Palasthof, Westminster
Der Samstag war ein besonderer Tag, da nur halbtags gearbeitet wurde und Zahltag war. Trotz des schwülen Wetters verspürte Mary eine gelöste Stimmung, weil sie wusste, dass sie um ein Uhr anderthalb Tage freihatte. Frei, um nachdenken zu können. Frei, um einigen der Fragen nachzugehen, die sie quälten.
Um Punkt eins ging ein allgemeines Aufatmen durch die Baustelle. Die Männer ließen ihr Werkzeug sinken, packten ihre Beutel und begaben sich in Zweier- oder Dreiergruppen zum Büro. Statt wie üblich auf den Ausgang zuzueilen, bildeten sie entspannt eine Schlange und grüßten sich mit einem Nicken, Brummen oder der einen oder anderen scherzhaften Bemerkung. Zum ersten Mal, seit sie hier war, spürte Mary etwas wie Gemeinschaftssinn.
Harkness stand direkt vor der Tür zu seinem Büro und hatte eine Brille auf, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war. Sie verlieh seinem runden, blassen Gesicht fast etwas Gelehrtes. Vor ihm stand ein kleiner Tisch mit einer breiten, flachen Metallkiste, aus der Reihen langer, schmaler brauner Umschläge hervorschauten. Die Männer traten einer nach dem anderen vor und er reichte ihnen ihre Lohntüte und hakte ihren Namen auf einem separaten Bogen Papier ab.
Einige der Männer nickten oder murmelten etwas Höfliches, dann stopften sie sich den Umschlag in die Tasche. Andere traten zur Seite und rissen den Umschlag ganz ungeniert auf, um ihren Lohn nachzuzählen, ehe sie sich davonmachten. Es war eine langwierige Prozedur, denn Harkness überprüfte jeden Namen zweimal, ehe er sich von seinem Geld trennte. Seine Bewegungen verrieten äußersten Widerwillen, als zweifle er die Tüchtigkeit oder den Anspruch der Empfänger an. Und aus Harkness’ Perspektive als strenggläubiger Abstinenzler, so vermutete Mary, war es schlimmer, seinen Lohn im Pub auszugeben, als das Geld zu verlieren oder auf andere Weise zu verschwenden; Alkohol war Sünde und der Anfang weiterer Übel.
Denn daran bestand kein Zweifel: Die Männer würden schnurstracks ins Pub gehen. Die Laune war allgemein gut und ihr gegenüber waren sie weniger feindselig. Einer der Steinmetze verlangsamte sogar den Schritt im Vorübergehen und fragte: »Na, auch rüber zum Hund?«
Sie blinzelte ihn verständnislos an. Doch gerade, als er sich abwenden wollte, fand sie ihre Stimme wieder. »J-ja. Äh, danke.« Hund. Jagdhund. Das Pub Hare and Hounds natürlich.
Er sah sie leicht verblüfft an, nickte jedoch. »Gut. Bis dann.«
Sie bekam ihre Lohntüte als Letzte, was in Ordnung war, da sie ja als Letzte eingestellt worden war. Als sie schließlich vortrat, rieb sich Harkness müde die Augen, zwang sich jedoch zu einem freundlichen Lächeln. »Und wie ist es dir in deiner ersten Woche ergangen, Quinn?«
»Ich fand’s sehr interessant, Sir.« Hinter Harkness in dem relativ düsteren Büroraum sah sie James zum ersten Mal an diesem Tag. Er beugte sich über einen mit Unterlagen beladenen Tisch und sah ein großes dunkelblaues Rechnungsbuch durch. Er hob den Kopf, als ob er ihren Blick auf sich spürte, und sah sie mit einem ansteckenden Grinsen an. Sie hatte Mühe, ernst zu bleiben, aber irgendwie gelang es ihr, sich auf angemessene Mark-Quinn-Art von Harkness zu verabschieden, dann tat sie es den anderen Arbeitern nach, steckte ihren Umschlag in die Tasche und machte sich zum Pub auf.
Zu ihrer großen Erleichterung war das Hare and Hounds ganz anders als das Blue Bell. Es war zwar bei Weitem nicht vornehm, aber es herrschte lärmende Fröhlichkeit vor, nicht alkoholgeschwängerte Verzweiflung. Sie sah sich um. Irgendwie konnte sie verstehen, warum die arbeitende Bevölkerung diese Art von Kneipe liebte. Hier gab es breite, abgescheuerte Bänke und Tische, angemessene Beleuchtung, angeregte Unterhaltungen und – was am wichtigsten war – gutes Bier. Letzteres bewiesen die vielen Biergläser, die auf den Tischen standen, während Schnaps kaum zu sehen war. Es war viel gemütlicher als die meisten Arbeiterbehausungen, überlegte Mary, und zudem war man noch in Gesellschaft.
Ihre Arbeitskollegen – seltsam, sie so zu bezeichnen – hatten sich schon um einen Ecktisch versammelt und waren mit der ersten Bierrunde fast fertig. In dem dichten Gedränge sahen nur wenige der Männer, dass sie sich näherte. Diejenigen, die sie bemerkten, starrten sie nur an, ein Teil herausfordernd, ein anderer desinteressiert. Der Steinmetz, der sie zu dem Kneipenbesuch aufgefordert hatte, saß in der Ecke. Vielleicht war es ganz natürlich, dass sie sich hier den Männern gegenüber etwas schüchterner verhielt als auf der Baustelle – wo sie ihren Platz und ihre Arbeit hatte. Aber sie ermahnte sich, dass sie auch hier bei der Arbeit war. Der Gedanke machte ihr Mut.
»Was darf’s denn sein?«, fragte sie den Mann, der ihr am nächsten saß, denn sie hielt es für angebracht, gleich mal eine Runde auszugeben.
Darauf drehte er sich um. Er hatte in die andere Richtung gesehen und den Kopf in die Hand gestützt. Daher erkannte sie erst jetzt, als sie sich ansahen, dass es Reid war. Sie wurde kurz von Panik ergriffen, aber es war viel zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Sie zwang sich zu einem schüchternen Lächeln.
Er war eindeutig verblüfft, sie zu sehen, sagte jedoch nach einem Augenblick: »Für mich das Spezialbier des Hauses.«
Was gut genug für Reid war, war gut genug für den Rest. Mary ging mehrmals vom Tresen zum Tisch und beim letzten Gang rutschten die Männer auf der Bank zusammen und machten einen Platz für sie frei. Eine Runde auszugeben war offensichtlich der schnellste Weg, akzeptiert zu werden. Wenn sie nur vor fünf Tagen an so etwas gedacht hätte!
Die Nase in ein Bierglas zu stecken war die ideale Art, Leute zu beobachten, und von ihrem Platz aus stellte Mary fest, dass sie in zehn Minuten mehr über die Arbeitsbeziehungen erfuhr als während der ganzen Woche. Obwohl alle Männer in der gleichen Ecke der Kneipe saßen, gruppierten sie sich doch nach Gewerken. Die Steinmetze saßen beieinander, dann kamen die Schreiner, die ab und zu Bemerkungen mit den Glasern neben ihnen austauschten. Die Maurer bildeten eine Ausnahme, denn sie wurden nur von Reid, Smith und Stubbs vertreten, aber das war wahrscheinlich gut so – Keenans Anwesenheit hätte die gute Stimmung bestimmt verdorben. Die Männer kamen alle ganz gut miteinander aus und das Bier tat das Seine. Wie Mary erwartet hatte, waren die Schreiner der ausgelassene Mittelpunkt der Versammlung. Sie tauschten Klatsch aus und brüllten immer unanständigere Witze über den Tisch, um den neuen Jungen in Verlegenheit zu bringen.
Im Laufe des Nachmittags fand es Mary immer unverständlicher, dass sie sich eine Zeit lang unwohl unter diesen Männern gefühlt hatte. Es war fast so unverständlich wie ihr Verdacht, sie könnten ihr gegenüber argwöhnisch sein. Hier in der Kneipe waren sie alle Kumpel. Gute Kumpel. Sie waren schon seit Urzeiten Kumpel. Sie witzelten über die alkoholfreie Teepause, schimpften über Harkness, über das langsame Vorankommen der Arbeit und sogar über den neuen Ingenieur.
»Du da«, sagte Reid, lehnte sich über den Tisch und starrte sie aufmerksam, wenn auch mit etwas glasigem Blick, an. »Du weißt doch alles über den neuen Herrn. Piekfeiner Typ, oder?«
Mary blubberte das Bier im Bauch herum. »So piekfein nun auch wieder nicht«, sagte sie langsam. Ihr alkoholgetränktes Hirn versuchte den Gang des Gesprächs vorauszuahnen. »Eigentlich nicht anders als Harky, glaub ich.«
Reid schüttelte langsam und störrisch den Kopf. »Protziger als der alte Harky bestimmt. Ich weiß Bescheid.«
»Was weißt du?«, wollte der Mann neben Mary wissen.
»Er ist einen Abend nach der Arbeit in Wicks Haus gekommen. Hat mir Jane Wick erzählt. Sie hat einen Todesschreck gekriegt – dachte schon, Wick würde wieder in Schwierigkeiten stecken, auch noch nach seinem Tod.«
»Wenn es einen Kerl gibt, der nach seinem Tod noch in Schwierigkeiten geraten kann, dann John Wick!«, sagte ein Dritter schnaubend. Ein paar Männer brummten belustigt ihre Zustimmung, aber die meisten waren gespannt auf Reids Bericht.
»Wie auch immer, dieser Herr kommt bei den Wicks vorbei und sagt zu Janey, dass er gern den Leichnam sehen will, ganz höflich. Und Janey sagt: ›Der ist nicht hier‹, und dass der Untersuchungsrichter ihn noch hätte und nicht sagen würde, wann er ihn rausrückt. Und Janey, wisst ihr, die ist so fertig deswegen, weil ja am nächsten Tag die Beerdigung sein soll, und sie muss ihn ja noch waschen und anziehen und alles, und der Kerl da – dieser Easton – sagt zu ihr, sie soll sich nicht aufregen, er wird mal sehen, was er machen kann.
Und Janey denkt natürlich: ›Na klar, das sagt ihr doch alle und tut dann doch nichts, und warum gehen Sie nicht heim und lassen mich in Ruhe.‹ Und verflixt noch mal, wenn da nicht am nächsten Morgen ’ne riesige Kutsche aufkreuzt – um neun Uhr morgens, denkt nur –, und so zwei Kerle bringen Wicks Leiche rein, ganz artig, und sagen: ›Hier, Mrs Wick‹ und ›Bitte sehr, Mrs Wick‹ und so fort!«
Alle staunten nicht schlecht darüber. »Hat er gesagt, wie er das hingekriegt hat? Easton, meine ich.« Das war wieder der Mann neben Mary.
Reid schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Zug Bier. »Hat nichts weiter gesagt, nur seine Karte dagelassen und gemeint, wenn sie noch was brauchen würde, dann sollte sie ihn fragen.«
Jemand anders kicherte hinterhältig und vielsagend. »Hat wohl ein Auge auf die Witwe geworfen, was? Bestimmt entschädigt sie ihn gerade schon für seine Mühen.«
Reid sah sich empört nach ihm um. »Sie macht nichts dergleichen; die ist ein anständiges Mädchen, Janey Wick.« Die heimliche Heiterkeit am ganzen Tisch machte klar, dass Reids Gefühle für Mrs Wick ein offenes Geheimnis waren. »Deshalb erzähl ich das ja«, fuhr er beharrlich fort, »dieser Easton ist ein ganz feiner Herr. Man kann sich kaum vorstellen, dass Harky was für so ’ne arme kleine Witwe tun würde, trotz seinem ganzen Kirchengetue und der Teetrinkerei!«
Die Unterhaltung wandte sich anderen Themen zu. Aber Reid war in Plauderstimmung und griff sich Mary über den Tisch weg. »Du bist ja wohl noch nie auf’m Bau gewesen.« Es war keine Frage.
»Nein«, sagte Mary. Sie kam mit derselben Erklärung, die sie auch Harkness gegeben hatte: Vollwaise, kein Geld für eine Lehre, in ärmlichen Verhältnissen lebend.
»Aber du bist mal zur Schule gegangen«, sagte Reid und legte die Stirn in Falten.
Sie nickte zögerlich. »Nur ’ne Weile.«
Er ging nicht darauf ein. »Weil nämlich, als ich dich gestern erwischt hab, wie du durch das Fenster geguckt hast, da hat dieser Mr Jones – Octavius Jones« – er klang, als ob er den Namen extra betonte – »gesagt, dass du ein gewitzter kleiner Scheißer bist, und ich soll mich lieber vor dir hüten.«
Das Bier machte sie dreist. Statt sich zu winden und ihre Rolle kleinzureden, grinste Mary breit. »Gibt’s denn so viel, vor dem Sie sich hüten müssen?« Panik blitzte in Reids Gesicht auf und sie fügte eilig hinzu: »Sind Sie vielleicht der – äh – der Geist vom Uhrenturm oder so?«
Er entspannte sich. »Quatsch, Junge. Aber dieser Mr Jones – ich glaube, der ist gut informiert.«
Er horchte sie also aus. Versuchte herauszufinden, was sie wusste. »Muss er ja wohl, wenn er für die Zeitung schreibt, oder?«
Reid nickte, ließ sie aber nicht aus den Augen. »Beobachtet die Baustelle mit Argusaugen.«
»Hab ihn aber noch nicht oft da gesehen.«
»Der hat so seine Kanäle.«
Es war wie ein Glücksspiel mit hohem Einsatz. Jeder versuchte, dem anderen etwas zu entlocken und seine eigenen Trümpfe zu bewahren. »Meinen Sie, er zahlt den Leuten was, damit sie reden?«
Reid stieß leicht die Luft aus. »Genau, so in der Art.«
»Ich hab ihm noch nichts gesagt«, erwiderte sie freimütig. »Zahlt er denn so gut, wie er behauptet?«
»Ach – Quatsch. Weiß ich nicht. Ich hab ihm nichts zu sagen.« Aber er wurde rot dabei und schob unbewusst die Hand in die Hosentasche. Wahrscheinlich steckte der kleine Bonus von Jones da drin. »Hab keine Geheimnisse.« Ein so wenig überzeugendes Abwiegeln hatte Mary schon lange nicht mehr gehört – so unbeholfen, dass sie sich erneut fragte, inwiefern Reid mit Gaunern wie Wick und Keenan unter einer Decke steckte. Und ob sie weiterbohren sollte.
»Keenan hat schon welche«, sagte sie mutig und leerte ihren Krug.
Reid machte ein listiges Gesicht – oder vielleicht war das auch nur auf die Wunde unter seinem Auge zurückzuführen, die ihm ein ziemlich verwegenes Aussehen gab. »Kann schon sein.«
»Er redet mit Harky, als ob er der Boss ist.«
»Mhm.«
»Und er und Sie und Wick, Sie führen doch alle was im Schilde.«
Reid wurde rot, halb ertappt, halb abwehrend. »Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Na klar wissen Sie das.« Sie machte eine Pause und lehnte sich etwas vor. Die anderen Männer achteten nicht auf sie; das war die perfekte Gelegenheit. »Und dabei springt doch ein schönes Sümmchen raus.«
Er starrte sie entgeistert an und seine vom Bier geröteten Wangen bebten. Vor Schreck waren seine runden blauen Augen noch größer geworden. »Ich doch nicht«, stieß er scharf hervor, sodass sein nächster Nachbar träge den Kopf wandte. »Ich hab nie gewollt, dass es so weit kommt«, murmelte er, ihr zugewandt.
»Aber Sie wissen davon«, hielt sie ihm vor, ermutigt von dem Ausdruck auf seinem sensiblen, naiven Gesicht und dem konsumierten Alkohol. »Sie wissen davon und haben Octavius Jones davon erzählt.«
»Ich muss mal pinkeln«, sagte er und stand abrupt auf. Als er die Hand aus der Tasche zog, rutschte ein zerknülltes Stück Papier heraus, fiel auf die Bank und glitt dann zu Boden. Reid war so verdattert, dass er es nicht merkte. Wie der Wind war er durch die Hintertür in die Gasse nach draußen verschwunden, die allgemein als Klo diente. Mary versteckte den Zettel in ihrer Hosentasche, und als Reid ein paar Minuten später wieder aufkreuzte, ließ sie sich noch ein Glas Bier spendieren.
Als ob die Erwähnung seines Namens ihn heraufbeschworen hätte, flog die Kneipentür auf und Keenan höchstpersönlich trat herein. Reid, der schon halb beim Tresen war, wurde bleich und hielt sich an einem Tisch fest. Er blieb stehen und wartete.
Keenan sah wie immer übel gelaunt aus. Er war am Morgen bei der Arbeit gewesen und hatte sich merkwürdig still verhalten. Harkness hatte ihn bewusst übersehen und ihn wegen seines unerlaubten Fehlens am Tag zuvor auch nicht zur Rede gestellt. Jetzt saugte sich sein Blick an Reid fest, und obwohl es in dem Pub dämmrig war, verengte er die Augen zu Schlitzen. Die Stille zwischen den beiden war spannungsgeladen. Schließlich sagte Keenan mit leiser Stimme: »Komm mit raus.«
Reid schluckte und starrte ihn an. Er hatte schnell getrunken und doppelt so viel Bier hinuntergestürzt wie Mary. Das schien ihn etwas benebelt zu haben. Oder vielleicht lag es auch an Keenans Blick.
Keenan zuckte ungeduldig. »Nun komm schon, Mann – ich bring dich schon nicht um.« Das war keine gute Wortwahl und Reid wurde noch bleicher. Er krallte die Finger um seinen Bierkrug. Und als ob er dadurch an das Bier erinnert wurde, hob er den Krug und trank ihn in einem Zug aus. Er hatte die Augen weit aufgerissen und die Röte seiner Wangen schien wie eine Maske auf der bleichen Haut zu sitzen. Dann stellte er den Krug auf den nächstbesten Tisch und folgte Keenan aus dem Pub wie einer, der seinem Henker folgt.
Mary ließ ihnen eine halbe Minute Vorsprung, dann stand sie auf und wollte hinterher. Doch plötzlich kippte die Welt seitlich weg, die Gesichter der Männer um sie verschwammen und verzerrten sich grotesk. Ihre Knie gaben nach. Sie suchte Halt an der Tischkante. Etwas Hartes knallte schmerzhaft auf ihre Hand. Was zum Teufel …?
Grob wurde sie an der Schulter gepackt und sie wehrte sich dagegen. Er durfte sie nicht anfassen. Er durfte nichts merken. Etwas knallte hart gegen ihren Hintern und sie wehrte sich wieder. Wo war oben und unten? Was war nur mit ihren Augen los? Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie rang nach Atem. Es war, als ob sie auf festem Boden ertrinken würde. Sie stand doch noch auf festem Boden, oder? Jetzt begann das Bier in ihrem Magen zu rebellieren. Bitte nicht. Nicht das auch noch.
Der Druck auf ihren Hintern ließ nicht nach, flach und hart, nicht von einer Person. Also kein Mann. Allmählich nahm sie ein allgemeines Gewieher wahr. Nach und nach löste sich die Welt in einzelne Farben auf, Braun, Gelb und Hauttöne kristallisierten sich heraus. Natürlich, sie war in der Kneipe, saß noch auf derselben Bank, umgeben von denselben Arbeitern.
Das pochende Rauschen in ihre Ohren ließ nach.
Ebenso die Übelkeit.
Sie merkte, wie sie langsam und tief ein- und ausatmete.
»Du siehst ja aus, als ob du gleich umkippst«, gluckste einer der Schreiner.
Der Mann neben ihr ließ ihre Schulter los und grinste. »Bist wohl kein großer Trinker, was, mein Kleiner?«
Mein Kleiner. Das hörte sie mit Erleichterung.
»Das kommt vom Sitzen«, fügte ein anderer hinzu.
»Klar«, bestätigte wieder ein anderer. Dann gab es lauter Ratschläge, leider ein paar Bierchen zu spät. Anscheinend hatte sie zwei Anfängerfehler gemacht: Sie hatte nichts gegessen, ehe sie ins Pub gekommen war, und hatte sich nicht klargemacht, dass durch plötzliches Aufstehen das Gefühl fröhlicher Gelassenheit in heftige Trunkenheit umschlagen konnte.
Das waren gute Ratschläge. Und als sie erneut aufzustehen versuchte, diesmal ganz langsam, wankte der Raum kaum, wenn sich der Boden auch ziemlich uneben anfühlte. Komisch. Das war ihr beim Hereinkommen gar nicht aufgefallen. Sie machte erst einen, dann noch einen und dann einen dritten zaghaften Schritt, dann verabschiedete sie sich freundlich von ihren neuen Kumpanen. Als Nächstes kam die Wirtshaustür, die sich leichter aufstoßen ließ als erwartet; sie taumelte auf die Straße, aber das lag eindeutig an der Tür, die laut hinter ihr zuschlug. Wenigstens war sie jetzt im Freien.
Wie viel Uhr war es? Spätnachmittag oder früher Abend? Es herrschte einiges an Verkehr: Kutschen, Männer in Anzügen, die noch geschäftlich unterwegs waren, und müde Arbeiter, die eilig nach Hause wollten. Ein paar wenige Prostituierte von der ärmeren Sorte lungerten herum und hielten halbherzig nach Freiern Ausschau. Eine warf ihr eine Kusshand zu und zuckte verhalten einladend mit der Schulter, dann lachte sie abfällig über Marys erschrockene Reaktion.
Dieses Winken: Es erinnerte sie vage an etwas. Es gab etwas, das sie tun musste … aber sie konnte beim besten Willen nicht darauf kommen, was es sein mochte. Na gut. Sie hatte einen langen Weg vor sich. Vielleicht würde es ihr ja unterwegs einfallen.