslässt?«

»Genau, was ich gesagt habe«, erwiderte Harkness mit entnervender Kaltblütigkeit. »Ich gehe davon aus, Easton, dass Sie und der Junge genug von unserer Unterredung gehört haben, um zu wissen, was geschehen ist.«

James bestätigte das mit einem Grunzen.

»Mir bleibt keine andere Wahl, mein lieber Junge. Der Tod ist mein einziges Verlangen.«

»Sie dämlicher Narr!«, knurrte Keenan. »Na gut, dann lass ich los! Gute Reise! Ich hab Zeugen, die sagen, dass Sie sterben wollten.«

»Nein!«, fuhr James ihn an. »Wenn Sie ihn fallen lassen, Keenan, dann stoße ich Sie höchstpersönlich hinterher. Harkness«, fuhr er fort und versuchte, möglichst sachlich zu klingen, »wir besprechen alles, sobald Sie sicher hier im Turm sind, nicht jetzt. Quinn, hol die Seile.«

Mary eilte auf die nächstliegende Rolle mit Seilen zu, die vom Aufhängen der Glocke übrig waren. Sie wickelte Keenan das Seil um die Füße, verknotete es und befestigte das andere Ende an eisernen Ringen, die aus der Steinmauer ragten. Und damit fing dann die wahre Schufterei an.

Sie und James stemmten die Füße gegen den Absatz des zentralen Lüftungsschachts und fingen an zu ziehen. Kaum machten sie den ersten Fortschritt, begann allerdings ein wütendes Gerangel vor der Brüstung.

»Hilfe!«, schrie Keenan. »Er fällt, er fällt!«

»Halten Sie ihn!«, kommandierte James. »Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, dann halten Sie ihn.«

»Er hat mich losgelassen!«

»Dann halten Sie ihn fester!«

Sie zogen das Seil in hartumkämpften Schritten ein, immer nur zentimeterweise. Manchmal machten sie eine ganze Minute lang keinen Fortschritt, so groß war die Anstrengung, die zwei schweren, zappelnden Männer hochzuhieven. Es lag an James, dachte Mary, der ein Schweißrinnsal über die Stirn lief. Trotz seiner heldenhaften Anstrengungen ließ seine Kraft allmählich nach. Das hektische Glitzern seiner Augen hatte aufgehört, und obwohl er von den Anstrengungen rötlich angelaufen war, sah er darunter aschfahl aus. Sein Atem kam in kurzen, scharfen Stößen.

Er fing ihren kritischen Blick auf. »Zieh fester!«

Sie nickte, obwohl sie schon mit ganzer Kraft zog.

Unter schmerzvoller Aufbietung aller Kräfte kam Keenans Torso jedoch irgendwie stückchenweise höher über die Brüstung. Er hielt ganz still und war völlig stumm, wartete, hielt Harkness und konzentrierte sich. Schließlich konnte er die Achseln über den Rand der halbhohen Mauer hieven.

»Schön ruhig!«, keuchte James. Die Erleichterung war seinem erschöpften Gesicht anzusehen. »Wir helfen jetzt, Harkness reinzuziehen.«

Sie brauchten nur Sekunden, bis sie die Brüstung erreichten. Doch in diesem kurzen Moment warf Keenan mit einer einzigen, herausfordernden Bewegung beide Hände in die Luft. »Da! Das wolltest du doch!«

Der Schrei, der die Luft durchschnitt, war entsetzlich, schrill genug, um ein geisterhaftes Echo in den Glocken zu verursachen. Mary hatte das Gefühl, als würde er ihren Schädel spalten. Obwohl es völlig vergebens war, stolperte sie auf die Brüstung zu. Ließ den Blick über die Reihen von Dachziegeln gleiten, über das kunstvolle gotische Maßwerk. Dann reckte sie den Hals und sah hinunter in den gepflasterten Hof. In dem Augenblick versank die Sonne endgültig hinter dem Horizont, und es legte sich eine neue, fast greifbare Dunkelheit über die Stadt und bedeckte den Körper, der dort unten liegen musste, zerschlagen und blutüberströmt.

Einen Moment später schrie sie erschrocken auf. Mit grober Hand wurde sie beim Kragen gepackt, in die Luft gehoben und baumelte nun, wie Harkness zuvor, über dem schönen schrägen Dach des Uhrenturms. Der Kragen schnitt ihr in die Kehle und drohte ihr die Luft abzuschneiden; mit den Zehenspitzen streifte sie die Außenwand des Glockenstuhls. Keenan natürlich. Wie dumm war sie gewesen, ihm zu nahe zu kommen, nachdem er selbst in Sicherheit war.

James stürzte herbei, wurde jedoch von einer gebieterischen Bewegung Keenans zurückgehalten. Er blieb bewegungslos stehen, schreckensbleich vor Entsetzen. Seine Lippen bewegten sich und formten die erste Silbe ihres Namens.

Obwohl sie in Panik war, hatte sie ihre Geistesgegenwart nicht verloren. Mit einer winzigen Bewegung schüttelte sie den Kopf. Er sollte ihr Geschlecht jetzt nicht verraten; das würde Keenan nur noch mehr Machtgefühl verleihen, mehr Genuss, sie zu verletzen. Sie konzentrierte sich auf James’ Gesicht und versuchte ihm ihre Überlegung mit Blicken klarzumachen.

»Danke fürs Raufziehen«, sagte Keenan grinsend. »Das mit Harkness tut mir leid.«

»Holen Sie den Jungen zurück«, sagte James, der vor Anspannung und Erschöpfung zitterte. »Keenan, Sie wissen ja gar nicht, was Sie sich für Ärger einhandeln.«

»Ach nee? Es kommt mir so vor, als ob Sie ziemlich an diesem kleinen Hurensohn hängen. Als ob Sie alles für ihn täten.«

»Er ist ein guter Kerl.« Sein Puls hämmerte an seiner Schlagader.

»Ein kleiner Lustjunge, was?« Keenan machte ein verächtliches Gesicht. »Sie sehen eigentlich nicht wie ein warmer Bruder aus, aber ich würde mal sagen, dass ich mich damit nicht auskenne.«

Sie war so nahe dran. Alle paar Sekunden stieß sie mit einer Stiefelspitze an die halbhohe Mauer. Darauf konzentrierte sie sich, es war in diesem Moment ihr einziger Hoffnungsschimmer. Besser, sich darauf zu fixieren, als auf das würgende Gefühl in ihrem Hals, das Blutrauschen in ihren Ohren, den schieren Schrecken, der ihre Knochen weich werden ließ. Wenn sie nur einen winzigen Halt finden konnte, ein bisschen Schwung … wenn dort vielleicht irgendwo etwas zu greifen war, ein Pfeiler, irgendetwas, an dem sie sich heranziehen konnte.

»Was wollen Sie?«

Keenan grinste. »Das hört man gern. Was ich will, Sie feiner Sicherheitsingenieur-Pinkel, ist, dass Sie diese letzten zwei Stunden für immer vergessen. Sie waren nicht hier. Sie haben Harky nicht gesehen. Und ganz sicher auch mich nicht.«

»Einverstanden«, sagte James sofort. »Jetzt holen Sie ihn rein.«

»Nein«, krächzte Mary. James war ein Mann, der ganz und gar zu seinem Wort stand. Ohne seine Aussage würde man Keenan nicht verurteilen können, das wussten sie alle.

»Hat dir noch niemand beigebracht, dass man nicht widerspricht?« Keenan hob sie etwas höher und grinste, als ihr Atmen mühsamer wurde. »Je weniger du dich wehrst, desto länger bleibst du am Leben.«

»Ich habe Ihnen schon mein Einverständnis gegeben«, sagte James. »Holen Sie ihn rein.«

»Ha, das ist noch nicht alles«, sagte Keenan seelenruhig. »Sie schreiben Ihren Bericht so, dass jeder, der sich dafür interessiert, merkt, dass ich und Wick nichts mit der Sache zu tun hatten. Wir sind nur zwei harmlose Maurer und Wicks Tod war ein tragischer Unfall.«

»Sonst noch was?«

Während James und Keenan verhandelten, drang ein neues Geräusch von außerhalb des Turms an Marys Ohren. Durch das ferne Rauschen des Stadtlebens hörte sie einen anderen Klang: der lange, schrille Pfiff aus einer Trillerpfeife, dann das Getrappel von schweren Stiefeln auf Kopfsteinpflaster. Mindestens zwei Paar. Sie rannten.

James und Keenan schienen davon nichts mitzubekommen. Und Mary, die wie ein Fisch am Haken in der Luft baumelte, konnte sich nicht umdrehen, um genau hinzusehen. Doch sie schloss die Augen und lauschte, und die Geräusche wurden so klar in ihrem Kopf, dass sie die Szene vor sich sah. Eine Polizeipfeife. Zwei Polizisten, die rannten. Vielleicht sogar das Schlagen des Eingangstors. Die Stiefel galoppierten heran, dann änderte sich der Klang. Sie rannten nicht mehr mit großen, sondern liefen eilig mit kleineren Schritten. Was konnte der Grund dafür sein? Sie glaubte es zu wissen. Und der Gedanke ließ sie die Augen aufreißen und breit grinsen.

»Was gibt es da zu grinsen?«, knurrte Keenan und zog sie näher heran, um sie besser zu sehen.

Das war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. »Das da«, sagte sie und trat ihm in die Weichteile.

Ein schmerzliches Brüllen. Ein Kinnhaken, der sie fast ohnmächtig werden ließ.

Blindlings griff Mary um sich, und plötzlich merkte sie, dass sie einen Sims des Glockenstuhls zu fassen bekommen hatte. Der Schlag gegen ihr Kinn kam von der Brüstung.

»Mein Gott, Mary! Halt dich fest!« James war bei ihr. Sein Gesicht war bleich und verzweifelt und er umklammerte ihre Unterarme.

»Keenan! Wo ist Keenan!«

James sah sich nicht mal um. »Zur Hölle mit Keenan. Abgehauen. Kannst du dich an meinen Handgelenken festklammern?«

Das ging. Eine Minute später – bestimmt war es viel kürzer, aber es fühlte sich so an – taumelte sie über die Brüstung in seine Arme. Er fiel auf den Boden zurück, drückte sie fest an sich, an seine Brust, so fest, dass es wehtat. Sein Herz schlug mit furchterregender Geschwindigkeit und sein Kinn grub sich in ihr Haar.

»Mein Gott, Mary. Oh mein Gott. Ich dachte – oh Mary.«

Er bedeckte ihr Haar und ihr Gesicht mit Küssen, und als sie seine Liebkosungen erwiderte, stöhnte und lachte er gleichzeitig. »Du unvorsichtige, halsbrecherische, unmögliche, verdammte kleine Närrin. Du wärst fast umgekommen, nur weil du ihm unbedingt in die … treten wolltest!«

»Wollte ich nicht«, wehrte sie sich und musste jetzt auch lachen. »Ich hab mich verschätzt.«

»Na gut, dann geht’s ja noch mal.« Er rollte sie auf den Rücken. »Idiotin.«

»Wer ist der Idiot? Du warst dabei, all seine Bedingungen anzunehmen, nur um –«

»Um dein Leben zu retten«, stimmte er zu und küsste sie wieder, so fest, dass sie kaum Luft bekam. »Verdammt töricht von mir.«

»Der hätte sein Wort doch nie gehalten. Du hättest alles Mögliche zugesagt und er hätte mich einfach so zum Spaß fallen lassen.«

»Ich nehme an, dass du mir jetzt Vorwürfe machst, dass ich ihn habe entkommen lassen.«

Sie sah ihn forschend an. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Puls ging viel zu schnell, und seine Haut war heiß und trocken. Die Wirkung dieses zweifelhaften »anregenden Mittels«, das er vorhin genommen hatte, ließ offensichtlich nach, und binnen Kurzem würde es ihm sehr schlecht gehen – und er würde dazu auch noch unleidlich werden. Aber trotz allem konnte sie sich nichts vorstellen, was sie lieber wollte als das hier; und sie wollte an keinem anderen Ort sein. »Nein«, sagte sie. »Mach ich nicht.«

Er tat schockiert.

»Ich glaube, dass sie ihn erwischt haben. Hör mal.« Sie lauschten, und durch den Luftschacht hörten sie den Hall schwerer Stiefel, ein angestrengtes Grunzen, einen trotzigen Aufschrei. »Die Polizei ist auf dem Weg hierher.«

»Hm.«

»›Hm‹? Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Tja, normalerweise wäre ich ja froh …«

»Aber jetzt nicht?«

Er küsste sie wieder, innig und liebevoll. »Wie lange haben wir? Fünf Minuten?«

»Weniger, denke ich.« Trotzdem klammerte sie sich an ihn und küsste ihn ebenfalls.

»Dieses dämliche England – an jeder Ecke steht ein Polizist rum.«

»Mmmm. Und wenn wir so weitermachen, dann nehmen sie uns auch noch fest.«

»Nur mich, glaube ich. Ich bin bereit, das zu riskieren.«

Darüber musste sie lachen und versuchte, sich von ihm zu befreien. »Und was ist mit mir und meinem makellosen Ruf?«

Eine neue Stimme, die süffisant klang, obwohl sie ganz außer Atem war, ertönte im Glockenstuhl. »Ich glaube, um sich darüber Gedanken zu machen, ist es schon zu spät, Miss.«

Mary schloss die Augen und stöhnte. Verdammt noch mal.

James war bei der ersten Silbe hochgefahren. Dann lief ein breites Grinsen über sein Gesicht und er ließ sich auf den Boden sinken. »Gott sei Dank«, sagte er und klang plötzlich ganz entkräftet. »Bring uns nach Hause, Barker.«